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Traurige Mütter, frische Lehrer & Lutz, der Seefahrer
ОглавлениеDoro hatte mir ihre Bahnhof-Zoo-Protokolle mit der Bitte um Kommentierung zugesandt. Sie musste einerseits ihr Sozialpraktikum bewältigen und sich zeitgleich auf die Abschlussarbeit in Sozialkunde und Germanistik an der Uni vorbereiten. Ich hatte ihr unter der Bedingung zugesagt, sie möge mir etwas Zeit geben.
„Hat Zeit bis Ende des Jahres“, hatte sie geantwortet.
Okay, das war für mich machbar.
Und jetzt, nach Marys und meinem einwöchigen Besuch bei Anne, Mike und meinem Kontakt zu Professor Borko am Institute for Library and Information der University of Ca. in L.A., hatte ich Muse, mir die Protokolle zu Gemüte zu führen:
(Vorbemerkung Doro: »Zusammengefasstes Interview mit Ninas Mutter, Verkäuferin«)
„Wieso habe ich die ganze Zeit über nichts gemerkt? Nina hatte sich anders als sonst verhalten, das stimmt, aber ich verdrängte die Frage nach dem Warum. Später, nach Kontakten zu anderen betroffenen Eltern, fand ich die Antwort: Im Innersten wehrte ich mich dagegen, mir einzugestehen, dass meine Tochter irgendeiner Sucht zum Opfer gefallen sein könnte. Ich ahnte es, schob es aber zur Seite – bis es einfach nicht mehr wegzuschieben war.
Sie ist doch erst vierzehn, dachte ich, ein Kind ist sie, auch wenn sie sich die Lippen rot schminkt und sich für die Kinder-Disco meine Hochhackigen ausleiht, sie ist ein Kind und hat nichts mit Rauschgift zu tun. Das kann nicht sein.
Es war der große Fehler zu denken, meine Kleine sei noch nicht soweit. Sie war schon lange so weit. Ich nahm vieles auf die leichte Schulter. Spätestens als Nina sich isolierte und die Wochenenden mit mir mied, auch nicht mehr ihren von uns getrennt lebenden Vater besuchen wollte, sondern beim Hinausgehen rief: „Ich treffe meine Freunde“ und dann einfach bis in die Nacht hinein verschwand, da hätte es bei mir Klick machen müssen. Aber ich war von der Fünfeinhalb-Tage-Woche geschafft, wollte keinen Streit am Wochenende, wollte meine Ruhe und hoffte, dass schon nichts schief lief mit meiner Kleinen.
Wenn sie sich nicht an Verabredungen hielt und ich harte Worte vermied, um keinen Streit zu provozieren und sie sanft zur Rede stellte, um herauszufinden, was sie die Nächte lang trieb, hörte ich immer wieder Ausflüchte. Ich wollte die Ausreden nicht weiter hinterfragen. Ich wollte Nina nicht zu irgendetwas zwingen, weil ich am eigenen Leib die schlimmsten Erfahrungen damit gemacht hatte.
Mein Vater war noch nach dem Führerprinzip gestrickt, natürlich musste er der Führer sein. Er war ein Patriarch, der mit absoluter Strenge über die Familie regierte, keine Widerworte duldete und nur ein Erziehungsmittel kannte: das Verbot. So wollte ich nicht werden. Deshalb hatte ich viel Nachsicht für Nina und ließ ihr Freiheiten, die ich heute bereue. Die Verhältnisse in meiner Jugend waren so schrecklich konservativ, dass ich nicht einmal normalen Kontakt zu Jungs haben durfte.
Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass ich einmal zu meiner Mutter, einer herzensguten Frau, die jedoch zu Hause nichts zu melden hatte, sagte, dass ich einen Jungen aus meiner Parallelklasse sehr nett fand und dass er mir auf dem Nachhauseweg eine Blume von einem Park-Beet gepflückt hatte. Mein Vater hatte das wohl im Flur gehört, kam um die Ecke geschossen und haute mir derart eine runter, dass mein Ohr noch einen Tag danach dick geschwollen war und mein Lehrer mich fragte, ob ich Ohrenschmerzen habe. Da war ich schon sechzehn.
Später, mit achtzehn, lernte ich einen Bauarbeiter kennen, Hermann. Er wollte für mich ein Haus bauen, falls wir einmal eine Familie werden würden. Das fand ich goldig. Seine Eltern hatten einen Handwerksbetrieb, eine Schlosserei, aber da wollte er nicht rein. Mein Vater hatte etwas gegen einen Bauarbeiter, der könne mich nicht versorgen, das sei kein anständiger Beruf und so weiter. Je mehr mein Vater gegen Hermann polterte, desto trotziger wurde ich und steigerte mich in eine Liebessehnsucht mit vielen Kindern hinein. Als es zu Handgreiflichkeiten zwischen meinem Vater und Hermann kam, war das Fass zum Überlaufen voll. Ich sah nur einen einzigen Ausweg, nämlich baldmöglichst schwanger zu werden. Und so legte ich es darauf an.
Das war natürlich dumm, weil wir noch zu jung waren. Hermann, der nur ein Jahr älter war als ich, fühlte sich hintergangen, als ich ihm sagte, ich sei in der sechsten Woche. Er heiratete mich trotzdem. Ich fühlte mich glücklich, aber nicht geborgen, denn mein Mann flog aus einer Baustelle nach der anderen raus. Später erfuhr ich, dass er getrunken hatte. Auch zu Hause wurde er immer ungehaltener und unberechenbarer.
