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Wald

Hinter Deggendorf nahm ich die Landstraßen bis zum Bayerischen Wald. Ich kannte mich noch sehr gut aus, obwohl ich lange nicht mehr hier gewesen war. Als die im Abendlicht orange leuchtende Felswand hinter der Kurve auftauchte, bog ich in den nächstbesten Feldweg ein, um mir das Schauspiel anzusehen.

Als ich vor fast zwanzig Jahren von Berlin nach München gezogen war, hatte ich den Sommer hier in der Gegend verbracht und mit meinem unverwüstlichen Peugeot 205 so ziemlich jede existierende Straße ausgekundschaftet, was nicht besonders schwer war. Abseits des Hypes um Bayern, der sich mit weltläufig daher kommender Folklore damals überall aufdrängte, entdeckte ich hier im Osten eine Welt aus Wäldern, Bergen, Tälern, Feldern, Dörfern, Städtchen, Hügeln, Höfen, Kruzifixen, Kapellen, Festen, Kirchen, Himmeln, Gewittern, Nebeln, Regen, Stille, Weite, Licht und Schatten, Stimmen von Tieren, Landmaschinen und nur wenigen Flugzeugen, die mich sofort in den Bann zog.

Die Wucht dieser Natur vitalisierte meine von den Berliner Stadtlandschaften betäubten Sinne so gründlich, dass ich süchtig wurde nach Sauerstoff und Grün. Ich wanderte durch die endlosen Wälder, begegnete so wenigen Menschen wie nie zuvor in meinem Leben und fühlte mich leicht und frei. Ich trank ohne zu zögern das Wasser aus den kleinen Bächen und Quellen, die ich aufspürte und verlor vorübergehend jeden Hunger. Wenn das Wetter es zuließ, schlief ich unter freiem Himmel in meiner Hängematte. Ich rauchte hin und wieder ein bisschen Gras aus meinen Berliner Beständen und überließ mich meiner gesteigerten Wahrnehmung. Anfangs schreckte ich noch hoch, wenn Holz knackte und Tiere raschelten, doch das legte sich bald, obwohl meine Sinne immer schärfer und klarer wurden. Und bald kam es mir vor, als sei dieses Leben mein eigentliches, mein für mich vorgesehenes. Ich war in jenem Sommer high, mit und ohne Gras. Ich vertrug es ja ohnehin nur in sehr kleinen Dosen, ein paar Krümel reichten mir meistens. Meine zehn Kilo Übergewicht schmolzen dahin wie hartnäckiger Schnee in der Frühlingssonne. Dieser Sommer war die glücklichste Zeit meines Lebens gewesen.

Ich kramte mein Fernglas, ein kleines leichtes Swarovski, vom Rücksitz und visierte den Schiefen Zahn an. Ich nannte ihn so, offiziell hatte er gar keinen Namen. Dazu war er wohl zu klein und unbedeutend, obwohl seine Erscheinung sehr imposant war. Er sah noch so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Manchmal kam es zu größeren Abbrüchen bei solch exponierten Felsen, manche brachen über die Jahre einfach zusammen, aber der Schiefe Zahn stand unversehrt da, wie damals. Von hier sah er aus, als würde er freistehen, aber er war mit einem sehr soliden Nacken mit dem Massiv fest verbunden. Er war an die dreißig Meter hoch und oben zu einem Plateau abgeflacht, auf dem ein paar unverwüstliche Bäume es geschafft hatten, Wurzeln zu schlagen. Sie müssten inzwischen zu zähen, trotzigen Pflanzen herangewachsen sein. Ich konnte es kaum erwarten, dorthin zurück zu kehren.

Ich spürte mein Fieber. Es war jetzt am Glimmen, eigentlich schon am Brennen und das kam auch von dem Streit mit Alice, der mir in den Knochen steckte. Ich wollte dennoch die Nacht dort oben verbringen. Die Nächte hier draußen hatten mich auch damals geheilt. Ich hatte auch damals Fieber gehabt, mitten im Sommer, so wie jetzt, und es war über Nacht verschwunden. Alles würde sich fügen, alles würde sich gut entwickeln, alles war gut. Alice war bei ihrer Familie, ich würde morgen im Flieger sitzen und mich in der Business-Class bedienen lassen. Ich trank eine der drei Wasserflaschen leer, die ich mitgenommen hatte und nahm zwei Ibuprofen. Doch plötzlich zweifelte ich, ob ich wirklich zum Schiefen Zahn fahren oder nicht doch besser umkehren sollte. Und ich hätte jetzt gerne ein bisschen Gras geraucht. Es war ewig her, dass ich was geraucht hatte.

