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Alice

huschte nackt ins Bad und setzte sich aufs Klo. Ich sah das durch die nasse Glasscheibe der Dusche. Ich drehte das Wasser ab und hörte sie pinkeln. Als ich an ihr vorbei zu dem Handtuch gleich neben der Tür tänzelte, spürte ich ihre Hand flüchtig über meinen nassen Hintern streichen.

Beim Abtrocknen kam mir Peter Gabriels My heart is going boom, boom, boom… in den Sinn und das Stück klang in mir so deutlich, als käme es aus einer Box. Aber wir hatten keine im Bad, denn für Alice war ein Badezimmer ein archaischer Ort, an dem man sich den körperlichen Angelegenheiten ohne störendes Tam-Tam zu widmen hatte. Dabei schloss sie nie die Tür ab. Der Schlüssel war auch gar nicht mehr da, er musste irgendwo im Haus in einer Schublade liegen, vermutlich in der Küche. Wenn sie drinnen war, oder ich sie drinnen vermutete, klopfte ich stets an und trat vorsichtig ein, vergewisserte mich, dass ich sie nicht störte. Das Bad war ihr Hoheitsgebiet und hier hatte sie auch gerne Sex mit mir. Alice betätigte die Spülung und das gurgelnde Wasser zog die Melodie aus meinem Kopf mit in die Tiefe. Sie stand auf und kam mit kleinen Schritten zu mir. Tapp, Tapp, Tapp. Sie roch nach Sex, nach vor dem Sex. Ich betrachtete ihre Lust und mein Herz ging wieder Bum, Bum, Bum. Ich bot ihr den ausgestreckten Arm, sie berührte meine Fingerkuppen mit den ihren, alle fünf, ohne auch nach nur einer suchen zu müssen und ließ sich, ganz Ballerina, heranziehen und in Position drehen, doch ich drückte meinen Steifen nur seitlich an ihren Po. Alice wich nicht aus, unternahm aber auch nichts, um ihn in sich aufzunehmen, worauf ich ein wenig gehofft hatte. Aber wir hatten uns an diesem frühen Freitagnachmittag, dem letzten Tag, an dem ich vor der Abreise nach Indien zuhause war, ein längeres Liebesspiel vorgenommen. Schließlich wollten wir ein Kind zeugen und Alice war der Ansicht, das Bad und eine schnelle Nummer seien dafür weder der richtige Ort noch die angemessene Art, sich für so ein Vorhaben zu lieben. Sie wollte dafür mit mir ins Bett.

Das Thema Kind beherrschte seit einigen Wochen unseren Sex. Zwar verhüteten wir weiterhin mittels Achtsamkeit und waren gut trainiert darin, unser Liebesspiel vom Zeugungsakt zu trennen. Aber das Vorhaben, ein Kind zu zeugen, wurde immer präsenter. Wir sprachen darüber, vor dem Sex, währenddessen und hinterher. Ich beteuerte stets meinen Kinderwunsch, auch wenn ich ihn nicht vollzog. Alice hatte Geduld mit mir, sprach noch nicht aus, dass sie an meinem Bekenntnis zweifelte, aber sie und ihre Bedürfnisse hatten sich in letzter Zeit geändert. Für eine schnelle, raffinierte Nummer war sie nicht mehr so oft zu haben. Sie nahm die Sache irgendwie ernster.