Aus dem Haus, das Hermann für unsere zukünftige Kleinfamilie bauen wollte, wurde natürlich nichts. Wir hatten ja gerade mal das Nötigste zum Leben. Mein Vater hatte mir jegliche Unterstützung entzogen, weil er mit meiner Ehe nicht einverstanden war. Meine Mutter weinte immer hilflos vor sich hin, wenn ich sie heimlich besuchen kam, und steckte mir gelegentlich einen Zehner zu, was aber nicht rauskommen durfte, weil mein Vater sonst durchgedreht wäre.
Ich bewarb mich noch in der Schwangerschaft als Verkäuferin in einem Supermarkt. Ich hatte Glück, weil der Marktleiter mich mochte. Nun verdiente ich mein eigenes Geld. Mein Mann trug zwar auch etwas zum Lebensunterhalt bei, aber schon damals vertrank er eine Menge. Als Nina auf die Welt kam, musste ich pausieren und ging zum Sozialamt, wo man mir nur widerwillig Beratung und Unterstützung angedeihen ließ. Ich solle mich von meinem Mann trennen, wenn er ein Säufer sei, vorher könne man mich nicht unterstützen. So musste ich tricksen und sagen, er sei ausgezogen, und musste ein ganzes Lügensystem konstruieren, weil ich natürlich die Hoffnung hatte, dass Hermann sich berappeln würde. Nina würde ja einen Vater brauchen – und ich einen Mann, der mir beim Erziehen half.
Als Nina ein Jahr alt war, kam Hermann eines Abends nicht mehr nach Hause. Stattdessen rief er an und sagte, er sei zu einer anderen Frau gezogen, er halte den Stress bei mir nicht mehr aus. Es machte mir gar nicht viel aus, denn er war sowieso keine Hilfe, eher zusätzliche Belastung zum Kleinkind gewesen. Sein Saufen hatte zugenommen und er war auch öfter ungemütlich geworden. Seitdem war ich alleinerziehend und erhielt Stütze.
Das alles, was ich durchgemacht hatte, wollte ich Nina ersparen. Ich suchte nach einem Halbtagsjob, egal welche Arbeit es gewesen wäre. Aber es gab keine Halbtagsjobs für eine Mutter mit einem Kleinkind, denn bekanntlich machen Kleinkinder alle möglichen Kinderkrankheiten durch. In dieser Zeit schwor ich mir, dass meine Kleine so aufwachsen sollte, dass sie gar nicht erst in solche Verhältnisse reinschlittern konnte, wie ich sie durchgemacht hatte.
Zufällig erhielt ich vier Jahre später einen soliden Job als Verkäuferin in einem Baumarkt mit 1.100 Mark netto und lernte dort meinen zukünftigen Lebensgefährten Karl kennen. Er hatte Nina akzeptiert und war auch gut zu ihr. Manchmal aber trauerte Nina noch ihrem Vater nach, obwohl sie ihn eigentlich ja gar nicht richtig gekannt hatte.
Nina sollte frei aufwachsen, ohne den autoritären Druck, dem ich ausgesetzt gewesen war. Ich wollte eine moderne Erziehung, wie ich es in den Zeitungen gelesen hatte: frei von Unterdrückung, frei von Entmündigung, frei von tausenderlei widersinnigen Verboten und frei von Schlägen. Wahrscheinlich habe ich ihr zu viel Freiheiten gelassen.“
An dieser Stelle unterbrach ich die Protokoll-„Nachlese“ und ging gedankenschwer ins Bett. Eine Frau aus einem einfachen sozialen – und nicht aus dem akademischen – Milieu, war also mit den Ideen freier antiautoritärer Erziehung geflutet worden. Mit richtigen Ideen der 68er-Bewegung. Ihr eigenes Leben bestätigte die These, dass es falsch war, in autoritärer und patriarchalisch-gewalttätiger Weise das Familienleben zu gestalten. Sie wollte endlich für sich und damit auch für die Zukunft ihres Kindes eine ihr vorschwebende Freiheit in Würde und ohne Zwang erlangen. Und doch hatte nun alles im Chaos geendet.
Mein letzter fragender Gedanke, bevor ich einschlief, war: Wo endet bei der Erziehung der Kinder die Freiheit, wann und in welcher Weise muss die erziehende Person eingreifen? Pit, mein bester Freund aus alten Frankfurter Schulzeiten, war Grundschullehrer geworden; am nächsten Tag würde ich ihm einen Luftpostbrief schreiben und um einen Erfahrungsbericht aus seinem Schulalltag bitten.
*
Pits Antwortbrief erreichte mich zwei Wochen später, zeitgleich an dem Tag, als ich »den kleinen Lutz« nachmittags auf Friscos Airport abholte. Die Briefpost kam regelmäßig am Vormittag gegen 10:30 a.m. Die Postzusteller kannten jeden Bewohner persönlich im Haus und ließen sich echt Zeit – entspannte Zustellung, dachte ich. Denn ich musste an die Schinderei und den unmenschlichen Zeitdruck denken, denen mein einstiger WG-Genosse Tommi bei der Zustellung im Westberliner Bezirk Spandau ausgesetzt gewesen war.
Neugierig und ungeduldig öffnete ich Pits Brief. Post aus der Heimat war immer ein Tageshighlight. Pit schrieb:
Hey, du Neu-Ami!
