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3.

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Und dann kam der Tag, an dem er beschloss, so schnell wie möglich sein Elternhaus zu verlassen, am besten schon gleich, jetzt, auf der Stelle Tante Thé­rèse zu bitten, ihn aufzunehmen. Es war Samstagnachmittag, Clément hatte seine lässlichen Sünden entlang dem kleinen Beichtspiegel für Kinder in der Dunkelheit des Beichtstuhls bekannt, die schmerzhaften Geheimnisse des Rosenkranzes abgearbeitet und die nörgeligen Litaneien der Frauen des Vereins Kinder der Unbefleckten Maria hinter sich gelassen, da traf er am Kriegerdenkmal auf Edmond und Jeannot. Erst standen sie nur da rum, schwiegen sich an, kickten ein paar Steine hin und her, machten ein paar freche Bemerkungen über die Dörfler, die in die Kirche hineingingen oder herauskamen. Dann zogen sie los, an der Kirche und dem Friedhof vorbei, die Rue de la Croix bis zum Haus des Docteur hinunter, ab in die Wiesen, rüber zum Wäldchen. Sie bewarfen sich eine Weile mit Kiefernzapfen, fochten mit heruntergefallenen Ästen und urinierten jeder an einen Baum. Auf dem Rückweg trafen sie auf Éric, der sie auf seinem Velosolex ein paar Runden drehen ließ. Und dann sagte Jeannot zu Edmond: »Wollen wir pie­pen gehen?«

Clément bekam sehr wohl mit, dass beide ihn mit einem Seitenblick bedachten, den er nicht zu deuten vermochte, und Edmond entgegnete mit einem Blick auf seine Armbanduhr: »Ist es nicht zu früh?«

»Es ist nie zu früh und selten zu spät«, antwortete Jeannot, und beide brachen in lautes Gelächter aus. Also trotteten sie zurück zum Dorf, Clément immer hinterher.

Bevor sie die Route de Hameau erreichten, setzten sie mit einem Sprung über einen heruntergetretenen Maschendraht und standen im vernachlässigten Gemüsegarten der Witwe Bonnet. Von dort gelangte man durch eine niedrige Holztür, die nur angelehnt war, in die ehemalige Werkstatt des seligen Monsieur, wo es noch nach Metall und Öl roch. Hier kletterten Jeannot und Edmond über eine wacklige Leiter auf den Boden, Clément, der alle Risiken und Möglichkeiten schnell überschlug, unsicher hinterher. In der Giebelfront gab es ein Fenster, das Glas war herausgeschlagen, von hier aus konnte man die Rückfront der Robin’schen Hauses sehen. »Das ist unser Haus«, sagte Clément zaghaft, und die beiden Kameraden schauten ihn verschmitzt an. »Was du nicht sagst!« frotzelte ihn Jeannot. Sie schauten hinüber, aber es gab nichts von Belang zu sehen.

»Ich hab’ doch gesagt, es ist zu früh«, meckerte Edmond.

»Wart’s ab!« war alles, was Jeannot zurückgab.

Beide schauten angespannt nach drüben, als ob sie auf eine Erscheinung warteten. Und genau darum ging es, denn in diesem Moment ging das Licht gegenüber an, und Clément wusste sofort, welcher Raum das war. Das Glas des Badezimmerfensters war geriffelt, wenn man von drinnen nach draußen schaute, sah man die Bäume und die Scheune, in der die Buben jetzt saßen, nur schemenhaft – wenn man nicht wusste, was es da draußen zu sehen gab, konnte man es nicht erkennen. Genauso war es, wenn man von draußen hineinschauen wollte, so glaubten jedenfalls die Robins. Jetzt aber, so musste Clément voller Entsetzen feststellen, da der Raum hell erleuchtet war, hinderte das Riffelglas kaum daran zu sehen, was verborgen bleiben sollte. Clément war wie versteinert, als die beiden anderen weiter voller Spannung gebannt in Richtung des Lichtscheins schauten. Dort erschien Cléments Mutter. Als sie das Badezimmer betrat, konnte man noch nicht viel erkennen, doch ihr Sohn wusste sehr wohl, dass sie den Bademantel trug, das erkannte er am Gelb des Frottees. Sie drehte sich um, ließ den Bademantel von den Schultern gleiten und hängte ihn an die Tür. Edmond gluckste. Jetzt drehte sie sich um und trat näher ans Fenster, und je näher sie kam, umso mehr entzog ihr das Glas seinen Schutz, es war als ob man das verschwommene Bild eines Fernglases allmählich scharf stellte.

