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Frisco-Freaks & das Hippie-Berkeley

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Seit meiner Ankunft in Frisco waren fünf Wochen vergangen. Ich hatte mich inzwischen in den Sound der Amis „eingegroovt“, hatte mich an allerlei Neuigkeiten, an angenehme oder auch weniger angenehme Kuriositäten gewöhnt. Da besaßen Vicky und Mary eigenartige Reisekoffer, in denen sie ihre Kunst-Utensilien verstauten. Auf ihnen waren großformatig die beiden Punk-Mädels abgebildet. Koffer mit eigenem Porträt waren mir bis dahin nicht bekannt.

An das »coffee-refill« hatte ich mich gewöhnt, nachdem ich anfangs bei der Bestellung einer zweiten Tasse immer völlig umsonst das Portemonnaie gezückt hatte. Das Straßen-Schlachtschiff meiner Nachbar-WG, natürlich mit Automatikschaltung, war knallgelb und hatte nicht nur hinten eine Sitzbank, sondern auch vorne. Der Beifahrer saß neben dem Driver zusammen auf einer wohlig-weichen Couch. Ich konnte, wenn ich gelegentlich mitfuhr, meine Beine unendlich ausstrecken und mich sogar querlegen.

„Isn’t it comfortable?“, fragte dann Mary, weil ich ihr von den engen, platzsparenden Autos auf dem europäischen Kontinent berichtet hatte. Auch mein Ford Station Wagon war von einer unglaublichen Geräumigkeit und komfortablen elektronischen Ausstattung, die es bei uns lange noch nicht gab. Die dezent-vornehme, schwach-grüne Beleuchtung des Armaturenbretts; die schick eingebetteten Details wie Zigarettenanzünder, Drehzahlmesser, Tacho und Uhr ließen mich am Anfang staunen. Doch irgendwann staunte ich über mich, wie schnell ich dies alles als selbstverständlich verinnerlichte und bald schon als Normalität ansah. Am Armaturenbrett, in den Türen und auf der Rückseite der Vordersitzreihe gab es Tabletts und ausklappbare Haltevorrichtungen, um Flaschen oder Becher abzustellen. Wahnsinn!

Bei Nacht war in Frisco alles hell, die Tankstellen, die Drive-ins, die Motels. Jedes Fast-Food-Restaurant glänzte im Licht, und alle für Autofahrer relevanten Anlaufpunkte waren illuminiert wie Landesbahnen auf einem Flughafen.

Alles war hier anders, die Größe und Farbe der Straßenschilder, der ruhig fließende Verkehr, die Meilenangaben, die ich in den ersten Wochen immer im Kopf umrechnen musste, um ein Gefühl für die Entfernungen zu bekommen. Dann die groß auf die Straßen gemalten Pfeile und Zahlen der „Routes“; die wuchtigen, knallig-bunten, allgegenwärtigen großen Reklameschilder. Amerika flashte.

Dazu das einzigartige Wetter in Frisco. Wind und Kälte wechselten sich mehrmals am Tag mit Hitze und strahlenden Sonnenschein ab, wie ich schon bei meiner Ankunft erleben konnte. Dabei entsteht jede Menge Nebel. Bei einem Spaziergang war es daher nicht selten, innerhalb weniger Minuten Temperaturunterschiede von bis zu zehn Grad zu spüren. Die Luftfeuchtigkeit verstärkte noch die gefühlte Temperatur.

Als ich Ende Juli in Frisco angekommen war, hatte ich dieses Phänomen besonders gut beobachten können, es hielt sich bis in den Oktober hinein, denn die kalten Winde des Pazifiks trafen hier auf die warme Luft Kaliforniens. Das Ergebnis des Aufpralls kalter und warmer Luftströme war dann die dichte Nebeldecke, die sich über die Stadt legt, wie mir Sam und Vicky erklärten. So blieb mir oft der unverstellte Blick auf die Golden Gate Bridge verwehrt. Aber gegen Mittag verzog sich der Nebel zumeist und die Sicht war wieder frei. Auch war der Nebel nicht immer so dicht, wie ich ihn aus den heimatlichen Herbsttagen kannte, sondern er waberte mehr oder weniger sonnendurchlässig lässig durch die Stadt.