Und heute galt unser Versprechen. Es wäre wohl nicht dazu gekommen, wenn ich nicht schon morgen nach Indien fliegen müsste. Der Gedanke, vor meiner Abreise ein Kind zu zeugen, war uns gestern Abend gekommen. Ohne die bevorstehende Trennung hätten wir unsere Dauerdiskussion übers Familiengründen, über das Glück des Machens, die Überwindung von Ängsten, die Verfolgung von Vorhaben auch dieser Art wohl wie üblich kontroverser und aufschiebender geführt, unsere beruflichen Zwänge mit Wein besänftigt und uns auf die Seite der Souveränen geträumt, die es wagten, Kinder in diese hoffnungslose Welt zu setzen und zu behaupten, sie sei ein guter Ort, jedenfalls dort, wo ihn die Guten bevölkerten. Mein tiefer Zweifel am guten Verlauf der nahen Zukunft war Alice natürlich bekannt. Aber sie teilte ihn nicht, nicht auf meine verzweifelte Art. Sie meinte, dass die Welt immer schon ein unsicherer Ort gewesen sei. Als Biologin wusste sie natürlich noch viel besser Bescheid über den Zustand der Erde und ihr derzeitiges Sterben, hielt mir aber entgegen, dass man nie wissen könne, wie es dann wirklich komme. Sie malte mir ein Weltbild in den Himmel, in dem es nur so wimmelte von ausgestorbener Flora und Fauna und völlig neuen Kreaturen, die aus untergangenen Welten wieder neu hervorgingen, von sinkenden Meeren und mächtigen Gletschern, tropischen Warmzeiten und Kleinstlebewesen, die angeblich kosmische Musik von sich gaben, wenn man ihre Schwingungen in hörbare Frequenzen modulierte. Alice war keineswegs unerschütterlich. Das Artensterben ließ sie oft stundenlang heulen, der Stau rund um München machte sie oft fix und fertig, aber sie hatte eine bessere Gravitation als ich. Ihre intimste, innigste Motivation, mit der sie ihren Lebensentwurf wagte, drehte sich um die Freude am Wagnis selbst, es war gewissermaßen eine Freude an der Pirouette. »Schlittschuhlaufen ist schwierig, deswegen macht es ja so viel Spaß, aber Pirouetten drehen ist noch viel schwieriger und deshalb noch viel geiler. Wenn du es nie probierst, nun ja, wie willst du dann wissen, wie geil es ist.« Wir waren uns tatsächlich zuerst beim Schlittschuhlaufen begegnet, an einem Novembertag vorletztes Jahr, als ich, wie sie später behauptete, als Geisterfahrer unterwegs gewesen sei und direkt in ihren Armen landete, am Eingang zur Bahn, wo sie rein und ich raus wollte. Sie war in Begleitung eines attraktiven Mannes gewesen, bei dem es sich, wie sich später herausstellte, um ihren Bruder Ferdi handelte, und wohl deshalb führte das zu keiner weiteren Annäherung, trotz eines ersten deutlichen Aufflackerns bei mir, aber nicht bei ihr, wie sie immer noch behauptete, was ich ihr nie abkaufen werde.

Kurz vor Weihnachten waren wir uns dann in München auf dem Weihnachtsmarkt wieder über den Weg gelaufen. Dieses Mal war ich in Begleitung meiner damaligen Freundin Susanne. Das hatte nichts zu sagen, unsere Beziehung war nur noch lau und sie war eine der vielen Freundinnen, für die ich nichts weiter als ein natürliches Bedürfnis empfand. Alice war die erste Frau, in die ich mich als erwachsener Mann wirklich verliebte. Ein Gefühl, das ich glaubte, verloren zu haben, damals in Berlin, als ich sechzehn war und die Geschichte mit Annie und Sabine passiert war.

Zu unserem dritten Zusammentreffen, das Alice als ihre Stunde Null ansah, kam es dann in der Brauerei ihres Bruders Ferdi. Die besondere Qualität seines Bieres und der Charme seiner Schankwirtschaft hatten sich rumgesprochen. Auch Richard hatte davon gehört und mich gebeten, mir das anzuschauen, als Location für die Weihnachtsfeier, die er dort nachholen wollte. Weil sich die vielen neuen Kollegen vor Weihnachten auf keinen Termin einigen konnten, fand man seinen Vorschlag genial, das Fest Mitte Januar nachzuholen und anstelle eines sentimentalen Jahresrückblicks ein bisschen angeheitert Visionsarbeit für das bevorstehende Jahr zu machen. Da ihr Bruder beim Skifahren war, half Alice an dem Tag aus. Viel war in dieser Woche vor dem Dreikönigstag eh nicht los. Wer normalerweise zum Biertrinken und Spezialitäten essen hierherkam, war jetzt auf den Skiern oder am Strand. Der Hammerhof lag in der Nähe von Mainburg. Als ich knirschend mit meinem Audi A3 in die gekieste Auffahrt rollte, stand Alice mit einem Eimer Wasser in der Hand im Hof. Sie trug grobe weite Jeans, von der Sorte, wie sie Leute zum Arbeiten auf dem Land tragen, einen üppigen Pullover aus übermütig bunter Wolle und grüne Gummistiefel. Natürlich erkannten wir uns sofort wieder. Was für eine Überraschung. Na sowas. Toller Zufall. Es funkte mächtig zwischen uns. Das Schicksal schien mit Macht zu sprechen. Unsere Hände berührten sich gleich mit magnetischer Präzision. Wir nahmen uns sogar kurz in den Arm wie alte Schulfreunde, die sich voneinander hatten abschreiben lassen. Alice zeigte mir die Gaststube, die Brauerei und dann den ganzen Hof und stellte mich ihren Eltern vor, die mit dem Füttern des Viehs beschäftigt waren. Wache, kraftvolle Leute um die Sechzig, die nicht viele Worte über sich machten. Ab da waren wir praktisch zusammen und hatten noch am gleichen Abend Sex, den erhabenen Sex zweier Menschen, die Ehrfurcht voreinander haben. Auch sie hatte ein paar Tage frei und kam mit mir nach München. Wir hatten den Sex, der uns davon überzeugte, dass wir mit etwas Glück und Übung unser ganzes Leben miteinander verbringen konnten, ohne in der Einöde einer normalen Ehe zu sterben. Wir sprachen praktisch sofort übers Heiraten. Am Frauentag, dem 8. März (Alice mochte diesen Tag lieber als Valentinstag), schenkte ich ihr einen zierlichen goldenen Ring mit einem kleinen Smaragd, ein Geschenk an ihre Augen. Sie liebte ihn vom ersten Moment an, legte ihn gar nicht mehr aus der Hand, probierte ihn auf verschiedenen Fingern und steckte ihn schließlich auf ihren linken Zeigefinger. Keinesfalls wollte sie ihn ändern lassen, weil er am Ringfinger zu locker saß. Es war ja nicht so einfach mit solchen Geschenken. Natürlich konnte man immer ändern lassen oder umtauschen, aber so etwas war doch eine ziemliche Enttäuschung für alle. Ich hatte sie mit diesem Schmuckstück zum Leuchten gebracht und war trotzdem im Verlauf des Abends sehr aufgeregt. Mein nervöses Gerede passte überhaupt nicht zu der bedeutungsvollen Stimmung, die sich allein schon aus diesem Geschenk ergab und zur festlichen Atmosphäre des Dinners in unserem Lieblingsrestaurant in Giesing.