Tut mir leid, dass ich erst heute dazu komme, auf deinen lustigen und doch ernst gemeinten Luftpostbrief zu antworten. Aber ich war gerade mit dem gewissenhaften Zerreißen eines unpädagogischen Plakates an der Wand meiner neuen Schulklasse beschäftigt. Wie das kam, erzähle ich dir gleich. Erstmal Jaaa, ich bin glücklich, ich habe eine neue Liebe gefunden, Gudrun, sie ist Fotografin und wir passen super gut zusammen. Mit meiner Trennungsgeschichte will ich dich nicht größer aufhalten – du weißt selbst genau, dass es nicht immer so passt, wie man es erträumt. Aber dann muss man ja nicht die Träume, sondern sein Leben wechseln. Oft hilft dabei der glückliche Zufall. So jedenfalls war es bei mir.
Zuvor hatte ich Enttäuschungen und Hängepartien am laufenden Band, nicht liebestechnisch, sondern berufsmäßig. Nach Wochen ohne jegliche Informationen bekam ich vom Schulamt endlich die Zusage einer Anstellung als Grundschullehrer in Babenhausen. Glück gehabt, von vierzehn Referendaren am Studienseminar war ich einer der Glücklichen. Die anderen Mitbewerber arbeiten inzwischen als Taxifahrer, Postzusteller oder in diversen Buchhandlungen und Büchereien. Ein bisschen Muffe hatte ich schon vor dem ersten Schultag, aber mit meinen „fortschrittlichen Vorstellungen“ sollte es schon klappen, oder?
Kaum im Klassenraum fiel mir nach dem üblichen „Ich bin euer neuer Lehrer“ ein Plakat auf, das die bisherige schrullige Klassenlehrerin an die Wand gepinnt hatte. Da standen unter zwei Rubriken, nämlich unterteilt in Plus oder Minus, zwei Namen drauf: Bodo und Susanne. Bodo hatte schon sieben Minus-Striche, während Susanne vier Plus-Striche hatte. Wahrscheinlich sollte die Liste fortgesetzt werden, damit jeder in der Klasse wusste, was Sache war. Ein Denunziations- und Mobbing-Anreiz par excellence, dient ganz klar der Einschüchterung. Hier waren alle Schüler offensichtlich nach lieb oder weniger lieb gelistet.
Erste Amtshandlung: Abhängen und Zerreißen des Plakates. Der Schüler Bodo hat sich schon in den nächsten Tagen gut entwickelt und war überhaupt kein Sorgenkind mehr, wie es die alte Schrulle behauptet hatte. Letztlich hat er sogar ein Fest mit den Eltern der Klasse fast im Alleingang gestaltet. Das ist überhaupt ein wesentlicher Punkt in meiner pädagogischen Arbeit: Ich nutze den Unterricht als Übungsfeld für Kompetenzen, die die Schüler im Rahmen eines Festes den Eltern vorstellen: Gedichte vortragen, Sportübungen zeigen, Theaterspiele, Zaubertricks vorführen usw.
»Lernen in der eigenen Geschwindigkeit« ist für uns junge Lehrer eine zentrale pädagogische Leitlinie, entsprechend habe ich viele Lernspiele selbst gebastelt, und die Einrichtung von Lern- und Spielecken im Raum war eine Selbstverständlichkeit.
Bei vielen Kolleginnen ist es noch üblich, Vorlesestunden abzuhalten – tierisch langweilig für die guten Leser, eine Qual für die langsamen. Das lässt sich in der Ecke natürlich viel individueller und entspannter gestalten. Außerdem hole ich mir interessierte Mütter oder Väter in die Klasse – Sänger, Förster oder einfach nur Vorleser oder Lesehelfer. Natürlich gibt es erstmal Widerstand aus dem Kreis der Eltern (meist selbst Lehrer), aber da EMU (Elternmitarbeit im Unterricht) durch entsprechende Gesetze erlaubt ist, wurde das im Rahmen eines Elternabends geklärt, und ich konnte mein Konzept beibehalten.
Überhaupt bestehen Kollegien in der Grundschule oft zu 100% aus Lehrerinnen; meine Schule ist da schon fortschrittlicher, auf 15 Frauen kommen immerhin drei Männer. Aber was heißt fortschrittlicher? Schließlich gibt es leider viel weniger männliche Grundschullehrer als weibliche. Doch ebenso wenig wie es eine Qualitätsgarantie ist, eine Frau zu sein, so ist es keine, wenn man ein Mann ist. Dazu ein aktuelles Beispiel, weil mich ein Kollege tierisch nervt: Einer von uns drei Jungs ist ein echter Frankfurter Chauvi. Und für ihn sind die Kolleginnen und Mütter nur »Schneckscher« oder »blöde Weiber«. Puuuh.
Sei froh, dass du kein Lehrer geworden bist – du müsstest nach allen Seiten kämpfen. So kannst du in Ruhe den Golden State genießen.
In diesem Sinne
Venceremos!
Dein Pit
Um 2 p.m. fuhr ich mit meinem Ford Station Wagon los. In dreißig Minuten würde Lutz auf dem »International Airport« von Frisco landen. Ich brauchte für die zwölf Meilen nur vierzehn Minuten, wie meine Superneuheit auf dem Armaturenbrett zeigte – ein Display mit Kartenmaterial und ungefährer Zeitabschätzung, so etwas Geiles hatte ich noch nie gesehen, fast war ich echt stolz auf diese Ami-Karre. Zwar musste ich die Karte auf dem Display mit der Hand „umblättern“, aber immerhin. Man brauchte sich mit keiner Faltkarte rumschlagen.
