Читать книгу Aus dem Blau dieses unfassbare Glück - Stefan G. Wolf - Страница 6
2.
ОглавлениеZu der Zeit, als Clément an jedem Samstagnachmittag in die kleine Dorfkirche ging, die dem Heiligen Ghislain geweiht war und in der Père Yrigoyen ihn und seine Altersgenossen auf die Heilige Kommunion vorbereitete, die sie im nächsten Frühjahr erstmals empfangen sollten, da fingen die Traumfiguren an zu sprechen. Jetzt, da Clément Robin tot ist, können wir im Rückblick sagen, dass in der Nacht, als der Junge dort oben in seiner Kammer zwischen Elternschlafzimmer und Wäschestube, in St. Didier-les-Saules, unter dem nördlichen Herbststernbild des Pegasus zum ersten Mal den fremden Klang vernahm, sein zweites, sein wahres Leben begann. So sagt es auch sein Sohn, Fano, sein zweites Kind, und Titaua, seine älteste Tochter, nickt dazu. Dann schaut sie auf und blickt uns an und lächelt, mit einem Lächeln, von dem Clément später immer wieder behauptete, genau so habe Vahinetua gelächelt, als sie beide sich zum ersten Mal im Traum begegnet waren. Denn als die Gestalten aus dem Blaugrün des Traumbildes ihm – und man muss ergänzen: wie gewöhnlich – entgegenkamen, da sprach ihn auf einmal der Mann an, der ihm nun schon bekannt war, und er sprach mit klarer Stimme: »T’au ingoa« – und dabei zeigte er auf sich – »Tamatoa«. Dann wies er auf die Frau zu seiner Linken. »T’au tuahine: Vahinetua.«
Clément verstand, was er ihm sagen wollte, deutete auf sich und antwortete nach kurzem Zögern: »Moi, Clément.«
»K’lemon«, wiederholte der Mann unsicher, und beide lächelten. »Maeva!«
Von dieser Nacht an war er in St. Didier-les-Saules nicht mehr zuhause, er fühlte sich so fremd, wie sich ein heranwachsender Junge fremd fühlen kann in der Welt, die ihn hervorgebracht hat, umgeben, geborgen, und in der er sich bedrängt, missverstanden, verletzt, allein gelassen fühlt. Nun endlich war er in der Traumwelt kein Eindringling mehr, war willkommen geheißen, er war dort angekommen und namentlich bekannt. K’lemon. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Doch konnte er nichts tun gegen die kosmische Allmacht, die ihn hier in diesem Dorf im tiefsten Frankreich festhielt, wo er eindeutig nicht hingehörte, wo ihn niemand verstand. »Mutter«, flüsterte er mit erstickter Stimme und seine Augen wurden feucht. Und es kam aus seinem tiefsten Inneren, das ihn sagen ließ: »Matia’a«.
Doch samstags nachmittags wurde Clément von Père Yrigoyen einstweilen in die Geheimnisse des Heiligen Brotes eingeweiht. Die dürre Gestalt des Priesters hob und senkte sich auf den Zehenspitzen im Rhythmus seiner Sätze, das scharf geschnittene Gesicht blickte ausdruckslos über die Reihen der Kindlein, die all die Erbaulichkeiten nicht fassen konnten, und seine knarrende Stimme mit dem fremden baskischen Akzent schallte durch das Kirchenschiff. Clément musste daran denken, was Großvater erzählt hatte, dass der Père vor dem Krieg in den heimischen Pyrenäen Schafe und Ziegen gehütet habe, bevor ihm die Jungfrau Maria erschienen war und verheißen hatte: »Von nun an sollst du Seelen hüten.«
Clément hatte verstohlen zu Vater hinübergeschaut, der nur den Kopf schüttelte, während er weiter seine Suppe löffelte. Mutter aber hatte dem Großvater die Hand auf den Arm gelegt und gezischelt: »Nicht vor dem Bub!« Und zu diesem gewandt, weil ja die Sache nun mal aus der Welt geschafft werden musste: »Père Yrigoyen war bei den Partisanen gegen die Deutschen, verstehst du, und da war er einmal dem Tod so nah, dass er ein Gelübde abgelegt hat, wenn er in Friedenszeiten seine Eltern wiedersehen sollte, dann würde er der Kirche dienen.«
»Partisan, da muss ich lachen!« hatte Großvater gemurmelt und gelacht.