Die Situation verlangte also nach einem echten, förmlichen Antrag: »Ich liebe dich. Ich will mein Leben mit dir verbringen. Willst du meine Frau sein?« Und sie hatte »Ja« gesagt, eine ganze Reihe von Jas und zweifellos genug für eine Ehe. Der Abend verlief sehr zärtlich und berührend. Jeder Bissen des Hirschragouts und jeder Schluck des Burgunders waren ein Sakrament. Ab da schliefen wir bis zu unserer Eheschließung nicht mehr miteinander. Alice hatte mich von einer rund dreimonatigen Enthaltsamkeit, einem ‚Sex-Fasten‘ bis zu unserer Hochzeitsnacht, überzeugt. Die Abmachung war halb Spaß, aber auch halb Ernst, eine Art Wette, auf die ich mich beim Trinken der zweiten Flasche Burgunder bereitwillig einließ. Und tatsächlich rauschten die drei Monate wie ein beglückendes Projekt voller Durchschlagskraft vorbei. Meine Lust auf Sex verschwand, als müsse sie sich vom Stress jahrelanger Onanie erst mal erholen. Es war eine Zeit der Minne. Ich schrieb einige Gedichte, die ich meiner zukünftigen Frau vortrug, wenn wir zusammenlagen. Es war eine verzauberte Zeit, in der ich diese Gedichte spät nachts und in den frühen Morgenstunden per Hand schrieb; mit dunkelblauer Tinte in ein Büchlein mit altweißem Papier und lindgrünem Einband.

Wir betrachteten uns im Spiegel. Ich legte ihr meinen Arm um die Hüfte. Wir waren ziemlich genau gleich groß. Nur wenn sie sich an mich anschmiegte, wirkte sie kleiner und zarter, als sie sonst war. »Na dann, lass uns rübergehen und ein Kind machen«, sagte sie gut gelaunt mit ihrer leicht kratzigen Stimme, wie sie auch manche Sängerinnen haben. Alice sang selbst ziemlich gut. Wenn ihr danach war, trällerte sie Passagen von Nora Jones, Amy Winehouse und Adele. Sie wollte sich aus meiner Umarmung drehen, aber ich hielt sie fest. Ich wollte den Anblick dieses Paares im Spiegel noch eine Weile genießen.