Berlin und Mirko kamen mir in den Sinn. Als ich mit dreizehn anfing mitzukiffen, haute es mich jedes Mal von den Füßen. »Hey Alter, das ist wohl nichts für dich. Probier besser was anderes«, sagte Mirko, mein Kumpel mit dem Händchen fürs Dealen, als sie mir die Beine hatten hochlegen müssen, damit ich nicht ohnmächtig wurde. »Hey Alter, nimm mal was Lustiges«, sagte Mirko beim nächsten Mal. Angeblich war das Ecstasy. Das sei total smooth, hatte Mirko mit der Miene des Apothekers hinzugefügt. Aber das war alles andere als smooth, doch das Herzrasen, die Panikattacken und üblen Phantasien, die ich dann erlebte, waren reine Hysterie, der perfekte Placebo-Effekt, wie sich herausstellte. Mirko hatte sich schlapp gelacht. »Hey Alter, wie es dich schon beim Kiffen umhaut, glaubst du, ich kann mir ‘ne Leiche leisten? Das war Zucker, Mann. Hast du’s gut, Mann. Gehst schon ab auf Zucker! Nimm besser gar nix, Mann!«

Ich fand das gar nicht lustig und prügelte mich mit Mirko, nicht wirklich, eher so wie Wrestling. Wir spielten oft Wrestling. »Pass auf, Mirko, wenn du mein Freund sein willst«, forderte ich ihn heraus – und Mirko wollte mein Freund sein – »dann besorg mir mal gutes Gras. Ich bau mir dann lieber selbst was.«»Ist ja schon gut Mann, geht klar, Mann. Du bist mein Freund, Mann.«

Ich rauchte nun meistens alleine (mit Mirko nur aus quasi geschäftlicher Verpflichtung) und tüftelte an der richtigen Dosis. Dabei begriff ich schnell, dass ich nur ganz wenig davon brauchte. Das leichte High ließ mich Liebe für die Bedürfnisse eines Korkenziehers nach einem Korken empfinden, so sanft waren meine Trips. Sie beseelten die Dinge, zerlegten sie aber nicht in surreale Bestandteile. Im Gegenteil. Ich erwachte in dieser Zeit auf sanftem Gras. Mein Sex erwachte, alles erwachte. Mein Selbstwertgefühl, meine Intelligenz, meine Ausstrahlung. Ich entdeckte Zusammenhänge zwischen den Dingen und meine Verbindung mit diesen Dingen, wie ich sie wahrnahm, mit und ohne Dope. Mit war mir meistens lieber, wenn auch nicht immer. Manchmal war es sehr cool, ein paar Tage lang völlig clean zu sein, aber meistens war es andersrum besser. Es war eine Kunst, die andere Frequenz, auf die es mich brachte, mit dem richtigen Material und der richtigen Dosis zu erreichen. Ich fing an, mich wissenschaftlich mit Cannabis zu beschäftigen. Die beste Art, damit zu experimentieren, war, es selbst anzubauen, nicht zuletzt auch, um von Mirko nicht länger abhängig zu sein. Er war mein Freund und deshalb war es schlecht, wenn er mein Dealer war. Aber das Beste war, dass Sabine und Thomas keine Einwände hatten. Sie waren für die Legalisierung, verehrten Bob Marley und lasen die Artikel von Wolfgang Neskovic, dem Lübecker Richter, über die gesellschaftlichen Schäden, die die Kriminalisierung von Cannabis anrichtete. Sie plädierten für Coffee-Shops wie in Holland. Wo ich auch die Samen bestellte. Die beiden rauchten selbst, häufiger als sie zugaben, jedenfalls Sabine. Sie versuchte, es zu verschleiern und wollte mir weismachen, dass sie nur manchmal bei Sessions kiffte. Sessions, das waren nach Sabines Definition Partys, bei denen es um echte Freundschaften ging und nicht ums Abhängen, Anmachen und Abschleppen. Sie war in diesen Dingen sehr offen zu mir, auch Thomas gab sich offen bei der Aufklärung. Als ich Kind war, so richtig Kind, mit eigenem unkontrolliertem Kopf und unbändiger Kraft, hatten sie viele FKK-Urlaube auf Sylt mit mir verbracht und mir gepredigt, ich solle mich wohlfühlen im Gotteshemd, wie Thomas das nannte. Als ich mit zwölf befürchtete, ich habe eine Phimose, hatte Thomas mir meine Befürchtungen genommen, indem er mir sein Exemplar vorführte bis zur Erektion und ich erkannte, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte. Wir begegneten uns in dieser Zeit, als ich mich in einen Mann verwandelte, öfter als früher nackt im Haus, zufällig, wie es schien. Nackt waren wir immer schon im Obergeschoss herumgelaufen, wo die Schlafzimmer und das Bad waren, aber ich konnte mich nicht erinnern, dass Sabine auch unten in der Wohnung nackt rumgelaufen war, was jetzt öfter vorkam. Und wenn die beiden Sex hatten, ließen sie bisweilen scheinbar zufällig die Tür auf, bis ich mich genötigt sah, ihnen zu sagen, dass es mich störe. Ich wollte keinesfalls in den Sex von Sabine und Thomas reingezogen werden, psychisch versteht sich, denn sie zogen mich in ziemlich viel rein. Ihr Glaube, es wäre gut für mich, wenn sie möglichst viele ihrer Themen (meistens waren es Probleme) mit mir teilten, war so fest und unerschütterlich wie der Glaube tüchtiger Protestanten an den Segen unermüdlicher Arbeit. We want to share it with you, wollte Sabine es mir sogar auf Englisch schmackhaft machen. Sie sprach gerne und häufig Englisch mit mir und das törnte mich immer ziemlich an. Aber dass sie beide viel häufiger kifften, als sie zugeben wollten und darüber überhaupt nicht mit mir redeten, störte mich. Im Haus rauchten sie nicht, das war klar, aber im Gartenschuppen, aus dem der markante Duft dann durchs gekippte Badezimmerfenster reinzog.