Wenn ich mich nicht von dem unberechenbaren Klima ärgern lassen wollte, so galt es, die Launen des typischen Frisco-Wetters zu verstehen und ein paar Tipps meiner Nachbarn zu befolgen. Wenn mir die Nebelbänke zu dicht waren, fuhr ich mit der »Cable Car« nach Downtown oder zur Bucht, wo es meist sonnig und viel wärmer war. Denn der Nebel setzte sich oft nur im Westen der Stadt, an der Pazifischen Küste, ab. Die vielen Hügel, die sich quer durch San Francisco ziehen und der Stadt ihren typischen Charakter geben, halten den Nebel und die kühleren Pazifikwinde davon ab, weiter nach Osten zu ziehen.

Doch bald schon trat all dies in den Hintergrund, wurde Bestandteil des Alltags und „last not least“: Ich musste meine Arbeits-Kontakte aufnehmen. Eine Woche vor meinem neunundzwanzigsten Geburtstag besuchte ich Professor Elliot Cahn am »Center for the Study of Law and Society« an der University of California in Berkeley. Er war ein großgewachsener schlanker Mann, vielleicht Mitte bis Ende Dreißig, lässig gekleidet, mit einer extravaganten eckigen Brille. Das Interview mit ihm war derart locker, freundschaftlich und tiefgreifend, dass ich danach zutiefst davon überzeugt war, meine Arbeit zügig vorantreiben zu können. Er sprach höflicher Weise mit mir noch etwas langsamer als üblich, und ich hatte nur bei einigen juristischen Fachbegriffen Nachfragebedarf.

Mr. Cahn zeigte mir als erstes das gesamte Uni-Areal in und um Berkeley. Dann konnte ich ihn zwei volle Stunden lang umfassend zum FIA, dem „Freedom of Information Act“, interviewen und mir Aufzeichnungen machen. Schließlich lud er mich zu seiner aktuellen Vorlesung ein, die er am Nachmittag hielt. Das Thema war zwar nicht Bestandteil meiner Arbeit, denn die drehte sich ausschließlich um die Möglichkeiten der Akteneinsicht für die amerikanischen Bürger bei ihren Administrationen und um Einsichtsrechte in computerbasierten Systemen. Cahns Vorlesung aber interessierte mich aus einem ganz anderen Grund. Es ging um die Entstehungsgeschichte der Studentenbewegung in der Bay Area, die gerade ihr fünfzehnjähriges Jubiläum feierte.

„But the times have changed, Stephen“, sagte er. „The California-Style of peace and freedom movement has lost a little bit of energy.“

Ja, alles hatte an Zugkraft verloren. Dennoch war es damals die Blaupause für die weltweiten Protestbewegungen der 60er gewesen.

Cahn begann seine Vorlesung mit den frühen 1960er Jahren. Ich konnte seinen Ausführungen nicht immer wortwörtlich folgen, sie aber sinngemäß verstehen. Damals hatte ein besonders liberaler Geist gleich mehrere Protestbewegungen in San Francisco befördert.

Als an der Berkeley-Universität im Dezember 1964 die erste Besetzung einer Hochschule in der Geschichte der Studentenbewegung stattfand, stimmte Joan Baez zur Unterstützung »We Shall Overcome« an. Die Studentenschaft wehrte sich gegen die Universitätsleitung, die ihr das Recht auf freie Meinungsäußerung streitig gemacht hatte. Das war die Geburtsstunde der »Free Speech Movement«. Sie war jedoch nicht die einzige Bewegung, die an der Westküste der USA ihren Ausgangspunkt hatte.

Natürlich nahm der Professor Bezug auf das aktuelle zehnjährige Jubiläum von Woodstock. Er bezog sich auf – wie er sagte – „die damaligen Werte des Mitgefühls, der Menschenwürde und der Schönheit unserer Unterschiede. Woodstock war ein kollektives Abenteuer…“ Dann spielte er den Song des damals noch unbekannten Joe Cocker ein, seine Version des Beatles-Hits »With a little help from my friends“.