»Soll es so aussehen wie du?«, fragte ich. »Meine Sommersprossen braucht es auf alle Fälle«, antwortete sie zärtlich und knabberte an meinem Ohr. »Du bist so schön«, sagte ich und zeichnete mit dem Zeigefinger ihre Kontur im Spiegel nach, malte Kreise um ihre kleinen runden Brüste und drückte einen Punkt in ihr orangefarbenes Dreieck. »Aber es soll unbedingt deinen Mund und dein Kinn haben, und natürlich deinen dunklen Teint, aber meine grünen Augen. Keine leichte Aufgabe, Meinst du, das kriegen wir hin?«

»Ich weiß nicht. Manchmal schlagen die Gene der Großeltern oder noch früherer Generationen voll durch. Da kann ich für nichts garantieren«, sagte ich. »Die Mendelschen Gesetze sind mir sehr wohl bekannt«, antwortete meine Frau, die Biologin, ein bisschen gereizt. Wir sprachen nicht oft darüber und ich hatte auch nicht davon anfangen wollen. Aber das Problem meiner Herkunft drängte sich unvermeidlich in unser Liebesspiel. Ich kannte meine Herkunft nämlich nicht und litt sehr darunter. Ich hatte keine Geschichte, keinen Stammbaum, der Auskunft darüber hätte geben können, ob ich einer ruhmreichen Familie entstammte, die schon seit Jahrhunderten ihre Traditionen und ihren Besitz von einer Generation zur nächsten weitergab; oder nur der Spross einer minderjährigen kleinen Hure war, die nicht wusste, wer mein Vater war, es aber nicht übers Herz gebrachte hatte, mich abzutreiben oder nur zu stumpfsinnig war, sich darum zu kümmern. Das schien mir bisweilen am wahrscheinlichsten: das Kind eines verzweifelten Mädchens zu sein, das den Vater nicht kannte. Sie hatte mich, anfangs verzweifelt und dann resigniert ausgetragen. Und meine wahre Herkunft für immer gelöscht, als sie mich am 6. Januar 1980 am Eingang eines Westberliner Krankenhauses in einem Kinderwagen zurückgelassen hatte. Dieser Tag jedenfalls galt als Datum meiner Geburt. Aber über meiner Herkunft lag ein Leichentuch. Ich schämte mich vor Alice über dieses Leid, das ich in unsere Beziehung hineingeschleppt hatte wie eine chronische Erbkrankheit, wie eine Behinderung.

Ich schämte mich vor Alice über dieses Leid, das ich in unsere Beziehung hineingeschleppt hatte wie eine chronische Erbkrankheit, wie eine Behinderung.

Meine Adoptiveltern Sabine und Thomas Crecelius hatten mich ein paar Wochen später als Adoptivkind entgegengenommen. Man hatte ihnen nicht viel über mich und meine kurze Zeit bei ihnen erzählt. Sabine und Thomas waren esoterische Schwärmer und von Beruf verbeamtete Lehrer, verbeamt (von Beamer), wie ich hervorbrachte, als ich sprechen lernte. Ihre Liebe für mich war aufrichtig. Doch ich wusste, dass es keine echte Elternliebe für mich geben konnte, einfach weil es keine echten Eltern für mich gab. Ich wollte wissen, von welchen Geschlechtern ich tatsächlich gezeugt, in welchem Mutterleib ich zu einem Menschenkind gediehen und aus welchem Schoß ich geboren worden war. Sabine und Thomas hatten versucht, mich davon abzubringen, mir vom Stamm der Menschheit gepredigt, zu der alle Menschen gehören und mich auf die Zwänge in sogenannten alten Familien hingewiesen. Sie ermahnten mich, stets meine angeborene Schönheit und Intelligenz zu schätzen. Sabine hatte mich manchmal einen orientalischen Prinzen genannt. Alice war in mein angeblich italienisches Aussehen verliebt. Doch das änderte nichts an meiner schmerzenden Sehnsucht nach der Wahrheit meiner wirklichen Herkunft. Das war meine Obsession, meine Schwäche. Sie hatte mich zu einem zweifelnden Menschen gemacht. Schon als Junge, mit den ersten Möglichkeiten meines gerade erwachenden Bewusstseins ausgestattet, hatte ich angefangen, leidenschaftlich an meinem Dasein zu zweifeln, so extrem, dass ich manchmal wirklich glaubte, ich sei nicht am Leben. Nichts schien wirklich real, alles war zweifelhaft, nur eine Illusion. Ich empfand mein Leben manchmal als Traum, aus dem man nicht aufwachen konnte. Man schlief von Tod zu Tod und träumte zwischendurch verwirrendes Zeug, das Leben eben. Nicht mal sich umzubringen ergab in diesem sinnfreien Flackern irgendeinen Sinn.