Suppentröpfchen hatten sich dabei auf dem Tisch verteilt und Mutter hatte wieder gezischelt: »Alphonse!« Clément hatte wenig verstanden vom Tischgespräch und machte das, was Kinder in solchen Fällen zu tun pflegen: Er machte sich seinen eigenen Reim darauf.
»Leib und Blut unseres Herrn« rief der Seelenhirte nun, »Mysterium«, »Heilsgut der Kirche in seiner ganzen Fülle«. Clément dachte an Madame Schwartz, die Großvater immer die Deutsche nannte, und dass Maman dann sagte, dass sie sehr wohl Französin sei, und zwar aus der Pi-car-die – wobei sie alle drei Silben betonte und anzufügen pflegte: »die Arme«, was Clément erneut ins Grübeln brachte. »Sie hat doch nun einmal einen Mann geheiratet, dessen Vater aus dem Elsass stammte«, und zu Clément gewandt, um bei ihm bloß kein Vorurteil gegenüber seiner Lehrerin aufkommen zu lassen: »Deswegen heißt sie nun Schwartz.« Seitdem verband sich für den Jungen der Name untrennbar mit dem Elsass, und er war später sehr erstaunt, als er in seiner Lehre in Dijon einen jungen Mann kennenlernte, der zwar aus dem Elsass kam, dennoch Michelet hieß.
»Gegenwart Gottes«, »Ausdruck seiner unendlichen Liebe« rief der Pfarrer. Da wanderten Cléments Gedanken zu Nana und ihrem Unterhöschen, bis ihm sein linker Banknachbar einen Zettel zusteckte. Er öffnete ihn und erschrak. Jemand hatte mit groben und kritzeligen Bleichstiftstrichen Père Yrigoyen gezeichnet, wie er den Schafen und Ziegen predigte. Clément ließ den Zettel fallen wie eine glühende Kohle. »Du Idiot!« zischte der Junge neben ihm und sah dem Zettel nach, der unerreichbar unter dem Kniebrett in der Reihe vor ihnen niedergesunken war.
»Gibt es da hinten etwas, das ich wissen müsste?« schnarrte Père Yrigoyen, und als die Mädchen zu laut kicherten und von den Knaben keine Antwort zu erwarten war, ging er zum Agnus Dei über. »… qui tollis peccata mundi …« Der Baske dirigierte den Chor der Kinderstimmen und hieb mit kurzen Handkantenschlägen den Takt. »… miserere nobis.« O Herr, der du die Sünden der ganzen Welt auf deine Schultern nimmst, erbarme dich über dein kleines Volk, denn sie wissen ja noch gar nicht, was sie tun. Yrigoyen sprach jetzt so laut mit, dass man die Kinder kaum noch hörte. »… dona nobis pacem!«
In die folgende Stille hinein hörte man die Kirchentür knarzen. Es waren Odette und Raymonde, die beiden Schwestern des Bürgermeisters, die stets als erste zur samstäglichen Beichte erschienen. Der Pfarrer ließ sich zur Eile drängen. »Wir wollen mit dem Segen des Herrn uns auf das Christkönigsfest einstimmen und knien dazu nieder. Und ich sage es gleich: Ich will euch alle morgen zur Heiligen Messe sehen!« Da kniete das Häuflein Christenheit in der Spannung zwischen der baskischen Geißel und der Labsal eines ungezwungenen Nachhausewegs, für den einige sich schon Kurzweiliges ausgedacht hatten, die da unruhig wackelten und zappelten und sich gegenseitig in die Seite stießen und nach rechts zu den Mädchen schielten, während der Père mit weit ausholenden Gesten das Kreuz über ihnen schlug.