Auf dem Weg zum Airport war an der Abfahrt zu Brisbane im Bezirk South San Francisco eine Kontrollstelle eingerichtet. Damit hatte ich nicht gerechnet, weil ich so etwas in den vergangenen zwei Monaten noch nicht erlebt hatte. Ich bekam einen gehörigen Schreck, als ich sah, wie der Driver des Wagens vor mir aussteigen und sich mit weit gespreizten Beinen nach vorne beugen musste, um sich an seinem Wagendach abzustützen. Derweil tastete ihn ein Cop der Highway-Patrol ab, während sein Kollege mit vorgehaltener Pistole daneben stand.
Nach langwieriger Inspektion seiner Wagenpapiere, durfte er nach zehn Minuten endlich weiterfahren. Jetzt war ich dran. Ich stieg sogleich aus und war gerade dabei mich mit gespreizten Beinen aufzustellen, als der Cop lachte und sagte: „It’s not necessary. Just if you make a joke about a weapon. That’s not funny.”
Ich kam zwanzig Minuten zu spät, und am Ausgang des Arrival-Gates erkannte ich schon von weitem den schlank-schlaksigen Lutz in engen beigen Jeans, einem karierten Hemd und mit einem großen Seesack. Neben ihm stand eine blonde langhaarig-gelockte Frau, die etwas älter als er erschien und sich angeregt mit ihm unterhielt. Ich winkte in Richtung der beiden. Als Lutz mich endlich sah, stürmte er auf mich zu, umarmte mich und sagte: „Ich freue mich wahnsinnig. Aber Moment bitte, ich muss mich noch von Emma verabschieden.“ Er deutete zu der jungen Frau, die uns entgegenkam.
„Ach schön, dass das geklappt hat. Lutz zweifelte schon, ob er abgeholt würde.“ Sie gab mir die Hand. „Ich habe Ihrem Bekannten die Flugangst etwas nehmen können, indem wir uns angenehm unterhielten und durch unsere ablenkenden Erzählungen verging die Zeit viel schneller.“
„Danke, dass du dich so bemüht hast. Darf ich Du sagen?“ Sie nickte und sagte: „Ich heiße Emma, ein guter altdeutscher Name, der …“
„… der vielleicht bald schon wieder in Mode kommt“, ergänzte ich. „Ich bin Stefan.“
„Ich weiß“, antwortete sie ohne meine weiteren Erklärungen abzuwarten. „Lutz hat mir alles erzählt.“
„Danke für die Flugangstbetreuung“, sagte ich lachend zu Emma, und zu Lutz: „Wusste gar nicht, dass du darunter leidest, du Flugangsthase.“
Lutz und Emma drückten sich zum Abschied und sie gab mir die Hand.
Auf der Rückfahrt erzählte mir Lutz, wie er sie kennen gelernt hatte. „Ich bin doch das erste Mal in meinem Leben geflogen, weißt du. Da war’s mir ganz recht, dass ich mich mit jemandem unterhalten konnte. Auf dem Umsteigestopp in London-Heathrow sah ich sie in einer der Sitzreihen des Gates sitzen und setzte mich einfach neben sie und sagte »Hallo, ich bin der Lutz, fliegen Sie auch nach San Francisco?« Da hat sie mich mit ihren großen Augen angeschaut und geantwortet: »Ja, wie alle, die hier sitzen. Hier geht’s ja nur nach Frisco, nirgendwo anders hin.« Naja, so kamen wir ins Gespräch und duzten uns. Sie gab mir einen Kaffee aus, und da wir bereits beim Einchecken unsere Sitzplätze erhalten hatten, baten wir im Flieger die Stewardess, ob wir nebeneinandersitzen könnten wegen meiner Flugangst. Der betroffene Passagier war einverstanden und so saßen wir acht Stunden nebeneinander und erzählten uns unsere Geschichten.“
„War denn der Flug so schlimm?“
„Der Start, das mit dem Rollfeld, und als es dann hochging, das war schon ganz schön aufregend. Und dann die Landung, das Ruckeln und Bremsen, ich dachte, jetzt überschlägt sich der Flieger. Meine Hände kamen ins Schwitzen.“
„Was hat Emma von sich erzählt?“
Emma war fünfundzwanzig Jahre alt, kam aus Berlin und hatte sich gerade von ihrem Freund getrennt. Was sie in den USA machen wolle, hatte Lutz sie gefragt. Sie habe nichts Besonderes vor, wolle nur ein Jahr überbrücken, bis sie am Berlin-Kolleg aufgenommen würde, um auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abi zu machen. Doch das alles stehe im Moment noch in den Sternen, sie wolle sich ganz auf die Staaten einlassen und müsse erst mal sehen, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten könne. Sie habe von einer Freundin eine Kontaktadresse erhalten, wo sie für die ersten Wochen unterkommen könne. Vielleicht würde sie darüber Arbeit und ein Zimmer finden.
„Hat sie dir ihre Adresse gegeben?“
„Nein, wozu auch? Ich glaube, Du und ich, wir beide, haben genug in Kalifornien zu sehen und zu besuchen. Es war zwar wirklich lieb von Emma, mir den Flug irgendwie zu erleichtern und mit mir am Arrival-Point auf dich zu warten, denn ich hatte schon die Krise, dass ich alleine dastehen würde. Aber jetzt geht man halt getrennte Wege. War ja nur eine daherfliegende Bekanntschaft.“ Er lachte über seinen Wortwitz.
