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Nina & Helle & der Bahnhof Zoo
ОглавлениеIch saß in meinem gemütlichen Wipp-Sessel, den dumpfen Signalhörnern in der Ferne lauschend. Bald schon würde der »kleine« Lutz, der jetzt immerhin schon zweiundzwanzig war, zu einem mehrwöchigen Besuch zu mir kommen. Die Clausewitzer, meine liebenswürdige Ex Doro, ihre Busenfreundin Elke, die ich sehr mochte, und die mich stets mit aktuellen Nachrichten aus Italien versorgte, und ich – wir alle hatten den Jungen 1973 als sechzehnjährigen „Kleinen“ unter unsere WG-Fittiche genommen. Er war bei seiner alleinerziehenden Mutter ausgebüxt. Sie hatte vor einiger Zeit hier in Frisco angerufen und mich gefragt, ob ich ihrem Sohn wegen seiner verrückten Berufswünsche den „Kopf gründlich waschen“ könne.
„Seefahrer, Leichtmatrose – das ist doch nichts für meinen sensiblen Lutz!“
Auf mich würde er doch hören. Ihre Worte seien bisher wirkungslos verpufft.
Ich hatte unbedachter Weise zugesagt.
Während mich das vage Gefühl von Heimweh ruhelos hin und her wippen ließ und ich damit nicht aufhören, musste ich noch einmal an Doro denken. Sie hatte ein soziales Herz, was uns stets verbunden hatte. Sie trat mit all ihren Fähigkeiten und mit ganzem Herzen für diejenigen ein, deren Not ersichtlich war. Sie hatte mir bereits vor meiner Abreise berichtet, wie sie sich um Nina, die blutjunge Freundin von Lutz, kümmerte.
Hintergrund dazu war ihr Sozialpraktikum. Es gab ihr in der Szene eine gewisse Autorität, zumal man dort die blonde, langhaarige und unkonventionelle Doro in ihren modernen knöchelfreien, leicht ausgestellten Jeans als unbürokratisches, hilfsbereites Gutherzchen zu schätzen wusste. Einigen Fixern war Doro zu bürgerlich und modernistisch, und doch war es wohl gerade das, was sie faszinierte: Eine aus dem fortschrittlichen und doch so verhassten Bürgertum scheute sich nicht, sich zu ihnen, den heruntergekommenen Outlaws, zu gesellen und sich ihrer Probleme anzunehmen. Keiner von ihnen wusste von Doros politischer Weltanschauung. Politik interessierte Junkies nicht.
Nina war vor einem Jahr, als sie am Bahnhof Zoo langsam in den Heroin-Sog geraten war, gerade einmal vierzehn Jahre alt gewesen. Jetzt war sie fünfzehn. Lutz kannte seine junge Nachbarin vom gegenüberliegenden Wohnblock und vom städtischen Jugendtreff, wo er ihr fast täglich begegnete. Sie gingen nicht fest miteinander; er war eher ihr Beschützer. Lutz war Ninas sieben Jahre älterer „Außen-Anker in der realen Welt der Kälte“, wie Nina es einmal so klug umschrieben hatte. Bei ihr konnte unser Kleiner der Große sein. Das Gute an dieser Verbindung war, dass Lutz niemals zu Drogen gegriffen hatte und auch nicht in Versuchung gekommen war.
Eigentlich war er das ideale Vorbild für Nina. Er fand, dass es mit der Liebe nicht gut zugehen konnte, wenn man zugedröhnt war. Er stand bedingungslos auf der Seite der Liebe. „Dope und Liebe vertragen sich nicht“, war sein Statement. Aber Ninas Sucht war bereits viel zu ausgeprägt.