Da ich diese Geschichte – die der frühen 60er und die von Woodstock – bereits in- und auswendig kannte, gestattete ich meinen Gedanken gelegentlich abzudriften, und ich sah mir die Studentinnen und Studenten an, die dem Vortrag Cahns interessiert folgten. Da saßen nicht mehr die achtzehn- bis zwanzigjährigen Mädels und Jungs, wie man sie aus den alten Hippiezeiten kannte. Ihre Haare waren durchweg gestylt, ihr Outfit dem Punk oder einfach nur dem modischen Durchschnitt nachempfunden.

Schätzungsweise ein Zehntel der Zuhörerschaft saß noch im für Hippies typischen entspannten Modus in relaxter Körperhaltung vor Mr. Cahn, nur ohne Hasch-Duft. Die Mehrheit saß diszipliniert, aber Kaugummi kauend vor dem großen »Vorlesungsgott«. Götter hatte es fünfzehn Jahre zuvor nicht gegeben. Damals waren die Profs für die Studis nichts weiter als „antiquierte Systemschweine“.

Cahn verwies auf die Verbindung aus politischem Protest und lässigem Lebensgefühl und zeigte am Overheadprojektor Bilder von Demonstrationen auf dem Campus der University, 1967/68. Mir gefiel Cahns lockerer Vorlesungsstil, der sich fundamental von dem bei uns gepflegten unterschied. Eingeblendete Bilder, eingespielte Protestsongs und Grafiken lockerten Phasen auf, in denen Cahn völlig ohne Manuskript seine Erklärungen darlegte. Das ist fortschrittliche Didaktik, dachte ich. Wenn ich jemals etwas referieren müsste, würde ich mich an diese Lehrmethode erinnern wollen. Hier konnte man beim besten Willen nicht einschlafen.

Cahn hatte für seine dreistündige Vorlesung einen Filmemacher, Eric Christensen, eingeladen. Ich hatte den Eindruck, dass er mindestens schon jenseits des halben Jahrhunderts sei, aber wie ich später beim Dinner erfuhr, war er erst 42 Jahre alt.

„Please listen to my friend Eric“, sagte Elliot. “He knows everything about this area.”

Eric hatte einen wallenden, halb ergrauten Vollbart und einen pinkfarbenen Schlapphut auf, ein buntes Hemd und eine weit geschnittene Flatterhose, die man sonst an keinem Menschen mehr sah. Für ihn, der in den sechziger Jahren selber in der Studentenbewegung engagiert gewesen war, war es kein Zufall, dass im Umkreis von 20 Meilen die »Black Panther Party« gegründet wurde. Dass Teile der Frauenbewegung und die Studentenbewegung hier begannen. Dass hier mit LSD experimentiert wurde und die Hippiebewegung ihren Anfang genommen hatte. Denn die San Francisco Bay Area sei traditionell von einem liberalen Klima geprägt.

„The Beatniks also played a big role here“, sagte Eric Christensen. „Die progressive Avantgarde war in der Bay Area einfach angesagt.“

Und Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll waren angesagt, dachte ich bei mir und kam ins Zweifeln, ob alles im weitesten Sinn so progressiv war, wenn ich an den jämmerlichen Tod von Svea dachte. Ich hatte sie, die den Sex, die Drogen und die Musik liebte, die genau das lebte und sich schließlich darin verlor, vor vier Jahren in Marokko im Holzsarg zurücklassen müssen. Es steckte mir noch heute in den Knochen.

Christensen zeigte seinen zwanzigminütigen Film, »Going to San Francisco«. Er handelte natürlich von diesen bewegenden Zeiten, man sah und hörte die Jugend sprechen, handeln, musizieren, tanzen, feiern, Sit-ins, Demos, Happenings, Kommunen und alles, was damals dazugehörte. Mir schien, als staunte das Publikum Bauklötze – dabei war das alles doch noch nicht allzu lange her. Oder lag mein geschrumpftes Zeitempfinden daran, dass in diesem Hörsaal nur mir – alleine mir – die vergangene Zeit immer noch vertraut schien?