Clément schlug das Herz im Hals: Man sah alles. Alles. Und mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass die Schulkameraden seine Mutter schon öfter so gesehen hatten, er jedoch, ihr eigener Sohn, noch nie zuvor. Er war wie gelähmt, schämte sich für seine Mutter, fühlte gleichzeitig jedoch eine seltsame Erregung und wurde darüber unermesslich wütend. Er schlug mit beiden Fäusten auf die Jungs ein, die da vor ihm knieten, aber die lachten nur, und Edmond verpasste ihm schließlich einen Fausthieb, der ihn in den Staub streckte. »Scharfe Braut, deine Mutter!« rief Jeannot, und beide starrten auf das Fenster, durch das sie jetzt Marthe Robin von hinten sahen, wie sie sich vor dem Spiegel nach links und rechts wendete, bevor sie aus dem Bild verschwand, in die Badewanne, wie Clément wohl wusste. Jeannot und Edmond stiegen die Leiter hinunter und glücklicherweise fiel den beiden nicht ein, diese umzulegen und damit Cléments Rückzug zu vereiteln. Der traute sich nicht nach Hause: Wie sollte er jetzt seiner Mutter beim Abendbrot gegenübersitzen, sie um die Milch bitten, aus ihrer Hand die Teller zum Abtrocknen entgegennehmen? Der Gutenachtkuss! durchfuhr es ihn, der war jetzt ein für alle Mal unmöglich geworden.

Er täuschte Übelkeit vor, wies Tee und Wärmflasche ab, legte sich ins Bett und zog die Decke über den Kopf. »Fa’ahe’e ti’a ai vau«, murmelte er, bevor er einschlief, »ich muss verschwinden«.

Tante Thérèse war eine Dame mittleren Alters, mittlerer Größe und mittelschlanker Figur. Sie trug stets ein mittelgraues Kostüm, wie es zehn Jahre zurück in Mode gewesen war, freilich nicht so stark tailliert wie die Tailleur Bar-Stücke von Dior, gewiss nicht, keinesfalls so hüftbetont wie der New Look mit dem reizenden kleinen Aufschrei der Jacken­schöße, dahin reichten weder Geschmack noch Mut. Dazu ein Rock, auch er nicht zu eng geschnitten und locker bis zur Wade, auf jeden Fall die Knie bedeckend, alles in allem, bei Licht betrachtet, das falsche Zitat einer unverstandenen Mode, deren Zeit sich dem Ende zuneigte. Die verwendeten Stoffe waren exquisit, keine Frage, und die stets weiße Bluse an besonderen Tagen gar aus Seide (sie besaß eine mit einer großen Schleife am Kragen), was ihr ein verstörend extravagantes Flair verlieh, das in starkem Gegensatz zu ihrem strengen, pragmatischen Auftreten stand. Tante Thérèse trug ihr schwarzes Haar kinnlang, ziemlich hoch auf der Stirn waren die Fransen schnurgerade abgeschnitten, eine Frisur, die einen belesenen Zeitgenossen unweigerlich an Flauberts Ver­­gleich erinnern musste: wie ein Dorfkantor. Clé­ment hatte selbstverständlich Madame Bovary noch nicht auf seinem Lesezettel, und da er Tante Thérèse erst zweimal (bei der Beerdigung eines Großonkels und bei seiner eigenen Erst­kommunion) gesehen hat­te, war sie ihm nahezu fremd und er betrachtete sie un­voreingenommen, jedoch mit Zurückhaltung.

Die Tante wohnte in einem viergeschossigen Gebäude auf der Nordseite der Place de la République, errichtet aus dem hellen Stein der Region, wie die mei­sten Gebäude der Stadt. Es schaute mit nobler Attitüde hinaus auf den weiten Platz, ganz Ausdruck des arrivierten Bürgertums der 1880er Jahre, das die Enge der ummauerten Altstadt hinter sich gelassen hatte. Thérèse Martinez bewohnte die zweite Etage mit ihren Porte-fenêtres und den kunstvollen schmiedeeisernen Gittern davor. Aus ihrem Wohnzimmer hat­te man einen wundervollen Blick durch die Ahorn­bäume, die den Platz umstanden, auf den Pylon des Denkmals für Sadi Carnot, Abgeordneter des Departements und Präsident der Republik, wie Clément bald lernte. Hatte man die Wohnung betreten und wandte sich von den repräsentativen Räumen ab, die auf der Frontseite lagen, sah man einen schmalen Flur ins Innere des Hauses führen. Dort lagen Küche, Bade- und die Schlafzimmer.