Am dritten Adventssonntag lief Großvater Alphonse die Suppe aus dem Mundwinkel, er griff mit der Rechten, in der er noch den Löffel hielt, nach Mutters Arm und starrte seinen Sohn ausdruckslos an. Seitdem lag er in seiner Kammer am Ende des Flurs, zwei große Kissen im Rücken, und hörte auf die Geräusche aus der Werkstatt nebenan. Zu Weihnachten hoben sie ihn in einen Sessel, und er sah zu, wie Clément seine Geschenke auspackte: ein Buch über die Tierwelt der Pyrenäen, ein grüner Pullunder mit orangefarbenen Bündchen und eine kleine Gitarre. Die Eltern hatten zunächst nichts mit diesem Weihnachtswunsch ihres Sohnes anfangen können und hatten bis Dijon fahren müssen, um ihn erfüllen zu können. Es war eine jener seltenen gemeinsamen Fahrten der Eheleute Robin in dem alten Simca, die sie Expeditionen nannten – Einkäufe und Besorgungen erledigen, Abendessen, eine Nacht im Hotel, sie kamen von diesen Ausflügen stets auf unbeschreibliche Weise belebt und in aufgeräumter Stimmung zurück. Diesmal vertraute Marthe ihrem Mann wenig später an, dass sie guter Hoffnung sei, was sich dann aber Mitte Februar erledigt hatte, Hoffnung hin oder her. Sie war jedenfalls froh, Clément noch nicht eingeweiht zu haben.
Eine Gitarre also. Niemand weiß, wie er darauf kam, Musik zu machen und dann mit diesem Instrument, das immerhin versprach, die Ruhe der Familie nicht so arg zu stören wie etwa eine Trompete oder eine Trommel. Für Clément war es ein Grund mehr, sich in seine Kammer zurückzuziehen, dort klimperte er auf den Saiten herum und versuchte herauszufinden, wie man aus den Tönen Musik machte. Er nahm seine Gitarre mit nach La Comme, wo er sich ein paar Tage von den Großeltern verwöhnen ließ und Marthes Vater, der zwischen den Kriegen viel in der Welt herumgekommen war, sich an das Gitarrespiel seiner eigenen Jugend erinnerte. Gemeinsam fingerten sie sich durch die Tonarten, und als Clément wieder nach Hause kam, konnte er schon a-Moll und e-Moll, was einfach war und ihm die Möglichkeit gab, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Das etwas vertrackte C-Dur, bei dem die Saiten, die eigentlich frei schwingen sollten, immer ein wenig schepperten, vermied er zunächst, übte D-Dur, d-Moll und A-Dur, und auch wenn der Wechsel zwischen den Akkorden jedes Lied aus dem Takt brachte, war er zufrieden mit sich und seiner Kunst, brachte stets das Lied, das er im Kopf hatte, mit dem, was aus dem runden Schallloch herauskam, überein. Und übrigens: Wer von seinen Kameraden wusste überhaupt, wie man eine Gitarre spielte?
Dankbarster Zuhörer war Großvater Alphonse, der die Ablenkung zwischen der eiligen Körperwäsche am Morgen, den Arbeitsgeräuschen aus der Werkstatt, dem Eintopf am Mittag und dem Windelwechsel zur Nacht wirklich zu schätzen wusste. Nach draußen nahm Clément sein Instrument nicht mit, denn er wusste, dass er es im Notfall nicht würde verteidigen können. Und wohin er es nicht mitnehmen konnte, da begleiteten ihn dessen Klänge, wann immer er die Augen schloss. Madame Schwartz’ Merksprüche von den Nebenflüssen der Seine – pling plang, die ausschweifenden Erzählungen des Seigneur von den Skiferien im Val d’Isère – pling plang, das Rauschen des vom Regen der Spätwintertage angeschwollenen Serein – pling plang. Und während Père Yrigoyens Singsang, vom In nomine Patris bis zum Ite missa est immer wieder – pling plang.
Auch in die Träume nahm er sie mit. »Tarere mai ra te ata, na ni’a te rai teitei« sangen seine Freunde und wiegten sich im Rhythmus, und Clément spielte dazu ein Instrument, das wie seine Gitarre aussah, nur kleiner, dabei blieb er immer im Takt, mit wechselndem Bass und Fingerpicking-Solo, so wie er es neulich im Radio gehört hatte.
Nach dem Lied kam Vahinetua auf ihn zu. »Maitai roa«, sagte sie lächelnd, und das Lob klang aus ihrem Mund wie eine weitere Strophe ihres wunderschönen Gesangs.