„Glaubst du, ich hätte dich am Arrival-Point vergessen?“
„Nicht wirklich.“
„Und wie stellst du dir deinen Aufenthalt hier vor?“
„Ich dachte, du hast ein Programm ausgearbeitet.“
„Gewöhne dich erst mal bei mir ein und vergiss bitte nicht: Ich bin hier, um zu arbeiten – auch wenn wir zwischendurch Zeit haben werden, um California zu erkunden. Du musst schon ein bissi selbst aktiv werden.“
An diesem Abend gingen wir in ein mexikanisches Schnellrestaurant, unweit der Polk Street, wo wir sehr preiswert und total lecker essen konnten. Lutz war erstaunt über die Buntheit des Nachtlebens, über den ruhigen Verkehr, die großen Verkehrsschilder, über die allgegenwärtige Neon-Reklame.
Zu Hause legte er sich im Wohnzimmer auf die Gästematratze und schlief sofort ein. Ich ging an meinen Schreibtisch und las in Doros Protokollen weiter. Ich hatte ihr ja versprochen, spätestens bis zum Jahresende meine Kommentare dazu abzugeben.
(Aus Doros »Zusammengefasstem Interview mit Ninas Mutter, Verkäuferin«)
„Nina und ich hatten in sehr bescheidenen, engen Verhältnissen und in schlechter Umgebung gewohnt. In Kreuzberg gab es viele Trebekinder, also Straßenkinder, und entsprechende Treffs und Lokalitäten, auch vom Bezirksamt und der Kirche, aber mir gefielen die vielen wohnungslosen Kids und Hausbesetzer nicht, die da herumschwirrten und für Nina ein schlechtes Vorbild abgaben. Da wollte ich raus, wollte eine hübsche Wohnung haben, in der wir zwei uns wohlfühlen. Dafür habe ich geschuftet, das wollte ich erreichen. Natürlich wollte ich Nina auch mal etwas Besonderes erfüllen, einen Extra-Wunsch. Alles, was ich bis dahin nicht leisten konnte. Jetzt aber hatte ich einen recht guten Verdienst, auch wegen der vielen Überstunden.
Ich verwirklichte diesen Traum, Nina kriegte eine rosa Tapete ins Zimmer mit einem Einhorn-Motiv, hübsche Mädchenmöbel, die sie sich selber aussuchen konnte. Ich war so froh, etwas für meine Kleine tun zu können. Wenn ich am frühen Abend vom Job nach Hause kam, brachte ich ihr zumeist eine kleine Überraschung mit. Bei Karstadt oder Wertheim oder in Kaiser‘s Kaffeegeschäft kaufte ich dann schnell noch eine besondere Leckerei oder ein kleines Modeschmuckstück, eine lustige Schulmappe oder ähnliches, halt eine Überraschung. Wenn Nina mir dann einen dankbaren Kuss gab, war es für mich die Bestätigung, dass alles in Ordnung mit uns war.
Mir ist heute klar, dass ich mich von meinem schlechten Gewissen hatte freikaufen wollen. Mich drückte der Schuh wegen der wenigen Zeit, die ich für Nina übrig gehabt hatte. Andere Mütter konnten bei den Hausaufgaben oder bei der Vorbereitung auf Klassenarbeiten behilflich sein. Und meine Kleine musste alles alleine bewerkstelligen – oder aber sie machte es nicht, was ich nicht wissen konnte, weil ich noch nicht einmal Zeit und Kraft hatte, dies zu überprüfen. Aber immerhin waren ihre Noten durchschnittlich. Ich hätte mich um Nina kümmern müssen, statt arbeiten zu gehen, aber dann hätten wir uns nichts leisten können, weil das der Sozialhilfesatz nicht hergibt.
Trotz dieser Zwickmühle mache ich mir heute den Vorwurf, die Arbeit überbewertet zu haben. Aber von der Wohlfahrt zu leben, war nicht mein Ding; das hatte mir mein Elternhaus mit auf den Weg gegeben: dass man nicht unnötig der Gemeinschaft zur Last fallen darf. Jedenfalls habe ich vor lauter Schufterei völlig aus den Augen verloren, worauf es eigentlich ankommt. Egal wie ich es drehe und wende: Ich komme immer wieder an denselben Punkt, dass ich meine sensible Kleine zu häufig sich selbst überlassen habe. Sie hätte sicher mehr Halt und Führung gebraucht.
Ich habe in dieser Zeit nicht im Entferntesten daran gedacht, dass Nina abgleiten und auf eine schiefe Bahn gelangen könne. Für mich war äußerlich die Familienwelt in Ordnung. Zugleich sah ich sehr wohl, was so in Kreuzberg abging, die Schlägereien, die Brüllereien aus den Fenstern der Familienwohnungen und der maßlose Alkoholkonsum an jeder Ecke. In den Hauseingängen lagen die Betrunkenen. Ich hielt die Selbsttäuschung hoch, dass meine Kleine sich an mir ein Vorbild nehmen würde, wenn ich nur nicht rumschlampen, sondern ordentlich unseren Haushalt führen würde; wenn ich nicht von Stütze lebte, sondern arbeiten ginge, wenn ich nicht mit Verboten und Brüllereien erzog, sondern mit Argumenten und Liebe.