Dann war eine kleine Kaffeepause. Ich blieb sitzen und träumte, ich würde am Strand von Jamaika in einer Hängematte liegen und meine fertige Forschungsarbeit korrigieren, während mir irgendjemand unentwegt kalte Drinks auf einen Stuhl neben meine leicht schaukelnde Hängematte stellte.

Als ich ruckartig aufwachte, weil mein Kopf zur Seite fiel, hatte ich einen gewaltigen Durst. Es war mir peinlich, die Pause war zu Ende, aber ich ging kurz raus, um ein Wasser zu trinken. Ich kam zurück und setzte mich unauffällig in eine der hinteren Sitzreihen; vorne sprach Professor Cahn in seiner angenehmen ruhigen Art, während ich die neue Studentengeneration rund um mich herum weiter beobachtete. Es war eine brave Zuhörerschaft, auch wenn einige Punkfrisuren scheinbar aufrührerisch in die Luft ragten und Ketten und Metallclips martialisch an Klamotten und Stiefeln hingen.

Ja, die Punks waren im Kern irgendwie so rebellisch wie wir früher, vielleicht etwas weniger politisch, ging es mir durch den Kopf, und irgendwie kam es mir vor, als verachteten sie die weichen, sanften Kulturformen wie die Hippie- und Friedensbewegung. Als wollten sie nun im Umkehrschluss mit proletenhafter Männlichkeit, mit Härte und zur Schau getragener modischer Rebellion das Ende ihrer Geduld signalisieren.

Das Interesse des Auditoriums schien echt, denn es reckten sich einige Hände in die Höhe. Professor Cahn ließ zwischendurch Fragen zu, und ihnen war zu entnehmen, dass sich die, die jetzt hier saßen, aufrichtig für jene Aufmüpfigen interessierten, die eineinhalb Jahrzehnte zuvor diese Bänke gedrückt hatten. Die Musik und den Lebensstil der heutigen Generation konnte man nicht mit den damaligen Gegebenheiten vergleichen. Der verdammt mörderische Vietnam-Krieg war endlich vorüber. Aber nun lag das große Amerika moralisch und ökonomisch darnieder. Jimmy Carter hatte 1977 das Präsidentenamt übernommen und kämpfte noch jetzt, zwei Jahre später, vergeblich gegen die Ölpreis-, Inflations- und anhaltende Gesellschaftskrise der USA.

„Ganz andere Bedingungen damals, vor zehn oder gar fünfzehn Jahren“, referierte Mr. Cahn. „Für den Soundtrack des frühen politischen Protests, der sich gegen den Vietnamkrieg gerichtet hatte, sorgten Bands wie Country Joe & The Fish. Während in jener Zeit in Berkeley die Studenten für politische Veränderungen auf die Straße gingen, entwickelte sich in San Francisco, im Stadtteil Haight-Ashbury, eine Szene, der es um einen alternativen Kultur- und Lebensstil ging: die Flower-Power-Bewegung der Hippies.“ Dazu holte Elliot Cahn gerade aus, während ich gedanklich abtauchte und die Parallelen zu meiner damaligen Zeit in Frankfurt am Main, in Westberlin, in Torremolinos und in Marokko zog. In Gedanken zogen an mir Quini und Wolle mit ihrem Bulli vorbei, ihre Reisen durch die Türkei, durch den Iran, durch Afghanistan, Pakistan, Indien – und dort von Goa über Sri Lanka nach Nepal.

„Im Zentrum dieser Szene“, dozierte Cahn vorne am Stehpult, „standen die Ideen von »freier Liebe« und vom neue Bewusstseinserfahrungen verheißenden Gebrauch von Drogen. Musikalisch fand diese Szene ihren Ausdruck in später weltberühmten Bands wie Jefferson Airplane und Grateful Dead. Deren Kopf Jerry Garcia beschrieb ihr Anliegen so: »Uns geht es um einen friedlichen Planeten. Um nichts anderes. Es hat nichts mit Macht oder ähnlichen Kämpfen zu tun. Auch nichts mit Revolution oder Krieg. Wir wollen einfach nur ein freies, ein einfaches, ein gutes Leben haben. Und wir wollen die menschliche Rasse ein Stück voranbringen.« Gibt es hierzu Fragen?“

Ich konnte den ketzerischen Gedanken nicht unterdrücken und übersetzte Garcias Worte in meine politische Erfahrungssprache: Wir wollen einfach nur ein schönes und reiches Überfluss-Leben in einem etwas menschlicheren Kapitalismus haben. Dass wir das nur auf Kosten der Dritten Welt haben können, ist uns scheißegal!