»Mauruuru«, antwortete Clément mit brüchiger Stimme. »Te haapii noa nei a vau.« Und es verwunderte ihn kein bisschen, dass er das jetzt gesagt hatte. Nicht weil es ein Traum war, und im Traum wundert man sich über gar nichts. Sondern weil er dabei ein Gefühl verspürte, als sei nun ein Traum in Erfüllung gegangen. So als ob man im Sommer auf dem Rücken auf der Wiese gelegen und sich hinaufgeträumt hatte zu den Vögeln, die dort oben ihre Kreise zogen, sich von warmen Winden tragen ließen und alles Irdische ungerührt und von oben herab betrachteten. Und man hatte sich selbst doch so sehr gewünscht, fliegen zu können, aus eigener Kraft, mit ein wenig Mühe zunächst, nicht gänzlich ohne Anstrengung, aber dann, hatte man erst einmal abgehoben, war es unversehens leicht gegangen und ohne dass man über das Wie und Warum nachdachte. Genau auf diese Art kamen jetzt die Worte aus seinem Mund, das ›Danke‹, das ›Ich lerne noch‹, und er spürte die Worte Vahinetuas nahezu körperlich auf seinem Trommelfell und seine eigenen auf der Zunge und an den Lippen, völlig untraumhaft, sondern wirklich und wahrhaftig. Und als er erwachte, war da ein Nachklang im Zimmer, gerade so wie damals, als anfangs die Träume nur aus Farben bestanden hatten, er ihren Nachschein gesehen hatte im Morgendämmer, so standen jetzt die Klänge im Raum, und während die Töne verhallten, begleiteten ihn die Harmonien noch lange durch diesen Tag.
Für lange Zeit hatte die Sprache seiner Träume mit der Wirklichkeit nicht mehr zu tun als die Kerze, die seine Mutter allein durch eine dunkle Kirche tragen musste, die so groß war, dass man die Mauern nicht sah, und während das heiße Wachs über ihre Hände lief und sie peinigte, sangen schwarze Nonnen das Miserere nobis. Seine Traumsprache war nicht wirklicher als die Verfolgungsjagden über Zäune und Mauern, schwindelerregende Treppen und gierende Abgründe, die der dicke Aimé immer, immer meisterte, während die gesichtslosen Geister, die ihn hetzten, einer nach dem anderen ins Verderben stürzten. Und Onkel Théodores junge Frauen, die ihn sooft in seinen Träumen besuchten? Kinder der Nacht, Brüder des Morpheus allesamt, wie der alte Monsieur Arnaud ihm erklärte, als Clément ihn wieder einmal auf eine gute Tasse Tee‹ besuchte. Arnaud, den alle nur Docteur nannten, war vor Zeiten Apotheker in Saulieu gewesen. Irgendetwas war vorgefallen in den letzten Kriegsmonaten, doch keiner redete mehr darüber, und der verwitwete Docteur hatte sich im Haus seiner verstorbenen Schwiegereltern zur Ruhe gesetzt. Er war belesen, ach was: gelehrt war er und konnte herrlich phantasievoll und detailreich erzählen. Vor allem das hehre Altertum war sein Gebiet, und in den Teestunden lernte Clément mehr über die Griechen und Römer, ihre Taten und Untaten, ihre Götter und Gelehrten als er jemals in der Schule erfahren sollte.
Von ihm hörte er von Morpheus und seinen Brüdern, die jegliche Gestalt, seien es Menschen oder Tiere oder Dämonen oder Naturgestalten und -gewalten annehmen konnten. Und er lernte, dass es zwei Arten von Träumen gibt: Wahrträume und Falschträume. Der Docteur enthüllte ihm sogar, wie man sie erkennt und den einen vom anderen unterscheidet. »Hast du schon einmal den Namen Homer gehört, mein Kleiner?« fragte Arnaud den Jungen.
»Ja, von Ihnen, Monsieur!« antwortete Clément eifrig, denn er erinnerte sich an Odysseus und an die Geschichte von Troja, von den Sirenen und Skylla und Charybdis.
»Das ist gut. Dann kann ich dir verraten, was der große Homer über die Träume wusste – hör zu!« Er lehnte sich in seinem Sessel mit den speckigen Lederlehnen zurück, schloss die Augen und deklamierte:
»Denn es sind, wie man sagt, zwei Pforten der nichtigen Träume:
Eine von Elfenbein, die andre von Horne gebauet.