Als meine ersten Pflanzen reif waren, lud ich sie deshalb zu einem Joint ein. Es war Zeit für ein Sharing. Aber die beiden heuchelten mir was vor, angeblich müssten sie gleich los zu irgendwelchen Terminen und bevor sie abrauschten, wiesen sie mich an, doch auch besser im Gartenschuppen und nicht im Haus zu rauchen. Ich hielt mich dran, fand dort aber keinerlei Spuren von den beiden, nicht mal einen Aschenbecher, obwohl Sabine ja auch Selbstgedrehte rauchte. Meine Pflanzen in meinem Zimmer am großen Fenster zum Garten hin gediehen prächtig. Manchmal stellte ich sie in den Wintergarten, wo sie noch prächtiger gediehen. Doch als sich der intensive Geruch, den diese wundervollen Pflanzen im ganzen Haus verströmten, nicht mehr mit Salbei und Orangenduft wegräuchern ließ, kamen den verbeamteten Lehrern Sabine und Thomas dann doch Bedenken. Sie beschlossen, dass ich die Pflanzen besser auf den Dachboden ans geöffnete Giebelfenster stellen sollte. Dort war es eigentlich zu dunkel, aber was wollte ich machen.

Ich erledigte das an einem Nachmittag mit Sabine, Thomas war noch unterwegs. Als wir alle Pflanzen oben hatten, fing sie an, mit mir zu flirten. Meine geschärften Sinne für Zusammenhänge machten mir das schnell klar. Aber vielleicht war Flirten ja auch Erziehungsarbeit. Also versuchte ich, ihr zuzuhören, was mir eine nicht unerhebliche Fähigkeit beim Flirten zu sein schien. Entscheidend war, dass man sich ein bisschen was verriet, sonst funktionierte das nicht. Ich habe ja wohl doch mitbekommen, dass sie öfter auch hier im Haus mal einen kleinen Joint durchziehe und wie sehr sie mich bewundere für meinen gewissenhaften Umgang mit dem Thema. Ich fühlte mich durchaus geehrt und schlug vor, eine Hausarbeit in Bio über mein Cannabisprojekt zu schreiben, was Sabine aber schnell verhinderte. Das solle ich mir für später aufheben, wenn ich erwachsen sei und studiere. Ich war fünfzehn. Wie lange sollte man denn noch mit dem Studieren warten? Die Berliner Lehrer waren offenbar doch noch nicht ganz so weit. Jetzt jedenfalls wollte sie hier oben einen Joint mit mir rauchen und ich ließ mich breitschlagen. Als Dank bekam ich eine ziemlich erwachsene Umarmung und einen Kuss auf die Lippen. Körperlicher Kontakt zwischen uns war inzwischen selten geworden. Es war ja nicht ganz einfach, mit einer attraktiven Stiefmutter unter einem Dach zu wohnen, wenn man männliche Bedürfnisse hatte, für die man sich schämte.

Sabine mit ihren dunklen Haaren und ihrem dunklen Teint sah mir ein bisschen ähnlich. Ich mochte ihren Geruch und den Druck ihrer Brüste in der Umarmung. Sie hatte mich daran nuckeln lassen als Säugling, um mir das Gefühl zu geben, meine echte Mama zu sein. Ich habe sie aber wohl nicht besonders gemocht. Sie erzählte mir diese Geschichte bei zig Gelegenheiten und dann sollte ich ihren traurigen Blick aushalten. Ich konnte aber kein Mitleid für Sabine empfinden, dafür, dass sie keine Kinder bekommen konnte und mit mir Vorlieb nehmen musste. Denn mein Schicksal war härter als ihres. Wir waren eine Zweckgemeinschaft, mehr nicht und damit musste auch Sabine sich abfinden. Thomas kam damit wohl besser zurecht. Jedenfalls hat er nie mit mir darüber reden wollen, dass er nicht mein Vater war. Aber Sabine, das spürte ich, wollte mehr von mir, wollte, dass ich ihr richtiges Kind sei. Und je mehr sie das, was ich ihr nicht geben konnte, von mir verlangte, und alles in ihr verlangte danach, desto stärker verweigerte ich mich. Wir hatten also oft Streit und vergossen beide Tränen, nur um uns wieder versöhnen zu müssen, uns umarmen zu müssen, um die Schockwellen zu dämpfen. Und um uns Versprechungen zu machen, in Zukunft besser aufeinander aufzupassen und wenigsten ein paar Zärtlichkeiten und Berührungen zuzulassen, weil wir doch eine Familie sein wollten. Ich brauchte ihren Kontakt, denn mit Thomas hatte ich so gut wie keinen. Ich wusste überhaupt nicht, wie er sich anfühlte. Er hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit mir. Er war ein blasser, hagerer, schlaksiger Riese von knapp zwei Metern Länge und hatte etwas von einem misslungenen Versuch an sich. Er war stets um Haltung und ein wenig Eleganz in seinen Bewegungen bemüht, um nicht gleich lächerlich zu wirken. Wir passten einfach nicht zusammen, aber auch ihn mochte ich irgendwie, ein Irgendwie, über das ich mir zu oft den Kopf zerbrach. Ich kam an diesen seltsamen Riesen einfach nicht ran und hielt mich auch deshalb lieber an Sabine.