Ganz am Ende öffnete sich die Tür zu Cléments neuem Domizil, das nur drei Schritte tief, aber bald sechs Meter lang war und sich an die Rückwand des Hauses schmiegte. Durch ein kleines Fenster gleich gegenüber der Tür fiel ein wenig Licht ins ewige Halbdunkel des Raums, das von einer dreiarmigen Deckenlampe aus cremeweiß mattierten, mit Streublümchen verzierten Glasschalen mehr schlecht als recht erhellt wurde. Cléments Mutter hatte seine Wäsche, Strümpfe, Hemden, Hosen und was er sonst nötig hatte in dem Schrank verstaut, für seine Bücher war wenig Platz auf einer Kommode neben seinem Bett, der Globus fand seinen Ort auf dem Schreibtisch, den er wegen der schlechten Lichtverhältnisse zum Lernen und für Schulaufgaben sowieso nicht nutzen konnte; er zog es vor, im Wohnzimmer zu arbeiten, wo er sich gern durch das Treiben auf dem Platz ablenken ließ. Täglich war hier Markt, eine Selbstverständlichkeit für die Stadtbewohner, ein Er­lebnis mit Wiederholungsgarantie für den Heranwachsenden. Da seine Tante, die immer mit irgend­etwas beschäftigt war, ihn häufig zum Einkaufen schickte, lernte er hier den Umgang mit fremden Menschen, Fragen und Antworten, seinem Urteil zu vertrauen, den Versprechen der Erwachsenen gegenüber skeptisch zu sein. Und er lernte Gemüse und Obst, Fisch und Fleisch, Kräuter und Gewürze, Küchen- und Haushaltsutensilien kennen. Kurzum: Er hatte die Welt betreten.

Nicht mitgebracht hatte er Panpan, den Hasen, seine Spieldose mit dem kindischen Dodo, l’enfant, do, seine Bilderbücher, seine Schatzkiste mit Kreisel, Plastiktierchen, Kieselsteinen und was Kinder sonst noch sammeln. Seine Mutter stellte das Bild von der Marienerscheinung der Hl. Bernadette auf die Kommode, doch er legte es sofort nach ihrer Abreise zurück in den Koffer, den er unter das Bett schob. Mitgebracht hatte er jedoch seine Gitarre, auch wenn Mutter tagelang dagegen opponiert hatte. »Du wirst genug zu tun haben im Collège, da solltest du dich nicht mit so etwas belasten.« Schon dass sie ›mit so etwas‹ sagte, machte ihn wütend, und ›belasten‹ machte ihn fassungslos. »Dein Vater möchte gewiss nicht hören, dass du rumklimperst, statt zu lernen.« In diesem Augenblick war er sich sicher, dass er die Gitarre mitnehmen würde. »Such dir doch lieber neue Freunde, mit denen du was unternehmen kannst.« So fand die Gitarre ihren Platz in der Ecke seines Zimmers, und die Tatsache, dass dieser Platz so weit entfernt vom Zentrum des Lebens in Thérèses Wohnung war, ermutigte ihn, sie nicht zu vernachlässigen.

Mit den Freunden war das so eine Sache. Clément stellte fest, dass es in der neuen, größeren Klassengemeinschaft dieselben Typen gab, wie sie ihm in St. Didier begegnet waren, nur dass sie andere Namen trugen. Es gab den Anführer, den Clown, den Streber, den Frechen und es gab Clément, der sich am lieb­sten aus allem raushielt, von allen fernhielt. Der Weg zur Schule war nicht weit, aber er musste drei Stationen mit dem Bus fahren, wenn er es so bequem wie möglich haben wollte. Oder schon an der zweiten Haltestelle aussteigen, wenn er den Brüdern Garnier entgehen wollte, die jeden, der nicht größer, stärker und schneller war, drangsalierten, wie immer sie wollten. Wenn er morgens getrödelt hatte oder es regnete, dann nahm er das Risiko in Kauf, hielt Wetten gegen sich selbst, ob sie es heute auf irgendeinen anderen Mitschüler oder auf ihn selbst abgesehen hatten und – wenn Letzteres eintreten sollte – ob es bei schmerzenden Knuffen bliebe oder ob sie ihm den Ranzen abnähmen, um sein Federmäppchen zu entführen, oder ihn gar am Aussteigen hinderten, so dass er dann erst den Bus an der vierten Station verlassen konnte, die sich hinter dem Bahnhof befand, er mehr als einen halben Kilometer zurücklaufen musste, rennen gar, wenn es knapp wurde und er eine förmliche Ermahnung vermeiden wollte.