Welche nun aus der Pforte von Elfenbeine herausgehn,
Diese täuschen den Geist durch lügenhafte Verkündung;
Andere, die aus der Pforte von glattem Horne hervorgehn,
Deuten Wirklichkeit an, wenn sie den Menschen erscheinen.«
Nach einer Weile, in der es ganz still im Zimmer geblieben war und nur die große Standuhr geräuschvoll die Sekunden wegtickte, öffnete Arnaud wieder die Augen, sah Clément an und fragte ihn: »Woher kommen deine Träume: aus der Elfenbein- oder der Hornpforte?«
Der Junge zögerte. »Ich weiß nicht recht, was ist der Unterschied?«
»Elfenbein ist ganz hell, und wenn du genau hinschaust, siehst du eine Maserung. Horn ist dunkel und glänzt, wenn es poliert ist.« Die Antwort befriedigte Clément nicht, im Gegenteil, hatte sie doch mehr Fragen aufgeworfen, als er zuvor gehabt hatte. Von jetzt an versuchte er genau darauf zu achten, durch welche Pforte Tamatoa und Vahinetua sich ihm näherten. Doch: Sollte es ihm jemals gelungen sein, Elfenbein und Horn im Traum zu unterscheiden, dann hatte er es regelmäßig beim Aufwachen wieder vergessen.
Clément lernte diese Sprache nicht, in der seine Gefährten des Traums zu ihm sprachen, vielmehr erfuhr er sie, so könnte man den Vorgang am treffendsten bezeichnen. Tamatoa und Vahinetua – andere Gestalten erschienen nun nicht mehr – sprachen zu ihm und er antwortete, dann fragte er und erhielt Antworten, die er unmittelbar verstand: Er wusste einfach, was sie sagten, ohne dass er die Worte überdenken musste, er musste sie keinesfalls übersetzen; sie waren schon in ihm, bevor er sie hörte, und sie waren in ihm, bevor er sie sprach. Und so kam es bald vor, dass er auch tagsüber, im wachesten Zustand, statt seiner Muttersprache diese Traumsprache benutzte.
»Tē aha ra ’oe?« fragte er seine Mutter, als er sie einen Teig anrühren sah.
»Ich will eine Kirschtarte backen«, antwortete sie, nicht weil sie die Frage verstanden hätte, sondern weil sie sie vollends überhört hatte und aus eigenem Antrieb ihren Jungen ansprach.
»Mmm, monamona!« rief Clément aus und verschwand wieder aus der Küche, ohne das fragende Gesicht seiner Mutter wahrzunehmen.
Es geschah nun immer häufiger, dass Clément, ohne es zu wollen, die Traumsprache in seine Rede mischte, zunächst in Ausrufen, wie soeben in der Küche: ›monamona – lecker!‹ oder ›fa’atoe au – lass mich!‹ oder ›mana’o ’ore – du Idiot!‹. Es fiel nicht weiter auf, bis er in ganzen Sätzen redete.
»Du bist ja ganz nass«, erschrak sich Marthe, als er von draußen hereinkam.
»Vau fa’auaua«, antwortete Clément und ging nach oben. Dann wieder lief er durchs Haus und sang: »E e e ma’e maita’i te ’uru/A tunu ia ’ama/Pahi te pa’a/Ta’iri’iri e/La u’ au’a e/’Iriti te hune/E ’ai te i ’o« oder er trocknete das Geschirr ab und trällerte: »Poreho,/No roto ’oe i te miti/Mā’a oe na te fe’e/Amuhia ’oe te fe’e./ ’Anapanapa mai/Te ’oe ’apu iti e«, und es störte ihn nicht, dass er weder wusste, was eine Brotfrucht noch was eine Kaurimuschel und ein Krake ist. Als er aber eines Sonntags zum Vaterunser laut und vernehmlich betete: »E to matou Metua i te raia, ia ra a to oe ioa; ia tae to o era hau; ia haapao hia to oe hinaaro i te fenua nei, mai te i te rai atoa ra …« – da zog seine Mutter Père Yrigoyen zu Rate.