Alice hingegen stammte aus einer uralten katholischen Familie, die in den Glaubenskämpfen des dreißigjährigen Krieges aus dem Böhmischen vor den Protestanten in die Hallertau geflüchtet war. Hopfenbauern und Landwirte seit Generationen. Sie besaßen eine Urkunde, der ihren ehemaligen böhmischen Besitz belegte und einen Stammbaum, der bis ins dreizehnte Jahrhundert reichte, über dessen Wahrheitsgehalt bei den zahlreichen Festen ihrer Sippe von ihren unüberschaubar vielen Verwandten lautstark debattiert wurde. Alices Familie führte seit vielen Generationen den Nachnamen Hammer. Als wir beschlossen zu heirateten, gefiel mir die Idee sofort: Carl Hammer. Es war mir sehr leichtgefallen, meinen sperrigen Namen Crecelius, den ich von Thomas und Sabine erhalten hatte, abzulegen, als wir die Ehe schlossen.

Alice küsste mich aus meinen schwermütigen Gedanken.

»Du kannst im Gegensatz zu mir frei phantasieren, von wem du wohl abstammst. Vielleicht kommst du aus einer feinen sizilianischen Familie und der Großvater unserer zukünftigen Kinder hat früher reihenweise Leute umgelegt.« Ich lächelte traurig. »Vielleicht bin ich ja Inder zu so und so viel Prozent. Ich sollte doch endlich einen genealogischen DNA-Test machen.« Alice hielt diese Tests für Augenwischerei, weil wir alle zu über neunundneunzig Prozent genetisch übereinstimmten. Aussagen zum Rest seien Spekulation. Sie seufzte. »Ein bisschen indisch oder italienisch sind wir alle. Du bist schön, ich liebe den Duft deiner Haut und den Glanz in deinen Augen, wenn du scharf bist.« Sie ließ ihre Hand ganz sanft auf der Mitte meiner Brust landen, spielte ein bisschen mit meinen Haaren, und legte dann ihr Ohr auf mein Herz. »Hörst du das auch? Bum, Bum, Bum. Darum geht’s, mein schöner, tapferer Mann, nur darum, nicht um die Vergangenheit. My heart is going boom boom boom, son, he said, grab your things, I've come to take you home.«, sang sie in mein Ohr, erregte meine abgeklungene Bereitschaft mit der Hand und führte mich ins Schlafzimmer.

Sie war weicher als sonst. Kein vertrautes Gegenstemmen, keine Anspannung ihres Beckenbodens, nur Offenheit, Weichheit und Feuchte. Meine heftigen Stöße in ihre völlig verflüssigte Scheide liefen ins Leere. Ich hielt inne und suchte in diesem See nach Halt, nach einem Rand und Ufer. Aber Alice war so nass und geschmeidig, dass ich Angst hatte, in ihr zu versinken. Ich wusste nicht mal genau, ob ich noch steif war. Ich zog mich aus ihr zurück, setzte mich auf die Fersen und brachte meinen erschlafften Schwanz wieder hoch, was angesichts des Anblicks, den sie mir bot, zum Glück nicht lange dauerte. Sie lag mit geschlossenen Augen tiefenentspannt auf dem Rücken, bespielte ihre Lieblingsstelle und stöhnte leise. In einem derart abwesenden Zustand kannte ich sie bisher nur, wenn sie reichlich betrunken war und nicht mehr besonders interessiert an Sex mit mir. Ich drang wieder in sie ein, doch sie reagierte überhaupt nicht auf mich. Ihre völlige Selbstbezüglichkeit irritierte mich gleich wieder. Nach ein paar mechanischen Stößen verlor ich erneut die Lust, stieß mich ziemlich fest von ihren Oberschenkeln zurück und ließ mich aufs Bett fallen. Alice erwachte aus ihrer Trance. »Was ist los? Stimmt was nicht?« Sie stemmte sich hoch und brauchte eine Weile, um sich zurechtzufinden in der gewöhnlichen Realität von Frage- Antwortspielen, Positionsbestimmungen und Selbstbehauptungen, denn ich wollte mit ihr reden. Als sie begriff, was vor sich ging, womit ich ein Problem hatte, pfefferte sie erzürnt das Kopfkissen ans Kopfende unseres Ehebetts, stauchte und boxte es zu einem Sitzkissen zusammen, setzte sich mit angewinkelten Beinen drauf und sah mich reichlich angesäuert an. »Was ist los? Hm?« »Ich kann nicht. Ich komme mir vor wie ein Soldat auf Heimaturlaub, der am Abend, bevor er wieder an die Front muss, noch schnell ein Kind zeugen soll.«