Sabine gab mir ihren Tabak und Blättchen. Ich versuchte, eine Zigarette mit ein bisschen Gras drin zu drehen, stellte mich aber ziemlich unbeholfen an. Ich bevorzugte nämlich Tees mit Gras und wenn ich es rauchte, dann nur aus einer kleinen Graspfeife ohne Tabak. Als ich sie zwischen meinen hektischen Fingern zerkrümelte und das Ding in den Mülleimer schmiss, wir hatten ja genug davon, reagierte sie fast ungehalten. Sie baute sich dann selbst aus drei Blättchen mit einer Geschicklichkeit einen Joint, die mich staunen ließ. Sie rauchte ihn fast alleine. Ich zog nur ein paar Mal kurz aus Höflichkeit. Ich sah die Angelegenheit durchaus wissenschaftlich und handelte verantwortlich. Sabine ging ziemlich ab. Sie sang, tanzte und flippte auf dem Dachboden herum und erzählte mir, so gehe es auch öfter in ihrer Frauengruppe ab. Und sie erzählte Witze, die ich nicht ganz verstand, weil man im bekifften Zustand automatisch vergaß, den anderen den Kontext, in dem man sich gerade über irgendwas kaputtlachte, zu vermitteln. Wie gesagt, ich war an dem Thema durchaus wissenschaftlich dran. Und schließlich setzte sie sich und fragte mich ganz direkt, ob ich nicht Lust hätte, den Anbau ein bisschen zu perfektionieren, nur so, für den Hausgebrauch. Thomas sei auch einverstanden, Thomas käme bei seinen Tai-Chi-Übungen mit ein bisschen was intus viel besser zurecht. Auch bei der Liebe tue ihnen ein bisschen Dope im Kopf ebenfalls ganz gut. Sie fänden es also viel besser, wenn sie sich aus eigenem Anbau versorgen könnten. Das Beschaffen läge ihr nämlich überhaupt nicht und Thomas erst recht nicht. Ich war natürlich einverstanden. Als Dealer hatte man immer ein ganz gutes Standing, aber ich würde daraus nie ein großes Ding machen. Ich war nicht zum Dealen gemacht, ganz anders als Mirko.

Ein paar Tage danach kam Thomas mit einem ziemlich großen Paket zu mir und wir bauten eine Homebox auf, ein kleines Gewächshaus aus weißem Polyestergewebe, ausgestattet mit Pflanzenlampen und einer kleinen Lüftungsanlage. Auf der Verpackung war ein hübsches Foto von dem Ding in Betrieb zu sehen, mit Tomatenstauden, Basilikum und Schnittlauch auf drei Ebenen. Ich musste es auf zwei Ebenen umbauen, aber sonst war es perfekt.

Das war die Zeit, als meine Welt in dem Haus in Lankwitz mit Sabine und Thomas unter einem Dach weitgehend in Ordnung war und ich die grundsätzlichen Umstände meines Lebens nicht weiter belastend fand. Ich begann, aus den Blüten Öl zu destillieren. In der Küche der Souterrainwohnung bastelte ich mir eine Destillationsanlage und praktischerweise stand dort auch die Gefriertruhe. Mit dem Öl machte ich intensive Versuche. Ich verdünnte es so lange mit Olivenöl, bis es endlich so subtil wirkte, wie ich es haben wollte.

Und dann lernte ich am Anfang der Sommerferien Annie kennen und alles änderte sich. Sie war nicht an meiner Schule in Lankwitz, sondern am Droste-Hülshoff Gymnasium in Zehlendorf und wollte später unbedingt Pianistin werden. Ich hatte sie beim Schwimmen in der Krumme Lanke kennen gelernt. Meine halbe Klasse war dort, aber Annie schien niemanden zu kennen. Sonst ginge sie eher zum Schlachtensee, behauptete sie. Wasser war mein Element und Annie schwamm auch wie ein Fisch. Ich schwamm die Krumme Lanke längs durch. Annie ließ sich nicht abhängen, sie versuchte sogar, mich zu überholen und lächelte mich triumphierend an, als sie auf meiner Höhe war. Dann schwammen wir synchron zum Ufer. Noch bevor wir an Land gingen, wussten wir, dass wir herausfinden wollten, wie das mit uns und dem Sex war. Das ging, wie wir beide gleich fanden, nur auf Basis einer echten Beziehung. Also verliebten wir uns. Mein erstes Mal mit Annie war ein voller Erfolg. Und dann verliebte ich mich richtig mächtig und echt in sie. Nach drei Wochen Liebe, auf der alles nochmal ganz anders war als auf Gras, wollte ich sie Sabine und Thomas vorstellen und kündigte sie stolz an. Annie war Lehrerkind wie ich – und wie sich herausstellte, die Tochter von Sabines Rektor. Sabine war total aufgeregt. Thomas sagte nicht viel, nur okay, du bist ja auch schon ziemlich weit, so körperlich und auch sonst. Und er brachte die Sache mit dem Kindermachen nicht zur Sprache, was ich ihm hoch anrechnete und wie eine Auszeichnung empfand. Natürlich musste er darüber nicht mehr mit mir sprechen.