Einmal, ganz zu Anfang, verlief er sich, rannte in die falsche Richtung, gelangte über die Rue Hoche zum Ufer der Ouche, viel zu weit war er gelaufen und trotz der Zweifel, die er nicht wahrnehmen wollte, nicht umgekehrt, hatte niemanden zu fragen gewagt, doch jetzt war es zu spät, viel zu spät. Er drückte sich im Botanischen Garten herum, ein französischer Park, typisch durch seine Ordnung und seine Strenge, seine Blumenrabatten und geraden Wege, ein Park, der nur im Arboretum der Ungebühr der Natur nachgab, wo es krumme Bäume und gewundene Pfade gab. Dort trieb er sich herum, bis er getrost nach Hause gehen durfte, und konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil er befürchtete, an den Ohren aus dem Bett und zu seiner Bestrafung geschleift zu werden. Aber zu seinem grenzenlosen Erstaunen wollte niemand jemals von ihm wissen, wo er an diesem Tag abgeblieben war, noch nicht einmal sein Banknachbar, wo doch in St. Didier-les-Saules vom Gemeindediener bis zum Pfarrer und vor allem: bis zu seinen Eltern jeder innerhalb kürzester Zeit besorgt oder erzürnt gewesen wäre, je nach Temperament, Charakter und eigener Intention.

Er musste vier Jahre Collège überstehen, vier Jahre Tante Thérèse, vier Jahre Großstadt, und dann, dann würde man sehen.

Wenn er nachmittags im Salon saß, um seine Haus­aufgaben zu erledigen oder zu lernen, dann ließ er die Tür zur Diele einen Spalt offen, um mitzubekommen, was draußen vor sich ging. Er kannte ja das Messingschild neben der Haustür, auf dem sich Thé­rèse Martinez als Naturopathe bezeichnete (Sitzungen nach Vereinbarung), in einem der vorderen Räu­me hielt sie ihre Sprechstunden als Heilpraktikerin. Mit all dem wusste Clément allerdings überhaupt nichts anzufangen. Es musste etwas mit Krankheiten zu tun haben, soviel war klar, aber da er zu allem, was den menschlichen Körper betraf, Abstand hielt, wagte er nicht zu fragen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass er auf solche Fragen keine oder keine zufriedenstellenden Antworten erhielt, und er leitete daraus ab, dass körperliche Vorgänge sich nicht zum Gegenstand allgemeiner familiärer Betrachtung eigneten.

Es kamen nur wenige Patienten, die seine Tante – jetzt in einen weißen Kittel gekleidet – in ihr Sprechzimmer führte, fast ausschließlich Frauen, durchweg ältere, woraus Clément wiederum unüberprüfbare Schlüsse betreffend die Natur der Erkrankungen und deren Behandlung zog, die diese Menschen hier erfuhren. Manchmal wagte er sich hinaus in die Diele, wo er sich nahe genug an der Wohnzimmertür aufhielt, um einen schnellen Rückzug einleiten zu können, und versuchte zu lauschen. Dann hört er gedämpfte Gespräche, unterbrochen vom harten Schritt seiner Tante, die wohl hier und da etwas aus einem Schrank oder Regal holte, manchmal vernahm er auch inmitten dieser Gespräch unterdrücktes Schluchzen, und wenn er dann wieder am Tisch saß, über seine Schularbeiten gebeugt, dann hörte er, wie die Patienten zum Abschied sich vielmals und tief empfunden bedankten, und er wusste, dass Tante Thérèse etwas Wichtiges und Gutes tat.

