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Zukunft

Am Tag nach dem Gespräch mit Brauer lud Richard mich in sein Büro ein. Er wollte mit mir über einen Vortrag in Berlin zum Thema Zukunft sprechen. Er wusste von der Sache natürlich schon länger, sprach aber erst jetzt, vier Tage bevor die Veranstaltung stattfinden sollte, mit mir darüber. Ich hatte gleich das Gefühl, dass ich konsequent hätte Nein sagen sollen, denn Vorträge halten war überhaupt nicht mein Ding.

»Welche Zukunft?«, fragte ich. »Meine, deine, unsere, die der Menschheit, die des Planeten oder die des Universums? Gibt es überhaupt so etwas wie Zukunft oder träumen wir da nur von einer besseren Gegenwart? Genauso gut könnte man über die Existenz Gottes spekulieren. Geht’s nicht ein bisschen kleiner und konkreter?«

Richard nahm seine Brille ab, kratze sich im Bart, setzte sie wieder auf und überließ sich seinen sprechenden Gedanken.

»Super, Carl, ganz genau. Die Zukunft hat auch eine spirituelle Dimension, ist vielleicht die spirituelle Dimension überhaupt. Sprich da ruhig über Gott – nein, besser über das Göttliche, sonst denken alle gleich wieder an den weißen Mann mit Bart, den mit dem Finger beim Techtelmechtel mit Adam. Aber viele stellen sie sich inzwischen lieber als große schwarze Göttin vor. Außerdem ist Gott für viele längst tot.

Da muss uns was Besseres einfallen.«

Richards Blick schien mir mittelalterlich verklärt nach innen und oben gerichtet. Er lächelte entzückt, vermutlich visualisierte er das Gewölbe der sixtinischen Kapelle. »Du weißt, was ich meine?« Ich verzog den Mund. Wie konnte Richard annehmen, dass ich das nicht wüsste. Richards Überheblichkeit tat mir manchmal weh wie verdrängte Karies. »Das war – lass mich nachdenken – Michelangelo?« Richard grinste. »Ja klar, aber das meine ich nicht. Sprich über Zukunft und Spiritualität. Das ist konkreter.«

Richards Vorschlag, ein zu großes Thema durch ein noch größeres eingrenzen zu wollen, machte mir Angst. Ich schaute instinktiv zum Fenster, dem Loch in der Wand, die Verbindung nach draußen. Richard beugte sich vor, stützte die Unterarme auf seinen Schreibtisch, faltete die Hände und betrachtete mich. Nein, er betrachtete mich nicht nur, seine munteren Augen fotografierten mich, seine Lider schnappten im Zehntelsekundentakt auf und zu und sein Kopf ging dabei mit, fokussierte meine Augen, Brust, Arme, Hände. Er hatte etwas von einem neugierigen freundlichen Vogel. Ich liebte ihn für diesen Blick und lächelte.

»Ich bin kein Speaker. Ich bin keiner und ich will auch keiner werden. Die vielen Leute, die anonyme Masse, die und die Bühne, ich da oben, die da unten. Das geht gar nicht. Das ist überhaupt nicht meins. Das macht mir Angst. Ich brauch‘ den kleinen Kreis, muss meine Leute kennen lernen, ein bisschen wenigstens und du weißt das auch. Das ist nichts für mich. Fahr du da hin. Ich kann so was nicht, echt nicht«, sagte ich flehend.

Richard bot mir Wasser an. »Mit oder ohne?« »Mit.« Richard schenkte mir ein und ich griff gleich nach dem geriffelten Glas. Auch ein Angstreflex. Ich suchte haptischen Halt. »Man sollte viel öfter was in der Hand haben, nicht nur Handys. Wir sind Greifer und brauchen noch was anderes. Am besten was Funktionsloses«, sagte ich schwach.

Richard schaltete in den Coaching-Modus, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinterm Kopf, lächelte und sagte, mindestens eine Oktave tiefer gestimmt: »Alles gut, du hast ein bisschen Angst und das ist völlig okay. Aber hör dir einfach selbst zu. Angst, Greifen, Funktionslosigkeit. Super Assoziationsketten. Du machst mich neidisch. Wie einfach es dir fällt, aus dem Nichts heraus über was X-Beliebiges zu improvisieren. Genau das wollen die. Einen authentischen Menschen beim Denken erleben, dem einfach was Geistreiches einfällt. Die wollen keine aalglatte Performance. Ja, ich kenne deine Vorliebe für kleine Gruppen, aber wir wachsen, Carl, und die etwas größere Bühne wartet auch auf dich. Jeder ist ein Speaker, Carl, in dem Sinne, wie auch jeder ein Künstler sein kann. Wirst sehen, du wirst daran wachsen, wirst vielleicht eines Tages noch ein richtiger Bühnenpunk.« »Ich kann aber nicht auf Knopfdruck liefern und in so einer Situation schon gar nicht«, antwortete ich.»Ganz genau. Nicht auf Knopfdruck, nicht auf Befehl. Eher wie beim Segeln und Surfen. Du surfst einfach die Gedanken ab, die dir aus deiner inneren Quelle zufließen…« »Zufließen, innere Quelle, wovon sprichst du?« »… oder zuwehen, was weiß ich, aus deiner Mitte, das, was aus deinem Inneren kommt – feurig, wässrig, luftig, leise, laut, zäh, dünn, dick – keine Ahnung, wie das bei dir funktioniert. Ich kümmere mich bei mir nicht so um die Feinheiten.«