Nach meiner Überzeugung ging es aufwärts. Am Vormittag war Nina in der Schule gut aufgehoben, als Schlüsselkind kam sie mittags nach Hause und machte sich ihr Essen, das ich oft vorbereitet hatte, selber. Es gab so viele Schlüsselkinder, deshalb machte ich mir hierzu auch keine großen Gedanken. Nachmittags ging sie zu einem Tierheim, um sich dort ein wenig die Zeit zu vertreiben, Hunde zu füttern oder mal Gassi zu führen. Ob sie das auch wirklich tat, konnte ich nicht überprüfen.
Alles ging so weit gut, bis auf kleine Eifersüchteleien zwischen Nina und meinem Freund Karl, der inzwischen bei uns wohnte. Nun hatte ich meine Arbeit, den Haushalt, Nina und hatte auch ihn, für den ich da sein wollte, denn er war für mich der einzige Erwachsene, mit dem ich mich gleichwertig und in liebevoller Weise zurückziehen konnte. Aber gerade auch dann hatte ich ein schlechtes Gewissen gegenüber Nina, wenn ich ihr sagen musste, dass ich mal meine Zweisamkeit mit Karl brauchte. Ich glaube heute, dass sie sich in diesen Momenten zurückgestoßen fühlte.
Zu dieser Zeit muss sie an die falschen Freunde geraten sein. Doch ich hatte dafür keinen Blick. Ihre beste Freundin war immer Chrissi gewesen. Ein vernünftiges Mädchen; sie wohnte in der Nachbarschaft, und ihre Mutter lud die beiden Freundinnen gelegentlich zum Essen oder zu einem gemeinsamen Zoobesuch ein. Chrissi besuchte auch uns und konnte bei uns mitessen – es war eine gute Freundschaft, bis dies irgendwann kippte. Aber selbst das bemerkte ich viel zu spät.
Damals waren die beiden vierzehn Jahre alt, also in einem Alter, wo man viel erkunden möchte und mit oder ohne Jungs einiges ausprobieren will. Ich fand es deshalb ganz normal, dass sie in den Jugendtreff des Bezirks gingen und war mir sicher, dass sie dort gut aufgehoben waren – es war ja eine offizielle städtische Einrichtung. Dass dort schon Marihuana geraucht und harte Getränke konsumiert wurden, hätte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen können. Denn da gab es doch Sozialarbeiter und andere Aufsichtspersonen, oder?
Ich war eigentlich eher beruhigt und zuversichtlich, weil sich Nina, wie ich es wahrnahm, zu einer fröhlichen Teenagerin entwickelte, wieder unbeschwert lachen konnte und dem verloren gegangenen Vater nicht mehr nachtrauerte.“
Ich schlug die Mappe mit Doros Protokollen zu und ging ins Bett. Im Wohnzimmer schnarchte halblaut mein junger Besuch.
*
„Was machen wir heute?“ Schlaftrunken, wackelte Lutz in die Küche.
Es war die erste Frage am ersten Morgen des ersten Tages, als Lutz in der Washington Street zum breakfast erschien. Es sollte die Dauerfrage der nächsten sechs Wochen werden.
Ich hatte noch nichts zum Frühstück eingekauft. Das wollte ich mit Lutz gemeinsam machen. Ich ging mit ihm zur Natural Bakery, um frische Bagels zu kaufen, zeigte ihm die Shops und den Grocery Store, bei denen ich vorzugsweise unsere Lebensmittel und Dinge des Hausbedarfs besorgte.
Wir frühstückten zu Hause, danach spazierten wir bei gemäßigtem Vormittagsnebel durch Chinatown, fuhren Cable Car, gingen zur Bay und besuchten Fisherman’s Wharf. Ich stellte ihn meinen Nachbarn vor und besuchte mit ihm das »Art Institute«, wo Sam, Vicky und Mary studierten.
Ich sparte nichts auf am ersten Tag, weil ich die Hoffnung hatte, Lutz würde sich die kommenden Tage dann selbständig auf die Pirsch durch das abenteuerliche Frisco machen. Aber ich sollte mich gründlich täuschen. Er war irgendwie doch noch der „kleine Lutz“ und benötigte die führende Hand des „Ersatzvaters“. Ich gab mir Mühe, nahm ihn mit zu meinen Pflichtbesuchen an den Unis und zu den Behörden. Wenn er nicht mit in die Gebäude kommen durfte und draußen im Station Wagon warten musste, war ihm schnell langweilig. Kaum saß ich am Lenker, fragte er mich: „Und was machen wir jetzt?“
Dann brachte ich die Rede auf seine Zukunft. Ob er es ernst mit der Seefahrt meine, ob er wisse, wie hart und rau das Leben auf hoher See sei, ob er wisse, welches Naturell die Seeleute hätten, ob er glaube, dass er den Anforderungen harter körperlicher Arbeit gewachsen sei, ob er bereit sei, unentwegt das Deck zu schrubben und die Klos der Mannschaft sauber zu halten.
Lutz sah mich dann ungläubig an, als seien dies merkwürdige Fragen und lenkte ab: „Kommt ein Hase in die Wirtschaft und sagt: »Ein Jägerschnitzel bitte!«“
Ich musste zwar über diesen furztrockenen Witz lachen, ließ aber nicht locker. Das Ergebnis meiner Nachforscherei war stets das Gleiche. Lutz wollte sich Zeit zum Überlegen lassen und noch keine Antworten geben. War auch in Ordnung für mich. Erst gegen Ende seines Aufenthaltes hätte ich halt gerne eine Antwort, sagte ich ihm; hätte dann gerne gewusst, wie er sich seine Zukunft vorstelle, schließlich sei er schon zweiundzwanzig. Dann stöhnte Lutz hörbar auf und strafte mich mit einem kopfschüttelnden Blick.