Für Nina hatte er Mitleid empfunden und versucht, sie aus dem Sumpf zu befreien. Es war ihm nicht gelungen. Das lag an Ninas intimem Freund, der schon lange vor ihr zur H-Szene, wie man die Heroin-Szene kurz nannte, gehört hatte. Er hieß Helmut und sein Nickname war Helle. Beide verkehrten im Sound, einer Diskothek in der Genthiner Straße im Westberliner Bezirk Tiergarten. Nina war beeindruckt von »Europas modernster Disco« mit diesen einmaligen Laserprojektionen, der Nebelmaschine und dem professionellen Video-Aufzeichnungsgerät – Dinge, die es in keiner anderen Berliner Disco gab, noch nicht einmal im Big Eden, das dem schwerreichen Playboy Rolf Eden gehörte. Im Sound versorgte sich Nina mit Haschisch. Sie war anfangs nicht mehr als eine kleine Hascherin, wenn auch mit dreizehn, vierzehn Jahren viel zu jung.
Doro hatte in zig vertrauensvollen Gesprächen mit Nina herausgefunden, dass sie keines jener armen Mädchen war, die von einem bösen Fixer oder Dealer bewusst angefixt worden war, wie man es immer in der Zeitung las.
„Die meisten Jugendlichen kommen ganz allein zum Heroin, wenn sie so reif dafür sind, wie ich es war“, sagte Nina. Sie war eine durchaus ehrliche Haut und erkannte ihren Tanz auf dem Vulkan, sagte mir Doro später. Sie hatte eine Art Tagebuch über Ninas und Helles Leben in der Dope-Szene und auf dem Babystrich verfasst. Ich konnte es später lesen und war erschüttert.
An jenem Abend als ich in Frisco meine Arbeiten für das Forschungsvorhaben „Privacy and Freedom of Information Act“ vorbereitete, wollte Nina mit Helles Freund Kalle zu dem bei den Teenies »total angesagten« David-Bowie-Konzert in Westberlin gehen. Das war in ihrer Vorstellung das bedeutendste Ereignis ihres Lebens. Darauf wollte sie sich gut vorbereiten. Helle hatte von seinem Vater ausgerechnet an diesem Abend Ausgehverbot erhalten, aber dafür stand Kalle bereit. Er war Helles bester Freund. Kalle war in Ninas Augen ein taffer souveräner Fixer, den nicht nur sie, sondern viele Mädels aus dem Sound wegen seiner coolen Fixer-Mentalität bewunderten.
Während ich also In Frisco über meiner Arbeit brütete, traf sich Nina mit dem spindeldürren Kalle am Hermannplatz, um auf das Konzert zu gehen. „Du bist verdammt dünn“, sagte sie.
„Ich wiege immerhin noch 63 Kilo. Habe mich gerade beim Blutspenden gewogen.“
Kalle verdiente sich einen Teil des Geldes für sein Dope mit Blutspenden, wofür man alle vier Wochen antreten durfte und wofür es sagenhafte vierzig Mark gab. Obwohl ein vierwöchiger Rhythmus medizinisch unverantwortlich war und obwohl Kalle blass wie ein Todgeweihter und seine Venen total zerstochen waren und Fixer ja nicht unbedingt Gelbsuchtfrei waren, nahmen sie ihn immer wieder zum Blutspenden.
Als die beiden in der U-Bahn saßen, fiel Nina ein, dass sie ihr Valium zu Hause vergessen hatte. „So ein Kack, ich wollte es mitnehmen, falls ich beim Konzert durchdrehe.“
Sie hatte allerdings heimlich, ohne dass ihre Mutter es bemerkt hatte, im Bad schon ein paar Valium eingeschmissen. Das sollte für Coolness beim Bowie-Konzert sorgen. Ohne eine weitere Portion Valium in der Tasche fühlte sie sich unsicher.
Kalle wollte sofort kehrt machen und das Valium holen. Nina sah in genau an und schnallte, was Sache war. Seine Hände zitterten. Er kam auf Turkey. Das Wort stammt aus dem Amerikanischen und bedeutet »Truthahn«. Wenn ein Truthahn erregt ist, beginnt er gewaltig zu flattern. Turkey sind die Entzugserscheinungen bei alten Fixern, wenn die Wirkung des Drucks nachlässt, hatte mir Doro erklärt.