Aber ich musste beiden schwören, alles, was auch nur im Entferntesten mit Cannabis zu hatte, auf den Dachboden zu befördern und die Stiege hochzuklappen, damit Annie gar nicht erst auf die Idee kam, dass ein Dachboden überhaupt existierte. Das habe mit der beruflichen Konstellation der beteiligten Erwachsenen zu tun, erklärten Sabine und Thomas sehr sachlich. Und bevor sie endgültig ja sagten, schaute Sabine mir eine Ewigkeit lang in die Augen. Ich war mir sicher, sie tat das nur, um herauszufinden, dass ich Annie nichts über die Cannabisgärtnerei und schon gar nichts über ihren inzwischen recht unbekümmerten Konsum ausgeplaudert hatte. Und als sie sich sicher war, fragte sie mich auch ganz unschuldig. Ich hatte, seit ich Mirko nichts mehr abkaufen musste, mit niemandem darüber gesprochen, auch mit Mirko nicht und Mirko dachte wohl, ich sei völlig clean.

Drei Tage bevor Annie kommen wollte, fing Sabine an, das Haus zu putzen, mit einem Eifer, als käme der Kultusminister mit Amtskollegen aus ganz Europa persönlich zu Besuch. Sie backte sogar einen Erdbeerkuchen und als Annie dann Audienz bei ihr hatte, bekam ich einen ersten Eindruck als persönlich Betroffener davon, wie es war, wenn Mütter und ihre potenziellen Schwiegertöchter um die Gunst des Prinzen rangen, um die Macht im Beziehungssystem. Sie unterhielten sich über die Pet-Shop-Boys, Franziska van Almsick und H&M, aber das war nur verschlüsselt. In Wirklichkeit sprachen sie über Eifersucht und Mordphantasien oder über einen generationsübergreifenden Dreier in Form einer religiösen Handlung, das hing ganz von der Perspektive ab. Ich hatte sehr eigenartige Gedanken, als ich die beiden beobachtete. Ohne Annie wäre es vielleicht gut ausgegangen mit Sabine, aber was konnte man im Nachhinein schon sagen. Natürlich war Sabine hin und weg von Annie. Bei Annie spürte ich Respekt in der Art, wie sie sich sehr gekonnt mit Sabine unterhielt, sogar über Schulpolitik. Dabei blieb sie superhöflich und artig wie ein sehr erwachsenes Kind. Annie war zwei Monate älter als ich und wirkte wohl schon sehr reif, obwohl sie ziemlich klein war und mir nur knapp über die Schulter reichte. Sie war sehr schlank und ihre Brüste waren klein und ziemlich flach. Genau deswegen fand ich sie sehr aufregend. Sie wirke schon wie eine richtige Studentin, behauptete Sabine, nachdem sie gegangen war. Sabine betrachtete mich nach dem Besuch mit anderen Augen, distanzierter, aber auch genauer. Ich genoss das, fühlte mich als Mann akzeptiert, nicht bloß als Schablone, aus der ich erst noch als einer hervorzugehen hatte. Sabine nahm mich ab jetzt wohl auch ein bisschen als Gefahr wahr, was wohl zum Mannsein dazugehörte. Sie nahm mich jetzt ernst.

Mein Glück mit Annie währte nach ihrem Besuch aber nur noch kurze Zeit, exakt bis zum Ende der Sommerferien. So plötzlich wie sie in meinem Leben aufgetaucht war, war sie wieder weg, abgetaucht und für immer verloren. Nicht mal am Schlachtensee, den ich in den schweren und viel zu sonnigen Tagen nach ihrem Verschwinden täglich mindestens zweimal mit dem Fahrrad nach ihr absuchte, fand ich sie. Ich wusste nicht, wo sie wohnte und nie im Leben hätte ich Sabine angebettelt, über ihren Vater ihre Adresse rauszukriegen. Es war auch gar nicht ganz klar, ob sie noch Kontakt zu ihm hatte, denn der war anscheinend recht frisch von der Familie getrennt und weggezogen.

Liebeskummer erlebte ich zum ersten Mal. Es war schlimmer als sterben, das stand jedenfalls fest. Vor dem Tod musste man sich nicht mehr fürchten, wenn man eine große Liebe verloren hatte und es überlebte. Ich versuchte mich abzulenken und arbeitete mich am Quellcode von Windows 95 ab. Ich ging kaum noch vor die Tür und aß nichts, auch nicht die belegten Brote, die Sabine mir in meine Zelle brachte. Ich trank Wasser mit ein paar Tropfen Cannabisöl, was aber nicht viel bewirkte. Sämtliche Endorphine produzierenden Einheiten hielten einen wochenlangen Generalstreik durch. Da halfen auch keine Drogen. Am Tag drei oder vier nach Annies brutaler Trennung kam Sabine abends in mein Zimmer und versuchte, mich zu trösten. Sie setzte sich auf die Bettkante und buhlte darum, meine beste Freundin sein zu dürfen. Und das gelang ihr ziemlich einfach. Sie war barfuß, trug ein zitronengelbes Sommerkleid, keinen BH und gab sich mädchenhaft.