Mein Trost bestand in der erwarteten Ankunft von Jan. Er würde mich gewiss entlasten und könnte sich vernünftig und zielführend mit Lutz unterhalten. Jan war Zweiunddreißig und auch für mich eine Respektsperson auf Augenhöhe, schließlich hatte Jan bereits seinen Doktor und war einer von der superklugen Sorte. Von ihm konnte ich noch lernen. Vielleicht könnte auch Lutz von ihm und seinen Ideen profitieren.
Zwei Wochen später holten wir Jan am Airport vom selben Arrival-point ab, wo zuvor Lutz und Emma auf mich gewartet hatten. Die Wiedersehensfreude mit meinem Arbeitskumpel aus WZB-Zeiten war groß. Lutz und Jan kannten sich nur vom Hören-Sagen. Jetzt lernten sie sich kennen, und es passierte, was ich erhofft hatte: Jan setzte sich mit Lutz und seinen jugendlichen Flausen auseinander, was Lutz erstaunlicherweise besser auf- und annahm als bei mir. Aber konnte mich das wirklich wundern? War es nicht fast immer so, dass die nächststehenden Personen eher als Puffer für sämtliche Unausgegorenheiten herhalten mussten und die Ernsthaftigkeit von Vorschlägen eher von völlig Fremden angenommen wurde?
Ich hatte mir für die kommenden drei Wochen frei genommen. Meine Nachbarn freuten sich über meine Besucher und schleppten uns gleich nach Jans Ankunft zu verschiedenen punkigen Kunstveranstaltungen. Wieder mal ging es um einen Film, den sie drehten. Die neue Künstlergruppe, mit denen sie jetzt gemeinsam einen Punk-Film drehten, nannte sich »The Kino Kommando 1« – ich vermutete, dass die Verdeutschung mir, ihrem Aushänge-German, geschuldet war. Drehort war ein Beauty Salon.
Vicky, die im Alter von Lutz war, überreichte uns zum Abendessen eine Einladungskarte: „We are shooting a film in a special location with special people. Please come ON THE HILL, 1916 Hyde Street. We need new actors. We need you.“
Lutz fand Vicky und ihre Dreier-WG aufregend. Er war hellbegeistert über die Einladung. Jan gestand mir in einem unauffälligen Moment, er fühle sich eigentlich zu alt für solche Albernheiten.
Ich beschwichtigte ihn mit den Worten: „Kunst ist Kunst und nicht Wurscht. Wir sind doch alle Lebenskünstler, oder?“
Zirka zwanzig Mitwirkende bekamen verschiedene Rollen zugeteilt. Das Drehbuch war echt verrückt und aus meiner Sicht völlig wirr, der Inhalt nur spekulativ zu erraten: Es ging um Beziehungen und Seitensprünge und um die bürgerliche Doppelmoral.
Das Ende vom Lied, also das Ende unseres Besuches bei diesem Dreh war, dass wir drei mit Punkfrisuren versehen wurden und Liebschaften mit einer Friseurin spielen mussten. Erst erkannte ich sie nicht, dann aber knutschte ich sie wirklich aus vollem Herzen –meine Friseurin wurde von Mary gespielt.
Am nächsten Tag brachen wir drei Jungs zu unserer großen dreiwöchigen Reise auf. Als erstes nahm ich wieder den am Pazifik entlang führenden Highway No. 1, mit dem ich bereits mit Mary nach L.A. gedüst war. Wir machten an all den schönen Orten Rast, an denen Mary und ich ein paar Wochen zuvor bereits gewesen waren. Es waren ja auch typisch touristische Orte.
In Los Angeles durfte ich mit meinen zwei Gästen wieder bei Anne und Mike übernachten. Mike lud uns diesmal sogar in sein heiliges Musikstudio ein und ließ uns einen Song aufnehmen, irgendeinen dieser robusten Country Songs. Am Morgen gingen wir zum Beach von Santa Monica, wo sich weiße, braune und schwarze Männerkörper gegenseitig mit ihren stählern-muskulösen Reizen übertrumpften. Noch immer knallte die Sonne vom blauen Oktoberhimmel. Aufreizend und knappest bekleidete Girls fuhren Rollerskate, verfolgt von den dahinschmelzenden Muskelprotzen, die aussahen wie gegrillte Hähnchen und um die Aufmerksamkeit der weiblichen und männlichen Schönheiten balzten. Ein rasant dahingleitendes Spiel der Geschlechter vor dem Hintergrund blau-grüner Wellen des pazifischen Ozeans und eines blütenweißen Strandes.
Ich entdeckte eine rote Telefonzelle, und während Jan und Lutz mit offenen Mündern der sexuellen Dauershow am Strand von Santa Monica zuschauten, suchte ich in L.A.‘s Telefonbuch eine x-beliebige Telefonnummer des IBM-Konzerns heraus, meldete mich bei der Telefongesellschaft und bat um ein kostenfreies R-Gespräch mit Doro. Ich schilderte ihr in Kürze meine Eindrücke von den Protokollen und ermutigte sie, diese in ihrer Diplomarbeit zu verwenden. Bei Bedarf könne ich auch dazu schriftliche Kommentare verfassen. Doch Doro fand, das sei nicht nötig, meine Eindrücke genügten ihr.