„Du bist auf dem Affen!“, sagte Nina. „Aber wir können nicht zurück, sonst kommen wir zu spät zum Konzert.“
„Ohne Dope und ohne Kohle aufs Konzert zu gehen ist Wahnsinn!“ Kalle wurde zusehends nervöser. Er war plötzlich nicht mehr der souveräne, erfahrene Fixer, den Nina noch vor ein paar Stunden bewundert hatte. „Vielleicht ergibt sich ja dort noch was“, fügte Kalle dann hoffnungsvoll hinzu.
Die Stimmung in der Deutschlandhalle muss spitze gewesen sein, wie Nina später Doro berichtete. Räucherstäbchen- und Marihuana-Düfte durchzogen die Sitzreihen. Neben Nina und Kalle saßen auf der einen Seite »echt coole« Berliner und Westdeutsche, die extra wegen Bowie gekommen waren; auf der anderen Seite saßen amerikanische Soldaten, die eine Pfeife rauchten. Nina und Kalle brauchten nur hinzugucken und man gab die Pfeife an sie weiter. Kalle zog wie verrückt an der Pfeife, aber es half nichts – es ging ihm immer schlechter.
Passender Weise sang Bowie gerade seinen Song »It’s too late«. Nina schleuderten die Worte mit einem Mal aus der Wahnsinnsstimmung heraus. Sie musste daran denken, dass der Song genau ihre Situation beschrieb. „Es ist zu spät“ – es drehte sich in ihrem Kopf wie eine Endlosspirale. „Es ist zu spät. Es ist zu spät.“ Jetzt hätte sie ihr Valium gebraucht.
Als das Konzert dem Ende zuging, wankten die beiden etwas vorzeitig aus dem Saal; Kalle war jetzt volle Pulle auf Turkey und Nina am Boden. Sie trafen auf einen Bekannten aus der Szene. Perry meinte, dass man sofort etwas für Kalle tun müsse. Auch er könne noch einen Druck vertragen. Er hatte noch zwei LSD-Trips, die er für zwanzig Mark versilberte. Was jetzt noch für Heroin an Knete fehlte, sollte Nina »schlauchen«. Sie war Meisterin im Schlauchen. Leute um ein paar Groschen anhauen, fiel ihr leicht. Es mussten mindestens noch einmal fünfzehn Eier zusammenkommen. Darunter gab es nichts zu kaufen in der Szene.
Das Schlauchen vor der Deutschlandhalle ging wie geschmiert. Viele Kids hatten gute Kohle mitgebracht, kamen aus gutsituierten Elternhäusern, in denen mit Moos nicht gespart wurde. Nina brachte ihre Sprüche „Kein Geld für die U-Bahnfahrkarte“; „Man hat mir das Portemonnaie geklaut“, „Ich hab‘ meine Tasche verloren“ und so weiter. Die Markstücke klingelten nur so in ihrer Plastiktüte. Der Bekannte kaufte davon Heroin – mehr als genug für zwei Drucks. »H« war damals gerade recht billig, weil dies den Einstieg erleichtern sollte, wie Nina später von einem Junkie und Oberdealer erfahren hatte.
An diesem Tag, an dem ich im Wipp-Sessel vor meinem Fenster in San Francisco saß, hatte Nina ihren Einstieg. Der Gedanke kam ihr wie angeflogen: Jetzt habe ich das Geld schon dafür geschlaucht, jetzt will ich davon auch wenigstens mal was probieren. Mal sehen, ob das Zeug wirklich so glücklich macht, wie die Fixer nach dem Druck aus der Wäsche gucken!
Weiter dachte Nina nicht; ihr war nicht bewusst, dass sie sich in den vergangenen Monaten systematisch fürs Heroin reif gemacht hatte. Erst die heimliche Bewunderung für diese lässigen Fixer und ihre abgeschottete Szene, dann offene Bewunderung. Danach das Eintauchen ihres Freundes Helle in die Fixerszene und ihre Akzeptanz dieser Szene. Nina war sich auch nicht darüber im Klaren, dass sie der Song »It’s too late« in diesem entscheidenden Moment voll geflasht hatte, weil sie sich in einem wahnsinnigen Tief befand.