Alice explodierte, in mehreren Stufen. »Jetzt hör mal zu, Herr Hauptmann der Reserve. (Das war ich in der Tat.) Das ist jetzt echt nicht die feine Art. Ich habe gar kein Problem damit, dass du deine verdammte Pflicht für deinen Herrn und Meister Richard tust und an meinem Geburtstag ins Land der Fakire ziehst. Aber das ist doch auch wieder nur ein Vorwand. Du willst kein Kind. Nicht mal jetzt, nach unserem schönen Abend gestern. Ich habe es vergessen, warum es da, da, da und da auch nicht ging und wir nur Spaß hatten, aber jetzt kapier ich’s endlich. Du hast keine Lust drauf. Du willst kein Kind.« Sie musterte kühl mein schlaffes Glied, als spreche sie mit ihm. Ich errötete. Sie hatte unmissverständlich Recht. Mein Schwanz verstand das. Er kapitulierte vor ihrer völligen Hingabe und Erwartung. Er wurde zur Schnecke anstatt zum Tiger, der aus purem Vergnügen Schmetterlingen hinterherjagt und dabei sogar in den See springt. Ich konnte nicht genießen, wie meine Frau so dahinschmolz. Ich brauchte ihren straffen Körper und ihren wachen Geist, den festen Griff ihrer Hände, ihre geschickte Zunge, ihre rauchige Stimme, die pornografische Phantasien in die Arena hauchte. Ich brauchte das alles, um mich an ihr abreagieren zu können. Ich brauchte ihren Widerstand.

Draußen ließ die Sonne keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass es Anfang Juli war. Ihr grelles Licht schlug die Schatten der Jalousielamellen wie Gefängnisgitterstäbe auf das Bettzeug. Eigentlich das perfekte Set für heftigen, schweißtreibenden Sex, aber ich sagte ziemlich deprimiert: »Lass uns aufstehen, einen Cappuccino trinken und dann sehen wir weiter.« Alice war brüskiert. Sie stand mit einem heftigen Schwung auf, baute sich vorm Bett auf, stemmte die Arme in die Hüfte und rang um Fassung.

»Na schön, Carl, mein seltsamer, verstörter, eigenartiger Mann. Du kannst mich nicht lieben, wenn es drauf ankommt. Vielleicht fehlt dir etwas an mir, was ich dir nicht geben kann. Aber ich habe das Gefühl, niemand wird dir das jemals geben können, wonach du suchst: Halt im Leben. Vielleicht war es ein Fehler, darauf zu vertrauen, dass du in meiner Familie Heimat findest. Ja, du genießt es, nächtelang mit meinen Brüdern und ihren Kumpels zu pokern und vielleicht hast du mich geheiratet, weil du eigentlich meine Familie heiraten wolltest. Aber jetzt fehlt dir plötzlich die Lust, mit mir eine eigene zu zeugen. Ja, ich will eine eigene glückliche Familie mit dir und ertrage dafür sogar Richards dauernde Übergriffe in unser Privatleben. Er spendiert dir freie Tage, wenn es gerade passt. Er diktiert dir Wochenendeinsätze, wie es ihm beliebt. Er ruft dich hier um Mitternacht und in aller Herrgottsfrühe an und drängt sich mir mit seinen albernen Grüßen auf, die du natürlich immer brav ausrichtest. Aber Carl: Er hat weder vor dir noch vor mir wirklich Respekt. Flieg einfach nicht. Bleib hier. Ruf ihn an, sag ihm, dass du nicht geimpft bist, ach was, dass du krank bist, Fieber hast, Ruhe brauchst. Man kann nicht nach Indien fahren, wenn man Fieber hat und nicht geimpft ist. Sie lassen dich gar nicht einreisen. Man kann sich alles Mögliche holen. Gelbsucht, Typhus, Malaria, Tollwut.« Alice brach ihre Ansprache unvermittelt ab. Sie wirkte plötzlich hilflos, erschöpft und frustriert, als hätte sie mitten in der Blüte einen gemeinen, späten Frost abbekommen. Dazu hatte ich tatsächlich etwas Fieber und nahm seit über einer Woche Ibuprofen, wenn ich sie nicht gerade vergaß. Aber wegen eines leichten Fiebers konnte ich mich nicht von meinem Auftrag zurückziehen.

»Ich bin geimpft, Alice. Ich kann aus jeder Pfütze trinken und das weißt du auch. Es gibt Dinge, die eben erledigt werden müssen, auch wenn man überhaupt keine Lust dazu hat.«

Alice gab ein dumpfes Geräusch von sich, als würde sie sich vor einem widerwärtigen Tier ekeln, aber gemeint war ich.