»Schon in Ordnung, komm zur Sache.«

Richard nahm eine gerade Haltung ein:»Der Punkt ist, Carl, niemand hat heutzutage mehr Lust, sich vorgestanztes Zeug live anzuhören. Man will dabei sein, wenn was wirklich Neues entsteht, teilhaben am kreativen Akt. Das hat schon was Spirituelles an sich, finde ich. Du kannst ruhig was riskieren. Es sind nur zwanzig Minuten, Carl. Schenk ihnen und schenk vor allem dir selbst zwanzig Minuten freien geistigen Fall. Ein kleiner Sprung ins Leere und dann: Wusch! Dein Geist breitet seine Schwingen aus und du fliegst. Wusch! Und dann kommt‘s dir. Inspiration, Wahrheit, Vision. Die reine Offenbarung, Carl, die Schwingen, auf denen wir in die Zukunft segeln. Das ist doch Spiritualität, oder etwa nicht?«

Ich war noch mit der inneren Quelle beschäftigt: »Innere Quelle? Quellcode: Vom Anfang der Programme. Aber Spiritualität? Eher schwierig. Ich weiß nicht, was das sein soll. Spirit? Geist…« Richard notierte was in sein Notizbuch und ich schaute den Kohlensäurebläschen zu, wie sie aus meinem Glas sprangen und sich in Luft auflösten.

»Um Punkt soundso viel Uhr auf einer Bühne stehen und abliefern –genau das meine ich mit: auf Knopfdruck. Das ist echt nichts für mich. Ich arbeite lieber mit einem Plan«, sagte ich.

»Vielleicht so wie gestern mit Brauer?«, fragte Richard scharf. Mein Gespräch mit Brauer war ein Misserfolg. Das wusste ich selbst. »Du erwartest doch hoffentlich keine Wunder. Wir sind Berater, Richard, keine Magier«, entgegnete ich. Seine Stimme wurde sofort wieder sanft, als er fortfuhr. »Schon gut, vergessen wir Brauer. Der wird sich schon noch fügen. Ich brauche dich für Berlin. Sieh das als Chance. Und come on. Du bist doch aus Berlin. Keine Sehnsucht, da mal wieder vorbei zu schauen?«

Ich dachte die ganze Zeit schon an Berlin, hatte aber keine Lust, die Stadt, in der ich aufgewachsen und wohl auch zur Welt gekommen war, wiederzusehen. Schon gar nicht bei so einer Gelegenheit. Und schon gar nicht am letzten Wochenende, bevor ich nach Indien musste. Ich stand auf und ging zum Fenster. Draußen war Sommer. Richard schaute kurz. »Ja, herrliches Wetter, richtig Sommer. Wir sollten rausgehen in die Biergärten, aber ich schaffe es heute wohl auch wieder nicht im Hellen.«

»Es wird erst um elf Uhr dunkel«, sagte ich. Richard ging nicht darauf ein und vertiefte sich in sein Notizbuch.

»Und wenn ihr eure Reise um ein paar Tage verschiebt und du die Sache doch selbst übernimmst?« Anlässlich seines ersten Hochzeitstages mit seiner Frau Maren, hatte er eine Reise nach Florenz am kommenden Wochenende vor. »So wichtig ist das Datum doch nun wirklich nicht.«

Richard seufzte. »Florenz kann ich definitiv nicht verschieben. Wir mussten schließlich letztes Jahr schon unsere Flitterwochen auf kümmerliche drei Tage beschränken. Maren ist da ziemlich empfindlich.« Alice und ich mochten Maren nicht besonders, weil sie in ziemlich vielen Angelegenheiten ziemlich empfindlich war.

»Und ich habe Alice versprochen, wenigstens an diesem Wochenende da zu sein, wenn ich schon an ihrem Geburtstag nach Indien fliegen muss. Sie freut sich schon riesig. Wir wollen wandern im Karwendel. Wenn ich nicht nach Indien müsste, dann vielleicht. Wenn ich mich vorbereiten könnte, wenn ich mehr Zeit hätte, dann vielleicht, aber so, wie die Dinge liegen …« Richard schaute übertrieben mitleidig und ich musste über seinen vielsagenden Gesichtsausdruck lachen. »Wenn, wenn, wenn. Und Indien, ja, ja, ja. Du fliegst in anderthalb Wochen, stimmt’s?« Ich nickte lobend. Richard stand auf. »Ich brauch jetzt ‚nen Cappu und dann rufe ich in Berlin an und sage denen, dass wir nicht können, weil wir nach Florenz, in die Berge und nach Indien müssen und wir Alices Geburtstag feiern müssen.« Das konnte Richard nur ironisch meinen. Richard nahm mir schon ab und zu einige meiner Verpflichtungen ab, wenn es sich einrichten ließ. Eine Hand wusch die andere. Ich seufzte, stieß mich vom Fensterbrett ab und spürte die Druckstellen an meinem Hintern. Richard klopfte mir anerkennend auf die Schulter.

»Du machst das schon. Brich das Thema runter und mach dir ein paar gute Slides. Ich schicke dir die nächsten Tage noch ein bisschen Input.«

Ich fühlte mich einigermaßen beruhigt. Wir trotteten zum Kaffeeautomaten. Das Ding zischte und brodelte wie die Fabriken in England vor zweihundert Jahren. Ich verbrannte mir die Zunge an dem viel zu heißen Gebräu. Wenn die Sache mit Indien erledigt war, würde ich diesen Steampunk dem Deutschen Museum andrehen und einen Automaten entwickeln, der mundgerechten Kaffee gegen ein freundliches, mindestens fünf Sekunden dauerndes Lächeln kochen konnte.

LANDEBAHN

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