Alles, was sie dachte, war, dass man sie jetzt nicht allein mit ihrer Scheiße lassen durfte. Apropos Scheiße – daran musste ich denken, als ich Doros Aufzeichnung zu Nina las – das Wort hat es doch tatsächlich geschafft, innerhalb eines Jahrzehnts die Kulturgrenze zu durchbrechen und sich im allgemeinen jugendlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik dauerhaft einzunisten. Aus amerikanischer Literatur war bekannt, dass »shit«, »fuck« und »asshole« schon lange nicht mehr auf die sprachliche Goldwaage gelegt wurden. Aber, so hatten mir meine Nachbarn erklärt, das war eben stinknormal für das Land der rauen Cowboys und rauen Sitten. Erst kürzlich hatten die Ku-Klux-Klaner in Texas einen Schwarzen aufgehängt. Einfach so. Weil er schwarz war, halt ein Nigger.
Nina also wollte nicht mit ihrem Scheißgefühl alleine gelassen werden. „Wenn schon kein Valium da ist, um mich zu beruhigen, dann will ich jedenfalls endlich das H probieren!“, sagte sie zu Kalle und dem Bekannten.
Kalle rastete aus. „Du spinnst. Das würde mir Helle nie verzeihen, wenn ich das zulasse! Das kommt nicht in Frage. Du lässt das! Du weißt gar nicht, was du dir antust! Wenn du jetzt Dope nimmst, bist du in kurzer Zeit genau da, wo ich jetzt bin. Dann bist du eine lebendige Leiche!“
Erst dachte sie, dass er den Stoff vielleicht alleine für sich haben wollte, aber dann merkte sie, dass er es ernst mit ihr meinte. Die aufkommenden Zweifel wischte sie weg. Aber einem sich aufspielenden Übervater, der so unerfahren war wie Kalle, dem musste man nicht glauben. Wenn das jetzt Helle wäre, okay, dann würde sie vielleicht nachgeben, aber so?
„Ich lass mir von dir nichts befehlen!“, schrie sie ihn an. „Erstens ist das Meiste mein Dope, weil ich die Knete besorgt habe. Außerdem red’ nicht so’ne gequirlte Scheiße. Ich werd’ doch nicht so abhängig wie du! Ich weiß, was ich will. Ich hab’ mich total unter Kontrolle. Ich probier’ das mal, und jetzt Schluss mit dem Gelaber!“
Nina wusste noch nicht, wie schwach man auf Turkey ist; Kalle war jedenfalls mucksmäuschenstill nach Ninas Attacke, knickte vor ihrer Entschiedenheit ein; er war wie eingeschüchtert und zog es vor zu schweigen. Die Drei gingen in einen Hauseingang, und der Bekannte teilte das Dope gerecht in drei Teile.
„Ich war jetzt ganz geil auf das Zeug“, hatte Nina Doro berichtet. Da war kein Nachdenken, kein schlechtes Gewissen, keine Zukunftsangst, keine Angst vor der alleinerziehenden Mutter. Sie wollte einfach schnell wieder gut drauf sein. Nur vor der Spritze hatte sie Angst.
„Ich schniefe das Zeug“, sagte sie den beiden Jungs und zog das Pulver sofort durch die Nase ein. Sie spürte einen beißend bitteren Geschmack und musste den Brechreiz unterdrücken. Sie spuckte eine gute Portion des Dopes wieder aus. Doch dann kam es verdammt schnell über sie. Ihre Glieder wurden unheimlich schwer und waren zugleich so leicht, als könnten sie fliegen.
„Ich bin irrsinnig müde“, sagte sie zu den Jungs.