Früher hatte ich mir meine Phantasien an Sex mit ihr verboten und mich ihrer geschämt, doch seit ich mit Annie echten Sex erlebt hatte, ziemlich guten, intensiven Sex, gefielen mir die Gedanken, wie es wohl mit Sabine wäre. Die Mutter erotisch zu begehren sei eine ganz natürliche Episode, hatte Thomas mir sogar erläutert und dabei wohl, von trockener Theorie getrübt, übersehen, dass seine Frau nicht meine Mutter war. Ach ja, und das gelte natürlich in beide Richtungen, hatte er augenzwinkernd gescherzt und sah offenbar den Baum vor lauter Wald nicht. Sabines Bedürftigkeit erregte mich. Dass sie mit Thomas schon länger nicht mehr schlief, war mir längst durch den gereizten Ton im Haus aufgefallen. Auch aßen wir immer seltener zusammen. Sie hatte was geraucht. Ich sah es ihr an. Sie kicherte und benahm sich wie eine Sechzehnjährige. Sie legte es darauf an, gevögelt zu werden. Ich machte es mit ihr, im Kleid, sie trug kein Höschen, es war lustig, so wie Flaschendrehen, wir kicherten und hatten Sex und ich glühte in ihr, stand aber nicht wirklich in Flammen. Sie hätte es schnell beenden, es bei einer Irritation belassen können, aber sie verlor komplett den Verstand. Sie wurde völlig willig, schälte mich aus meinen Klamotten und sorgte dafür, dass ich in ihrem Mund explodierte, wobei sie mich mit hochrotem Kopf betrachtete. »Das war nicht gut«, stammelte ich weinend zwischen ihren Brüsten – und dass sie es da nicht endlich beendete, war noch weniger gut. »Alles ist gut. Du wirst Annie schnell vergessen«, flüsterte sie und streichelte meinen Kopf wie eh und je. Wäre sie da gegangen, hätte ich mich wohl mit dem Whisky aus dem Schrank unten betrunken. Die Flasche wartete dort seit ewigen Zeiten auf einen angemessenen Anlass. Aber sie versuchte, mich für einen zweiten Durchgang zu erregen und ich ließ sie gewähren. Doch dann flog mir die Sicherung raus. Ich sprang auf und ohrfeigte sie. Sie schrie nicht, sondern lachte und ich schlug sie wieder und sie lachte oder weinte oder beides zugleich und ich schlug sie noch ein paar Mal und schließlich zog sie ab und ich schloss die Tür hinter ihr zu.

Ich holte mir einen runter auf die Erinnerungen an Annie und um das, was ich mit Sabine gerade erlebt hatte, zu überblenden. Ich verrieb mein Sperma über meinen Bauch und rubbelte es wieder weg, als es festgetrocknet war. Ich fühlte mich von mir selbst entkoppelt, wie ein abgkoppeltes Zugabteil, das langsam ausrollte. In Wirklichkeit hatte ich mich von Sabine entkoppelt. Irgendwann raffte ich mich auf, flitzte ins Bad und duschte eine halbe Ewigkeit. Dann ging ich runter und durchs Wohnzimmer in die Küche. Sabine kauerte mit Mickymaus-Kopfhörern über den Ohren auf dem Sofa wie eine fette alte Katze. Auf dem Glastisch stand eine leere Flasche Rotwein. Ich packte Brot, eine Schachtel Camembert und drei Flaschen Sprudel ein, huschte wieder hoch, schloss mich ein, aß die Brote, saß kauend am offenen Fenster, starrte in den schmutzigen Berliner Nachthimmel und versuchte, die Zukunft zu verstehen. Als es anfing zu dämmern und die Vögel zu zwitschern begannen, kroch ich erschöpft ins Bett und schlief bis mittags. Als ich aufwachte, hatte ich ein bisschen Hoffnung. Draußen schien die Sonne durch die freien Stellen zwischen trägen, grauen Wolken, die hier und da Regen fallen ließen, als wären sie gelangweilte Gärtner, die aufgegeben hatten zu überlegen, wo es sich nach dem heißen, trocken Sommer Ende August noch lohnen könnte zu gießen. Ich ging nach unten und fand mich allein im Haus. Das Wohnzimmer und die Küche waren pikobello aufgeräumt.

Ich rief Mirko an. Wir trafen uns am Strand der Krumme Lanke.

»Hey Alter, erzähl das sonst niemandem, ja. Mir kannst du alles sagen. Sogar, wenn du jemanden umgebracht hast oder so, ja?«, sagte Mirko, der meine Geschichte aufsog wie Löschpapier. Als ich mit erzählen fertig war, umarmte Mirko mich. »Hey Alter, Kiffen ist Scheiße. Ich kiff schon lange nicht mehr. Komm mit zum Boxen Alter, ich box schon wie ein Weltmeister.« Ich war überrascht. Das hatte ich überhaupt nicht mitbekommen. »Warst halt mit den Muschis beschäftigt.«

»Wichser!«, sagte ich.