»Hör auf, dich selbst zu belügen. Du bist auf der Flucht vor dir selbst, Carl. Ja, dein Leben ist ganz wunderbar okay, einerseits. Du hast einen super Job, eine super Frau und die will eine super Familie mit dir. Aber andererseits ist dein Leben überhaupt nicht okay. Dein Chef sagt dir, wo es für dich lang geht, du hast keine Freunde, bis auf solche, die du nie triffst. Und dir vergeht die Lust beim Anblick deiner Frau, wenn sie ein Kind mit dir zeugen will. Ich liebe dich, Carl, aber ich denke, du musst da was mit dir selbst klären, wobei ich dir nicht helfen kann.« Sie ging zur Tür und nahm den Griff in die Hand. »Ich fahre zu meiner Familie«, sagte sie weich und überhaupt nicht mehr wütend und ich hoffte, sie würde es sich noch anders überlegen, aber die Verwundung überwog. »Vergiss deinen Impfpass nicht!«, zischte sie, im Türrahmen stehend, und verschwand hinter der Tür, die sie zuknallte.

Ich spürte jetzt ein anderes, sehr körperliches Problem. Der Stau in meinen Samenleitern schmerzte wie ein Krampf. Sie waren vollgepumpt mit Sperma. Das hatte also bestens funktioniert, nur die Entladung nicht, der Höhepunkt, die Übergabe, die Veräußerung, das Geschenk. Ich musste den Druck loswerden. Ich stellte mir Alice vor, wie sie dalag mit gespreizten Beinen und selbstvergessen leise vor sich hin stöhnte. Das war krass. Ich wollte die Szene nochmal durchspielen in der Hoffnung, es dieses Mal zu schaffen, als Probe für den nächsten, besseren Auftritt. Aber selbst das gelang mir nicht. Die Vorstellung, wie sie in gewisser Weise bewusstlos vor mir lag und auf ihre Empfängnis wartete, brachte mich runter, beziehungsweise gar nicht erst hoch.

Im Bad ging die Dusche an. Alice duschte sich meine Berührungen von der Haut. Vielleicht ging es ihr ähnlich wie mir und sie besorgte es sich gerade mit dem Duschkopf. Diese Vorstellung passte. Der harte Wasserstrahl, den man einstellen konnte, der verchromte Duschkopf, die vielen kleinen, mit Gumminoppen eingefassten Düsen, der Dampf, die Wärme. Ich brauchte nicht lange. Ich nahm das Handtuch, das am Kopfende lag, es lag auch heute dort, wie immer, wenn wir hier Sex hatten und wischte mich damit ab. Dann erhob ich mich träge, streifte den Bademantel über, ging die Treppe runter in die Küche, nahm mir ein Bier aus dem Kühlschrank und trank es gierig leer. Die Wirkung setzte sofort ein. Benommen schaute ich mich um und mein Blick fiel auf die Terrasse. Dort hatten wir heute Abend sitzen, Shrimps grillen und Wein trinken wollen, aber die Hoffnung, dass Alice ihren Plan noch änderte, schwand mit jeder Minute, die sie nicht hier erschien. Ich ging zur Treppe und lauschte. Sie duschte immer noch.

Ich holte mir noch ein Bier, ging auf die Terrasse und blinzelte in die Sonne. Die Häuser auf der anderen Straßenseite schlugen kantige Schatten. Eine Amsel saß in der Dachrinne und trällerte Kadenzen.

Endlich kam Alice. Sie ratterte die Treppe runter und durch die Küche, der reinste ICE. Sie kramte was aus dem Kühlschrank, schlug die Tür zu, dass die Flaschen und Gläser im Seitenfach nur so schepperten und kam zu mir mit einer Flasche Sprudel in der Hand. Sie rangierte hinter meinem Rücken vorbei und stellte die Flasche betont sachte auf den Holztisch. Sie hatte sich herausgeputzt, in eines meiner Lieblingskleider geschmissen, das grüne, ärmellose, anschmiegsame aus Viskose, und die Haare hochgesteckt, als sei ihr zu heiß, als brauche sie einen kühlenden Hauch im Nacken, einen Schauer, den Anflug eines Abenteuers, das glücklich ausgeht. Ihr Nacken schien mir jetzt die Landebahn, die man der Zukunft bauen soll, zu sein, eine ungeschützte, verletzliche Stelle, auf der meine Küsse landen wollten, meine Küsse, nur meine, auch wenn es nur Küsse aus der Zukunft waren. Ihr Haar schimmerte rotgolden in der Nachmittagssonne, wie zum Beweis, dass sie die schönste Frau unter dem Himmel war und ich der größte Idiot, der im Staub der Erde herumkroch. Die Amsel trällerte eine melancholische Melodie in diesen unendlich leeren Moment, als hätte sie sie eigens für uns komponiert. Alice drehte sich zu mir um. Tränen liefen aus ihren ungeschminkten grünen und manchmal auch grauen Augen, je nachdem, welche Farben sie trug und wie das Licht gerade stand. Sie kullerten über ihre Sommersprossen. Und meine Tränen blieben in meinem Brustkorb stecken. Ein weiterer Stau von Körperflüssigkeit. Meine Augen brannten, doch ich zwang mich, sie anzuschauen, diese Maske aus verletztem Stolz, die Alice trug und mit der sie mich verbannte: Wage es nicht, mich zu lieben. Begehre mich, aber komm mir bloß nicht zu nahe. Und komm mir jetzt schon gar nicht mit irgendwelchen Erklärungen. Und fass mich nie wieder an, frühestens erst wieder in drei Wochen, aber nur, wenn du deine verlorene Seele bis dahin gerettet hast und wieder einen hoch kriegst und zwar für meine Version von Liebe und Vereinigung. Und wehe, du versuchst jetzt, mir einen dummen Kuss zu geben. Du würdest eine Viper küssen!