Clément stand vor dem Pfarrer und grub sein Kinn in die Brust. Er kam sich vor, als hätte er die Kollekte gestohlen, um sich Tintin-Hefte zu kaufen; oder schlimmer noch: als wäre er dabei erwischt worden, wie er ins Weihwasserbecken spuckte. Der Pfarrer packte ihn am Kinn und hob seinen Blick auf. »Schau mich an, Junge! Was hast du dir dabei gedacht?« Gedacht hatte sich Clément allerdings gar nichts, das war ja der Punkt! Es kam einfach so und er dachte sich dabei so wenig, wie wenn er Französisch sprach. »Was ist das für ein Kinderkram, den du dir da ausgedacht hast? Wen willst du damit provozieren?« Clément konnte keine einzige dieser Fragen beantworten. Père Yrigoyen beugte sich zu ihm hinunter, so dass der Junge seinen Pfefferminzatem riechen konnte. »Das Gebet des Herrn ist göttlichen Ursprungs, ein Werk des Himmels. Spürst du denn nicht, wie sehr das Vaterunser gemeinsam mit dem Ave Maria im Rosenkranz alle anderen Gebete, von wem sie auch seien, unendlich übertreffen, sie in dem Maße überragen, als der Himmel über der Erde, das Himmlische über dem Irdischen steht?«
Clément nickte betroffen und konnte gerade noch ein ›A’ita vau e ha’a fa’ahou‹ zurückhalten. »Ich werde es nicht mehr wieder tun« versprach er stattdessen vorsorglich in seiner Muttersprache.
Der Pfarrer richtete sich auf, wenig überzeugt und daher aufs Äußerste unzufrieden. »Das ist die weiche Welle in der Pädagogik, die unsere Jugend verdirbt«, referierte der Pfarrer zu Marthe Robin gewandt. »Zucht, gute Frau, sie müssen Zucht walten lassen, bevor er sich noch mehr versündigt.«
In dem Sommer, in dem die Kindheit endete, das Jahr, als er die Dorfschule verlassen und in Dijon bei einer Tante unterkommen und das Collège besuchen sollte, regnete es viel, an manchen Tagen lief ein Schauer nach dem anderen über das Tal, zuweilen stürzten schäumende Bäche schmutzigen Wassers die Straßen hinunter, in Jourdains Hühnerstall schauten eines Tages die Hennen missbilligend auf die trübe Brühe unter ihren Stangen und mehr als ein Bewohner von St. Didier-les-Saules versündigte sich, fluchend. Wenn dann irgendwann einmal an einem Nachmittag die Sonne Straßen, Bäume und Wiesen mit silbernem Glanz überzog, dann staunte man über den vollkommenen Regenbogen, der sich zwischen Chailly und Vandenesse über die tropfnasse Landschaft spannte, aber man wagte nicht, das Haus zu verlassen, aus Sorge, schon bald vom nächsten Guss erwischt zu werden. Clément, der es zuhause nicht mehr aushielt, ging dennoch nach draußen, schlenderte über den Dorfplatz, am Rathaus vorbei die Rue de la Charrière hinunter und dann rechts zwischen den beiden Scheunen der Pelletiers und der Guichards hindurch ins Freie. Er hatte nasse Füße vom hohen Gras, als er am Ufer des Flüsschens ankam, dort traf er auf Anne-Laure, auch sie allein.