Dann erzählte sie mir, sie sei mit ihrem Freund Heiner im Bonner Hofgarten gewesen. Dort hätten 100.000 Menschen gegen die hochriskante Kernenergienutzung demonstriert. „Der verheerende Atomunfall in Harrisburg ist ja erst ein paar Monate her“, sagte Doro. „Das hat wohl viele Leute zum Nachdenken gebracht. Dass immer erst etwas Schreckliches passieren muss, bevor die Menschheit lernt – schlimm!“
Ich erzählte ihr, dass ich mit Jan und Lutz auf großer Reise war.
„Wohin geht es?“
„Wir sind jetzt in L.A. bei Anne und Mike. Im Moment telefoniere ich vom Strand von Santa Monica aus; viel los hier, sonniges Wetter, es ist warm und alle Welt scheint Bike und Rollerblades zu fahren. Es gibt sogar Kneipen, in denen balancieren die Service-Girls mit Tabletts, beladen mit haushohen Burger, per Rollerblades durch den Laden.“
„Das gibt’s dann hier bei uns wohl auch, allerdings mit vier, fünf Jahren Verzögerung. Und ihr? Wollt ihr noch zum Grand Canyon?“
„Sure. Aber wir besuchen erst einmal Hollywood und die Studios. Der Kleine will natürlich noch zum Disneyland Resort nach Anaheim.“
„Hör endlich auf mit »der Kleine«! Lutz ist ein erwachsener junger Mann.“
„Waren wir mit zweiundzwanzig schon …“
„Verplempere bitte nicht unsere Telefonzeit mit unnötigen Rückblicken. Sag mir lieber, wohin ihr geht, wenn ihr mit Disneyland fertig seid.“
„Von dort fahren wir über den Highway 15 nach Las Vegas, fordern unser Spieler-Glück heraus, besuchen die Schwester von Amy, meiner früheren Liebe, denn Jamie arbeitet dort als Tänzerin und …“
„Hör mir auf mit Amy und ihrer Schwester Jamie! Damit hast du mich früher schon immer eifersüchtig gemacht.“
„Blödsinn“, sagte ich. „Das war jedenfalls nicht meine Absicht.“
Doro und ich mussten lachen. Amy und Jamie, das war uralte Vergangenheit. Aber sie holte mich hier in den Staaten gerade ein.
„Okay, schon gut. Und wie geht eure Rundreise weiter?“
„Wenn wir in Las Vegas beim Glücksspiel ein paar Milliönchen gewinnen, machen wir wahrscheinlich eine Weltreise. Wenn nicht, dann geht’s erstmal zum Grand Canyon, danach ins Death Valley und über den Yosemite Nationalpark zurück nach Frisco.“
Am nächsten Tag setzte mich Jan bei Professor Borko am »Institute of Information« ab und fuhr mit Lutz weiter ins Disneyland Resort nach Anaheim. Später erzählten sie mir begeistert von der »Main Street«, dem »Adventureland«, dem »New Orleans Square« und vom »Frontierland«. Ihr ganzer Tag war ausgefüllt mit allen möglichen Überraschungen in weiteren Eventstationen wie dem »Fantasyland«, »Mickeys Toontown« und »Tomorrowland«. Die Hälfte der Überraschungen bestand aus Schlangestehen.
Ich hatte währenddessen einen ganzen Tag Zeit zur Recherche im Institutsarchiv und suchte mir eine ganze Sammlung von Institutsdaten heraus, die für meine Arbeit wichtig waren und mir zu Hause in Frisco später weiterhalfen. Ja, San Francisco war jetzt mein Zuhause, das Heimweh nach dem deutschen Zuhause war verflogen; es hatte sich unbemerkt in Luft aufgelöst. Und wie es sich gehört, schrieb ich noch am selben Tag eine Postkarte mit einem reizvollen Rollerblade-Motiv aus Santa Monica an meine lieben Punknachbarn in Friscos Washington Street. Ich schrieb als letzten Satz: „Now Nevada is calling us!“
Wir fuhren hinein in eine unheimlich sternenklare, mondhelle Nacht. Vor uns lag eine weit offene Landschaft, die am Tage noch bezaubernder sein musste. Sanfte Hügel wechselten mit Gebirgszügen ab, die an die Voralpen erinnerten. Dann folgten weite Ebenen, die Vorboten der Mojave-Wüste, bis wir schließlich im »Mojave National Preserve« und einem fürstlich erleuchteten Motel ankamen.
Wir waren in L.A. am späten Abend gestartet und hatten die Hälfte der Nacht zur Fahrt genutzt. Nach dreieinhalb Stunden hatten wir unser Etappenziel vor Las Vegas erreicht. In dieser Zeit berichtete uns Lutz von Nina. Das machte er mit sehr viel Inbrunst, während er das Gespräch über seine eigene Situation und über seine Zukunft dezent vermied.
So erfuhren Jan und ich viel über die Zeit vor zwei Jahren, als Lutz und die damals Dreizehnjährige sich im Jugendclub des Bezirks regelmäßig getroffen hatten. Lutz hatte erkannt, in welcher Gefahr sie sich befand. Aber er hatte keine Erfahrung, wie er sie vor dem hätte bewahren können, wohin Ninas Reise unweigerlich zu gehen schien.