Eines Samstagmorgens, der Tag, an dem er sich im Nacht­hemd an den Frühstückstisch begeben durfte, an dem ihm (statt der Schale mit dem dünnen Milchkaffee und dem Weißbrot mit Reneclauden-Marmelade oder schwarzem Johannisbeergelee) ein richtiges Tässchen Kaffee erlaubt war, eine Scheibe Kochschinken zu dem Landbrot mit der großporigen Krume, ein Croissant mit Kastanienblütenhonig, ein Duft und Geschmack, der ihn zeitlebens begleiten sollte, an einem solchen Samstagmorgen, nicht von dieser Welt, saß Jeanne mit am Tisch. Er hatte die Frau mit dem langen blonden Haar noch nie zuvor gesehen, und nun saß sie da, beherrschte geradezu die Frühstückstafel, fast einen Kopf größer als Tante Thérèse, mächtig saß sie da, mit einer Oberweite, die Clément nicht nur erahnen konnte, denn sie trug ein Nachthemd, das ihr auf den Leib geschneidert worden sein musste, und wiegte sich beim Sprechen hin und her, nach vorn, nach hinten, wobei sie alles, was sie sagte, mit ausholenden Bewegungen ihrer kräftigen Hände unterstrich, bevor sie wieder nach dem Brot auf ihrem Teller griff und herzhaft hineinbiss. Thérèse warf nur dann und wann etwas ein, vermied den Blickkontakt sowohl mit ihr als auch mit ihrem Neffen und widmete sich Teller und Tasse.

Clément gelang es nicht, irgendetwas von diesem Tischgespräch in einen sinnvollen Zusammenhang mit dem zu bringen, was er wusste oder sich zusammenreimte, gab sich jedoch bei aller Verunsicherung den Anschein des Abgeklärten, dem nichts, was aus der Erwachsenenwelt ihm auf die Füße fiel, verunsicherte. Dann wurde er ins Bad geschickt, wusch sich, zog sich an und hörte aus der Diele Tante Thérèse rufen: »Wir sind bald wieder da«, bevor er allein war in der großen Wohnung. Samstags gingen Thérèse und diese Jeanne gemeinsam auf den Markt, blieben lange fort, meist fiel das Mittagessen aus, dafür brachten sie Éclairs und Paris-Brest, Macarons, gefüllte Brioche oder andere Köstlichkeiten mit, die sie zum Kaffee (die Damen) und zur Schokolade (der junge Herr) genossen.

Während dieser – oft stundenlangen – Abwesenheiten, während derer Clément völlig allein war, hätte er tun und lassen können, was er wollte, nur darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen (Unordnung in den Schubladen, Parfümfläschchen oder Porzellanfigürchen, von denen er nicht mehr wüsste, an welcher Stelle sie zu stehen hatten, Scherben gar oder Brandschäden in der Küche – etwas, was allen Kindern irgendwann widerfährt). Clément jedoch saß währenddessen in seinem Zimmer und vertiefte sich in seinen Globus, übte Barrégriffe auf der Gitarre oder machte es sich mit einem Buch auf dem Kanapee im Salon bequem. Niemals, auf keinen Fall hätte er es gewagt, etwa in das Ordonanzzimmer der Tante einzudringen, um endlich herauszufinden, was eine Heilpraktikerin machte, oder gar die Tür zum Schlafzimmer der Tante zu öffnen – nichts lag ihm ferner als dies.

Da er nun aber gerade darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er sich bisher noch nicht gefragt hatte, wie es kam, dass Jeanne an einem Samstagmorgen im Nachthemd am Frühstückstisch saß, und dabei wunderte er sich über sich selbst, seine Naivität, seine Unschuld. Wenn sie am Morgen zum Frühstück zur Tante gekommen ist, warum sollte sie sich dann ausgekleidet und ein Nachthemd angezogen haben, ihr eigenes Nachthemd offensichtlich. (Und er ließ dabei die unmögliche Möglichkeit außer Acht, dass sie bereits im Nachthemd erschienen war.) Wenn dies aber nicht der Fall war, dann musste sie in der Wohnung übernachtet haben – doch wo? Nicht auf dem Kanapee, soviel war klar, auch nicht im Heilpraktiker-Sprechzimmer, wohl auch nicht in der Küche oder in der Badewanne. Es gab nur eine Möglichkeit: Jeanne war angekommen, als er schon geschlafen hatte, und sie hatte im Schlafzimmer seiner Tante übernachtet. In ihrem Bett? Er öffnete sein Buch und las dort weiter, wo er aufgehört hatte.