Nachdem ich diese stillen Mittteilungen vernommen hatte, schaute ich an ihr vorbei zur Amsel, die da anscheinend nur saß, um diese Szene musikalisch zu begleiten. Ständig wiederholte sie ihre Melodie. Ich war so gebannt von ihrem Gesang, dass ich gar nicht mitbekam, als Alice ging.

Erst als sie mit ihrem Wagen vorne an der Straße vorbeifuhr, wurde es mir bewusst. Ich fuhr mir mit der Hand durch den Nacken, bemerkte den Schweißfilm und dann den schalen, bitteren Nachgeschmack des Biers im Mund. Alice hatte das Sprudelwasser wohl für mich auf den Tisch gestellt, als stille Mahnung, dass ich mich nicht betrinken sollte, dass es gegen Frust was Besseres gab als Bier. Ich trank davon und sagte mir, alles wird gut. In drei Wochen werden wir hier sitzen, Shrimps essen und Rosé trinken.

Die Amsel schwieg jetzt bedeutungsvoll. Ich fühlte mich von ihr ermahnt und ging duschen. Danach ging es mir besser.

Ich hatte jetzt gut vierundzwanzig Stunden Zeit bis zu meinem Flug. Meinen Koffer hatte ich am Morgen schon gepackt und das bestellte Bargeld bei der Bank abgeholt. Zweitausend US-Dollar, tausendfünfhundert Euro und hundertfünfzigtausend Rupien. Das waren rund fünftausend Euro in bar für drei Wochen. Wohl genug, falls es irgendwelche Probleme mit den Kreditkarten geben sollte.

Es war noch immer heiß, über dreißig Grad. Ich ging zur Tür und hatte Mühe, meine leichten Wanderschuhe zu finden. Ich hatte sie ewig nicht mehr angehabt und fand sie schließlich unter unendlich vielen anderen Schuhen.

Ich nahm meinen Schlüssel vom Brett, ging nach draußen, zog die Tür hinter mir zu, vergaß aber abzuschließen. Ich ging zu meinem roten BMW 3er-Cabrio an der Straße und entriegelte das Schloss. Das Dach war noch runtergefahren, aber ich schloss den Wagen trotzdem auch dann ab, damit ich nicht nachlässig wurde und irgendwann den Schlüssel stecken ließ. Alices jüngster Bruder Felix hatte mir den Wagen besorgt. Felix war Mechatroniker und erst Anfang zwanzig. Aber er hatte schon eine gut laufende eigene Werkstatt, die er sich auf dem Familienhof eingerichtet hatte. Ein paar mietfreie Schuppen waren wirklich ein großartiges Startkapital. Er machte gute Geschäfte mit Oldtimern, die er für seine zahlungsfreudige Kundschaft herausputzte und auf Wunsch frisierte. Das sprach sich rum. Felix hatte das Cabrio einem verarmten Fotografen abgekauft. Ein Schmuckstück, Baujahr 1989 mit beigen Ledersitzen einem CD-Player mit robusten Knöpfen und kernig klingenden Boxen. Schließlich war das ein Auto aus den Achtzigern.

Ich hatte ihm sechstausend Euro dafür gezahlt, kurz vor unserer Hochzeit. Mehr durfte ich ihm nicht geben. Der gute Preis war sein Hochzeitsgeschenk an uns und er hatte uns damit chauffiert. Er liebte seine große Schwester und ich hatte immer das Gefühl, wenn ich den Wagen auch nur anschaute, von ihm den Auftrag erhalten zu haben, seine große Schwester zu beschützen. Ich stieg ein und fuhr los.

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