Anne-Laure, die ja alle in St. Didier Nana nannten (außer Père Yrigoyen, versteht sich), wäre nicht Nana gewesen, hätte er sie stehend, sitzend oder liegend angetroffen, vielmehr hing sie kopfüber von einem Baum, ein Ast in den Kniekehlen, und schaukelte, indem sie sich mit den Händen im Gras abstieß. Sie trug Hosen, Nietenhosen, wie sie jetzt modern wurden, und Clément stellte überrascht fest, dass Nana das erste weibliche Wesen außerhalb des Kinos und des Fernsehens (eine Neuerung im Hause Robin) war, das er in Hosen sah. Sie schwang sich auf, rutschte aus dem Baum und kam zu ihm gelaufen. »Alles klar bei dir?« Clément nickte. »Sieht aber nicht so aus.« Clément hob die Schultern. »Warte mal, halt mich mal fest, ich hab’ was im Schuh.« Er trat neben sie, hielt sie unbeholfen bei den Hüften, bis sie ihren linken Schuh ausgeschüttelt und wieder angezogen hatte, und ließ sie sofort los, als sie wieder sicher auf zwei Füßen stand. »Nächste Woche geht’s los!« verkündete sie ihm, und als sie seinen fragenden Blick sah, ergänzte sie: »Nach Düsseldorf in Deutschland. Mein Vater hat dort eine Stelle bekommen, und wir ziehen um.«
»Du kommst nicht mit aufs Collège?«
»Ich wäre sowieso nicht nach Dijon gegangen, sondern wie alle anderen nach Sémur. Warum musst du eigentlich nach Dijon?«
»Mein Vater meint, damit ich nicht jeden Tag fahren muss, außerdem wohnt eine Cousine von Mama in Dijon, bei der werde ich wohnen.«
»Spannend …« antwortete das Mädchen, »wir werden uns also nie mehr sehen?«
Clément hob wieder die Schultern. »Wer weiß …«
»Ja, wer weiß. Vielleicht ist ja irgendwo schon vorgezeichnet, dass wir uns eines Tages wieder begegnen.«
»Kann schon sein.« Sie standen nebeneinander und schauten in das wirbelnde Wasser, undurchsichtig braun nach all den Regenfällen, schäumend an den Steinen und unruhig vorwärts stürmend. Anne-Laure nahm seine Hand, ohne ihn dabei anzuschauen, sie war heiß wie seine, und sie hielt ihn ganz fest. Da fasste er einen Entschluss.
»Nana, ich muss dir was erzählen.«
»Schieß los!«
»Ich träume immer wieder denselben Traum, eigentlich schon seit Jahren.« Er stockte, aber das Mädchen schwieg. »In dem Traum spreche ich eine fremde Sprache, die ich nicht kenne. Ich hab’ so was noch nie gehört, mein ganzes Leben noch nicht. Aber ich verstehe alle und kann mich mit den Leuten, die im Traum auftauchen, unterhalten.«
»Das ist doch toll!« ermunterte ihn Anne-Laure. »Besser als Leute, die mit Äxten und Messern hinter dir herrennen.«
»Träumst du so was?« fragte Clément erschrocken.
»Ach was, aber manche Leute träumen doch solche Sachen.«
»Also, das mit der Traumsprache ist nicht alles.«
»Also doch Hämmer und Kettensägen?«
Clément musste lachen. »Nein, aber ich kann die Sprache auch sprechen, wenn ich wach bin.«
Anne-Laure ließ ihn los und wandte sich ihm zu. »Auch jetzt?«
»Ja, auch jetzt.«
»Das ist ja gigantisch! Sag mal was!«
Clément zierte sich, doch das Mädchen hing an seinen Lippen, also gab er sich einen Ruck. »E nehenehe tō ’oe.« Und weil sie nichts sagte: »’Oe ’ami ’e e vai noa vau hana«
»Was ist denn das?« sie lachte. »Das klingt echt komisch! Und was heißt das?« Und als Clément nicht gleich antwortete: »Nun sag schon!«
»Du bist nett«, nuschelte Clément, »und: Du gehst fort und ich bin traurig«. Sie spürten beide, dass es jetzt das Beste war zu schweigen, bis Clément nach einer Weile gestand: »Nana, das habe ich noch niemandem erzählt, das mit den Träumen.«
»Auch nicht deiner Mama?«
»Nein, niemandem. Und du musst mir versprechen, dass du es niemandem erzählst.«
»Geht klar, du kannst dich drauf verlassen«, versicherte ihm das Mädchen, »ich bin ja sowieso bald fort.«
Sie standen eine ganze lange Weile so da und hingen ihren Gedanken nach. Wenn es nicht so nass gewesen wäre, hätten sie sich gewiss gesetzt, und wenn es nicht so peinlich gewesen wäre, hätte Clément jetzt Nana in den Arm genommen. Aber so sagte sie nur: »Ich geh’ dann mal, vielleicht seh’n wir uns ja noch mal. Salut!«
»Salut!« rief Clément ihr halbherzig hinterher. Wenn er es nicht wirklich besser gewusst hätte, dann hätte er gesagt, dass er sich gerade verliebt hatte.