Mit der Zeit ergab es sich, dass Jeanne nicht mehr nur samstags am Frühstückstisch saß, und ihr Verhalten verlor das Bedachte, Diskrete, sie steigerte die An­zahl der Besuche und verstärkte die Offensichtlichkeit des vertrauten Umgangs, wie man die Dosis eines Mit­­tels steigert, dessen Wirkung einem noch nicht gewiss ist, vorsichtig tastend. Jedenfalls ging sie bald ein und aus, wann immer sie selbst und Tante Thé­rèse es für angebracht hielten, ein und aus ging sie auch durch die Schlafzimmertür. Beide Frauen beobachteten wohl Clément genauestens, doch er schien nichts bemerken, sich nicht wundern zu wollen. Keine Fragen, nie. »Guten Morgen, Jeanne« begrüßte er sie und trank schnell seine Schale Milchkaffee aus, wenn er wieder einmal spät dran war, »Salut, Jeanne« begrüßte er sie am Abend, jetzt schon im vertrauten, nachlässigen Ton, wenn sie die Wohnungstür mit ihrem eigenen Schlüssel aufschloss (auch das hatte er als graduelle Veränderung des Maßes an Familiarität registriert) und ins Schlafzimmer ging, um sich umzukleiden. Der Hausanzug mit den Blumen im japanischen Stil auf dem Rücken war für ihn fortan der Inbegriff der Intimität, der sie alle drei umfasste.

Er träumte wieder. Es war, als ob Tamatoa und Vahinetua, seine Traumgefährten, mit seinem Umzug von St. Didier-les-Saules nach Dijon die Verbindung zu ihm vorübergehend verloren hätten. »Tāu hōho’a te mou«, erklärte ihm Vahinetua aufgewühlt, und Clément antwortete überflüssigerweise: »Pou i’ō nei«, denn sie hatten ihn ja gefunden. »I’ō nei ora vau«, fügte er vorsichtshalber hinzu, damit sie wussten, dass sie ihn nicht so bald wieder suchen mussten. Seine Traumgefährten lächelten. Vahinetua trat auf ihn zu und umarmte ihn, so dass er ihren Körper an seinem spürte, sie strich ihm über den Kopf, küsste seine Wange und ließ eine Hand über seinen Rücken gleiten. Er war sofort wach und fühlte sich dabei ungewöhnlicherweise so, als hätte er sich gerade aus einem Alptraum befreit. Clément spürte den feuchten Abdruck ihrer Lippen auf seiner Wange und ihre Körperwärme auf seiner Haut, doch ihr Bild war schon fern, verblasste im Dunkel seines Zimmers. Er fühlte sich seltsam erregt, bedrängt, bedroht und beglückt zugleich, ein Wirrwarr aus Eindrücken, die er so noch nie erlebt hatte. Die Begegnung, obgleich nur sekundenlang, stand ihm in allen Details lebhaft vor Augen, sie kam ihm natürlich und selbstverständlich vor, gleichzeitig argwöhnte er, dass das, was zwischen ihm und Vahinetua geschehen war, auf unbestimmte Art nicht in Ordnung sei. Und doch bemühte er sich, das Traumbild zurückzuholen, es gelang ihm und noch einmal war er Vahinetua so nah wie nie. Sie umgab ihn, war an seinem Rücken, an seiner Wange, dann an seiner Brust, zwischen seinen Beinen. Dann fühlte er sich mit einem Mal auf einer Woge blauesten Wassers emporgehoben, sein Herz klopfte so heftig, dass man es nebenan im Schlafzimmer der Tante hören musste, eine Welle angenehmer Wärme rollte durch seine Blutbahnen, und er ergab sich dem, was ihm jetzt widerfuhr, zum ersten Mal in seinem Leben.

Am nächsten Morgen, nach einem gründlichen Aufenthalt im Badezimmer, wusste er, dass dies nicht die Art der Begegnung sein durfte, die er mit der Traumgefährtin pflegen wollte. Tuahine sollte sie sein, eine schwesterliche Freundin, nicht seine hina’aro. Ihr selbst – Traumgestalt hin oder her – wäre ein solcher Gedanke niemals in den Sinn gekommen, doch ein heranwachsender Junge in Cléments Alter hatte eben erwachsenere Vorstellungen als sie angemessen waren. Er dachte den ganzen Vormittag über an das nächtliche Ereignis, bis Philippe Garnier ihm die Mütze vom Kopf schlug und er und seine Raufkumpanen sie sich gegenseitig hoch über Clément hinweg zuwarfen. Dieser blieb einfach stehen, wie er das seit den Tagen in der Grundschule gelernt hatte, und wartete auf seine Gelegenheit. Die Quälgeister wurden schließlich übermütig und unaufmerksam, und Clément bekam seine Chance, steckte die Mütze in die Tasche und verdrückte sich, nicht ohne noch ein paar Knuffs eingesteckt zu haben.

Aus dem Blau dieses unfassbare Glück

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