»Motherfucker!«, sagte Mirko, grinste kurz und schlug mir die Faust auf den Solarplexus. Ich sah Sterne, schnappte nach Luft und schlug zurück. Ich traf Mirko in den Magen und er ging zu Boden und machte ein Riesentheater. Ich beugte mich über ihn. Mirko reichte mir die Hand und sprang sofort auf, als ich sie berührte. »Hey Alter, du bist vielleicht drauf! Vergiss den Scheiß, Motherfucker!« Ich haute Mirko gleich noch eine rein, traf aber nur Mirkos brettharten Bauch. »Mannomann Alter, du bist vielleicht drauf!«, stöhnte Mirko, fackelte nicht lange und landete eine Rechte, wieder auf meinem Solarplexus. Ich ging zu Boden. »Motherfucker! Vergiss den Scheiß, Alter!« Ich stand auf und schlug mir den Sand aus den Klamotten. Sabine war eine alte, kranke perverse Hure, die zu feige war, sich einen geilen Stecher zu suchen und ein aufregendes kinderfreies Leben zu führen. Sabine war für mich gestorben.

Sabine hatte ein blaues Auge. Wenn sie rausging, trug sie eine pechschwarze Sonnenbrille. Im Haus nahm sie sie ab. Thomas sagte sie natürlich nur die halbe Wahrheit. Erzählte von einer Auseinandersetzung, die nie wieder vorkommen dürfe. Es gäbe ja wohl schon länger Spannungen. Ich sei seit einem Dreivierteljahr sechzehn, sehe aber aus wie achtzehn und sei ein Mann, ob ihm das überhaupt aufgefallen sei. Dann wickelte sie ihn ein mit Ausführungen über Privatsphäre und Erwachsenwerden und – ich traute meinen Ohren nicht – über Sex, Respekt und Verantwortung. Schließlich fiel das Wort Keller. Ich hörte ihnen von der Küche aus zu und jetzt zitierte Sabine mich ins Wohnzimmer, um was zu besprechen. Es war das erste Mal, dass wir uns seit der Sache in die Augen schauten. Die Pädagogin schaute mich an, als beginne jetzt der Ernst des Lebens. Es war lächerlich, aber wir kamen zu einer Lösung. Wir beschlossen, dass ich in die Kellerwohnung ziehen würde. Ich hatte mir das auch schon überlegt, die Küche mit meinem Destilliergerät war ohnehin schon seit längerem mein Lieblingsort. Nachdem die Möglichkeit, jemals wieder so etwas wie eine Familie sein zu können, zerstört war, gingen wir alle drei nach unten und begannen aufzuräumen.

Die Kellerwohnung war meine Rettung. Ohne sie hätte ich mich wahrscheinlich umgebracht, nicht heldenhaft, sondern in kleinen Dosen. Es gab einen eigenen Zugang über eine Außentreppe. Ich musste nicht mal durch die Wohnung und konnte den beiden völlig aus dem Weg gehen. Sie ließen mich auch wirklich völlig in Ruhe. Ob Thomas jemals die ganze Wahrheit erfasst hatte? Die beiden stritten jetzt noch häufiger. Thomas schrie ab und zu, das war völlig neu. Und irgendwann war Sabine weg. Manchmal brachte Thomas Freunde mit nach Hause und feierte mit ihnen. Auch das war neu. Thomas hatte eigentlich keine Freunde, nur Kollegen, die nur kurz blieben, aber nie mit ihm feierten. Sie saßen im Garten am Lagerfeuer, redeten, spielten Gitarre und luden mich ein, mich zu ihnen zu setzen, aber das lehnte ich stets ab. Thomas erklärte mir, als wir uns zufällig über den Weg liefen, das seien Freunde aus seiner Männergruppe und wollte mit mir darüber reden, wie sehr er sich schon verändert habe. Aber ich ließ ihn stehen. Ich hatte nach der Sache mit Sabine keinerlei Lust mehr auf derartige Gespräche. Ich hatte Mirko und ging mit ihm zum Boxen. Und verdiente mit Mirko gutes Geld mit meinem Cannabisöl, das er verkaufte. Ich lebte sparsam und sparte für meinen Auszug nach dem Abi. Hin und wieder hatte ich Mädchen, meistens ältere, die wie ich Spaß haben wollten. Im Grunde waren sie alle gleich. Ein bisschen Sabine, ein bisschen Annie, ein bisschen was Neues. Ich konnte mir nicht vorstellen, mich jemals wieder in eine zu verlieben. Thomas erzählte mir irgendwann, Sabine sei nach Kreuzberg gezogen. Es wäre der Moment gewesen, über die Sache zu reden. Ich spürte, dass Thomas Bescheid wusste. Aber Thomas sprach das Thema nicht an, er redete nur über die Probleme, die er mit ihr hatte, über ihre Forderungen. Ich ging ihm noch mehr aus dem Weg. An meinem achtzehnten Geburtstag kam er runter zu mir. Ich hatte nicht vor, mit ihm zu feiern. »Gibt ne kleine Überraschung«, sagte er und ich willigte schließlich ein. Wir fuhren nach Steglitz in eine Werkstatt. Der Typ dort war einer aus Thomas’ Männergruppe. Er verschwand kurz auf dem Hof und fuhr dann mit einem schwarzen Peugeot 205 vor. »Dein Geschenk«, sagte Thomas knapp. Es war das letzte Mal, dass wir uns kurz umarmten und beide Tränen in den Augen hatten. Ich legte kurz darauf ein Abi mit 1,7 ab. »Melde dich mal ab und an«, sagte Thomas, als ich ihm den Schlüssel vom Haus gab und mich mit meinem vollgepackten Wagen auf den Weg nach München machte. Ich hielt mich daran und schrieb manchmal Postkarten, später gelegentlich kurze Mails. 2008 eröffnete Thomas mir in einer längeren E-Mail, dass er Bauchspeicheldrüsenkrebs habe. Ein paar Wochen später verstarb er und ich schaffte es nicht zu seiner Beerdigung. Er vererbte mir vierzigtausend Euro.