„Das gibt sich“, sagte Kalle. „Und wie fühlst du dich sonst so?“
„Müde zu sein ist ein geiles Gefühl. Die ganze Scheiße ist mit einem Mal weg. Kein »It is too late« mehr. So toll habe ich mich noch nie gefühlt.“
Die Jungs gingen in das Auto eines Fixers, um sich den Druck zu setzen, während Nina zum Sound vorausging. Es machte ihr nichts mehr aus, allein zu sein. Im Gegenteil, sie fühlte sich wahnsinnig stark. Chrissi, ihre beste Freundin, kam zu ihr, sah sie an und fragte: „Hey, bist du auf H?“
Nina rastete aus. „Dämliche Frage! Was willst du von mir? Hau einfach ab, Mensch! Ich will dich nicht mehr sehen!“
Nina wusste nicht, weshalb sie so ausflippte, und Chrissi stand ratlos vor dieser völlig unerwarteten Reaktion ihrer besten Freundin. Später kamen die Jungs, waren völlig breit und machten einen total coolen Eindruck. Mit keinem Funken dachte Nina an Helle, er war in diesem Moment einfach nicht präsent; sie hatte Durst und holte sich einen Apfelsaft nach dem anderen.
Morgens gegen fünf fragte Perry, wie der Bekannte von Kalle hieß, ob sie nicht noch zu ihm nachhause auf einen Tee wollten. Sie gingen, und Nina hakte sich zwischen den beiden ein. Der viele Apfelsaft machte sich an der frischen Luft bemerkbar, rumorte wild in Ninas Bauch und drängte zum Überlaufen. Sie übergab sich im Gehen auf die Jungs, was die wohl nicht bemerkten, denn sie gingen wie in Trance weiter, während Ninas Kotze an ihnen abtropfte. Nina kümmerte es nicht. Alle Drei waren einfach nur happy.
Überhaupt war da für Nina plötzlich ein völlig neues Gefühl. Ihr kam es vor, als lebe sie in einer neuen kleinen Familie. Man redete auf dem Weg zu Perrys Wohnung kaum, aber Nina hatte den Eindruck, mit den beiden über alles in der Welt reden zu können, unbefangen und offen, ohne sich verstellen zu müssen. Das H hatte sie zu Geschwistern gemacht; sie waren alle gleich. Nina hätte den neuen Geschwistern ihre geheimsten Gedanken anvertraut, wenn sie denn Geheimnisse gehabt hätte. So glücklich hatte sie sich in den letzten Monaten noch nie gefühlt.
Nina schlief zusammen mit Perry im Bett, ohne dass er sie anfasste. Schließlich waren sie Geschwister, H-Geschwister. Kalle schlief auf dem steinharten Boden, eine dünne Decke über seinen Beinen, und hatte seinen Kopf völlig abgeknickt auf Perrys vollgestopftem Rucksack abgelegt. So schlief er wie ein Toter mit steifem Genick bis zum späten Mittag. Dann stand er mürrisch auf, weil er wieder auf Turkey kam und sich rechtzeitig einen Druck besorgen musste. Ein echter Stress.
Nina spürte nach dem Aufwachen ein fürchterliches Jucken überall. Sie zog alle Klamotten aus; die Jungs kümmerten sich nicht darum, dass sie nackig vor ihnen stand und begann, sich mit einer Haarbürste aus Perrys Bad blutig zu kratzen. Sie kratzte wie besessen ihre Beine auf. Sie wusste ja, dass das Jucken und Kratzen für Fixer normal war, denn daran hatte sie die Fixer schon früher im Sound erkannt. Kalle hatte völlig aufgekratzte Waden, aber er kratzte sich nicht mit einer Bürste, sondern mit seinem Taschenmesser.
Als Kalle ging, sagte er zu Nina: „Morgen kriegst du das Dope natürlich wieder, dass du mir gegeben hast.“ Also war für ihn sonnenklar, dass sie jetzt eine echte Fixerbraut geworden war, die sich spätestens am nächsten Tag wieder einen Druck setzen würde. Das machte sie fast stolz, und sie tat recht cool. Um ihm zu beweisen, dass sie von dem einen Mal nicht abhängig geworden war, antwortete sie: „Lass mal gut sein. Ich brauch‘ in den nächsten Tagen nichts. Kannst es mir ja in einigen Wochen wiedergeben.“
Dann schlief sie noch einmal zufrieden ein. Am Abend auf dem Nachhauseweg dämmerte es ihr und sie dachte: „Oh Gott, du bist fünfzehn und schon auf Heroin. Ist doch echt Scheiße.“ Doch dieser Gedanke verflog schneller, als er gekommen war; ihr Glücksgefühl verdrängte alle Bedenken, jeglichen selbstkritischen und ängstlichen Ansatz.
Wenn man mit H anfängt, das wusste sie aus den Erzählungen ihrer Freunde aus dem Sound, gibt es noch keine Entzugserscheinungen. Das coole Glücksfeeling hielt bei ihr die ganze Woche über an. Es setzte sich die nächsten Wochen fort. Der Alltag war plötzlich keine Last mehr, alles lief wie von selbst. Mit ihrer Mutter blieb es friedlich, der Zoff schien Jahrhunderte her zu sein. Nina nahm die Schule völlig relaxed, meldete sich manchmal zur Mitarbeit und erhielt gute Noten. Mit der Zeit verbesserte sie sich sogar in einigen Fächern um zwei Zensuren.
Zu Doro sagte Nina: „Plötzlich schwebte ich auf Wolke Sieben. Mit allen Leuten schien ich jetzt wundersamer Weise klar zu kommen. Nur mit Helle gab es am Wochenende, nach meinem ersten H-Snief, Krach.“
„Wie das?“, fragte Doro. „Helle war doch selbst eifriger Fixer.“
„Am Wochenende nach meinem ersten Heroin-Snief traf ich Helle vor dem Sound. Sofort bellte er mich an. Ich hätte wahnsinnige Scheiße gebaut und sei total verrückt geworden. Er hatte von Chrissi alles erfahren.“
„Wie hast du darauf reagiert?“, hatte Doro gefragt.
„Ich habe ihn angebrüllt, dass er ruhig sein soll, und wer damit angefangen hat! Das war nämlich er. Und dass ich nicht so ein Fixer wie er werden würde, habe ich gebrüllt. Denn dass es bei mir soweit kommt, das habe ich nicht geglaubt.“
Helle hatte darauf nichts erwidern können. Er war überhaupt nicht in guter Stimmung, weil er auf einen Schuss aus war. Er hatte noch keinen Affen, denn er war noch nicht wie Kalle körperlich abhängig. Schließlich gestand er Nina, dass er keine Kohle habe, sich aber unbedingt H besorgen müsse. Nina hatte ihren kleinen Triumph und sagte: „Da siehst du mal, wer hier von uns beiden abhängig ist.“
Dann schlug sie ihm vor, gemeinsam das Geld für H zu schlauchen. Die attraktive Nina mit ihrer unschuldig-teeniehaften Erscheinung sah sich vor dem Sound um und fing einzelne ältere Disco-Besucher ab, um ihnen irgendein kurzes Märchen zu erzählen. Innerhalb einer Viertelstunde hatte sie vierundzwanzig Mark beisammen, während Helle nur sechs Mark und fünfzig Pfennige ergattert hatte. Es reichte jedoch für beide, denn noch wurden sie von einer recht kleinen Dosis schon gut angetörnt. Ohne jegliches weitere Wort war klar, dass Nina und Helle sich das Dope teilten.
Als Helle seinen Druck setzte und seine Freundin sich einen Snief nahm, wurde ihr mit einem Mal klar, dass nichts aus ihrem Vorsatz geworden war, erst in einigen Wochen wieder H zu probieren, wie sie es Kalle angekündigt hatte.
Nina bildete sich ein, sie würde eine Wochenend-Fixerin bleiben. Das war klar, denn jeder, der mit Dope begann, war überzeugt davon, dass er Gelegenheits-Fixer blieb und nur mal am Wochenende zu H greifen würde. Aber jeder wusste, dass es niemanden gab, der Wochenend-Fixer geblieben ist.
Ich konnte, wenn ich an Svea dachte, davon ein Lied singen. Ich stand aus meinem Wipp-Sessel auf und ging ans Fenster, um hinauszusehen. Ich dachte an Lutz, war gespannt, was er zu berichten hatte und ob es Neuigkeiten von Nina gab, die erfreulicher waren, als die Erinnerungen an sie.