Schon vorher war Mirko vollkommen aus meinem Leben verschwunden, einfach so. Er hatte das Abi nicht hinbekommen und sich einfach aus dem Staub gemacht. Ich hätte ihn durch die Prüfungen gezogen und geschoben wie einen störrischen Esel über die Pässe der Pyrenäen, wenn er nur einmal was gesagt hätte. Ich vermisste ihn zum ersten Mal seit damals und fragte mich, was aus ihm geworden war.

Ich ließ den Wagen an und fuhr zum Schiefen Zahn, parkte an der gleichen Stelle wie damals und nahm meinen Rucksack aus dem Kofferraum. Ich steckte die zwei Wasserflaschen in die Seitentaschen, hängte mir das Fernglas um und marschierte los. Alles war noch so, wie ich es in Erinnerung hatte, nur noch viel verwunschener. Ich stieg die seitliche Flanke zu dem Sattel hinauf, der den Schiefen Zahn ans Massiv band. Ich hatte Mühe, auf dem rutschenden Geröll voranzukommen. Der Sattel war weiter erodiert und irgendwann würde der Schiefe Zahn kippen. Die Bäumchen oben auf dem Plateau waren immer noch recht klein, hatten aber dicke Stämme und ein ausladendes Blätterdach ausgebildet, richtige Solarfänger aus Blattgrün. Unter diesem grünen Dach richtete ich mich ein. Der Himmel im Westen leuchtete orange in der tief stehenden Sonne. Ein dünner violetter Streifen am Horizont verband Himmel und Erde. Dann wurde es langsam dunkel und die Sterne begannen zu leuchten. Ich schlief nicht, bis auf ein paar Minuten vielleicht, in denen ich erschöpft einnickte und gleich wieder aufwachte, denn der Himmel, die Sterne, die Gerüche und Geräusche, waren es wert, die Nacht zu durchwachen. Hin und wieder flog mich das Fieber an, in Wellen, die mir erträglich schienen.

Mit der Morgendämmerung verließ ich das Plateau und fuhr zurück ins Haus. Als ich nach dem Duschen Fieber maß, hatte ich etwas über 38 Grad. Ich nahm zwei Ibuprofen und versuchte, bis gegen zwölf zu schlafen, aber es gelang mir nicht. Der Faden, an dem ich über dem Abgrund des Schlafes baumelte, wollte nicht reißen. Gegen zwei machte ich mich auf zum Flughafen. Mit der S-Bahn waren es nur ein paar Stationen. Alice hatte sich nicht mehr gemeldet. Aber man meldet sich auch nicht an seinem Geburtstag bei dem Menschen, der einem ein Leben lang Liebe und Treue vor einem Standesbeamten, engsten Verwandten und der allerbesten Freundin versprochen hat. Ich brachte es nicht über mich, sie anzurufen, nicht mal, ihr einen kleinen Text oder wenigstens eine originelle Animation zu schicken. Einen Happy Birthday singenden Mäusechor hatte ich gespeichert, aber es schien mir die unpassendste Geste überhaupt zu sein. Ich stellte das Telefon auf Flugmodus und begab mich in die Businesslounge der Emirates. Hier war meine Einsamkeit erträglich. In Flieger, im komfortablen Sitz in der Business-Class, fühlte ich mich sogar geborgen. Ich wurde von lächelnden Stewardessen bedient, aß Filet Mignon und trank drei oder vier Gläser Burgunder, auch weil ich hoffte ein wenig schlafen zu können. Als das nicht gelang, schaute ich mir Inglourious Basterds von Quentin Tarantino an. Ein bisschen fühlte ich mich, als hätte ich selbst Geburtstag. Doch je länger der Flug dauerte desto erschöpfter und nervöser wurde ich. Die Nachwirkungen des Alkohols hätte ich nur mit noch mehr Alkohol vertreiben können, aber das kam nicht in Frage. Ich wäre gewiss nicht der einzige, der sich auf einem Interkontinentalflug betrank, aber ich hatte Angst vor einem Kontrollverlust.

LANDEBAHN

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