Ich schaute nach vorne zum Podium.

Cahn trat vom Pult zurück und blickte auffordernd ins Auditorium. Eine hennagefärbte Rothaarige meldete sich. Sie ging zum Mikrofon ihrer Sitzreihe.

„Die angeblich bewusstseinserweiternden Drogen haben aber manchem das Gehirn ganz schön zusammengeschmolzen“, sagte sie. „Hat das nicht das Anliegen der ursprünglichen Bewegung torpediert?“

„Wenn Sie an solche Slogans denken wie »Turn on, tune in, drop out!«, treffen Sie den Nagel auf den Kopf. Das war der Slogan von Timothy Leary.“

Ich erinnerte mich. Zu dieser Zeit war ich viel zu jung um durchzublicken, war mit Sechzehn noch völlig unerfahren und hatte im Club Voltaire bei Diskussionen den von der Harvard University gefeuerten Psychologieprofessor verteidigt, ohne wirklich etwas von ihm und seinen weitreichenden Ideen zu wissen. Reine Emotion. Kein Argument hatte meine Meinung gestützt.

Elliot Cahn trat wieder ans Pult und ging auf den Einwurf der Studentin ein: „Timothy Learys Slogan sollte zum Motto der Gegenkultur werden, die 1967 den »Sommer der Liebe« feierte. Zu einer echten Verbindung zwischen den Hippies von Haight-Ashbury und den Studenten in Berkeley kam es jedoch nicht, die Bewegung strandete vielmehr. Während 1968 die Studentenproteste weltweit ihren Höhepunkt erreichten, hatten sie in den USA bereits ihre soziale und kulturelle Dynamik verloren. Die Studenten folgten Cahns Vortrag aufmerksam.

„Nachdem im Sommer 1967 Scott McKenzies Song »San Francisco« die Hitparaden erobert hatte“, so fuhr Cahn fort, „und die Hippies zu einer Modeerscheinung geworden waren, trug man die Flower-Power-Bewegung am 6. Oktober symbolisch mit einem festlichen Umzug zu Grabe. Enttäuscht davon, dass ihr Lebensstil und ihre Ideale vermarktet wurden, verließen einige der wichtigsten Hippie-Protagonisten nicht nur das Viertel, sondern auch gleich die Stadt.“ Abschließend fasste er zusammen: „Hier gab es die erste und größte studentische Protestbewegung, die mächtigste und am besten organisierte Black-Power-Bewegung sowie die stärkste musikalische und kulturelle Szene. Es gab keinen vergleichbaren Ort.“

Wieder meldete sich die rothaarige Studentin. „Wie konnte man etwas zu Grabe tragen, nur weil es vermarktet wird? In unserem kapitalistischen System ist die Vermarktung doch gang und gäbe. Man kann sich dem gar nicht entziehen.“

Einige aus dem Auditorium riefen etwas dazwischen, was nach Widerspruch klang, aber ich konnte es in der Schnelligkeit der dahin geschleuderten Kauderwelsch-Sprache nicht exakt verstehen.

Professor Cahn erklärte, dass die Hippie-Bewegung in ihrer Gesamtheit noch lange fortbestand und wahrscheinlich auch weiterbestehen würde – aber eben nicht mehr als Massenbewegung. Auch könne man verstehen, wenn sich die Idealisten dieser Jugendbewegung durch die Kommerzialisierung verraten fühlten. Andererseits sei schließlich jedes große Event und jedes große Konzert selbstredend dem Zwang der Vermarktung unterworfen.

Drei kurzweilige Stunden waren vergangen, zwischendurch hatte es zwei fünfzehnminütige Pausen ge­geben. Mir hatte es Einblicke in die kalifornische Art und Weise der Lehrvermittlung verschafft.

Anschließend gingen Cahn, Christensen und ich essen. Es erinnerte mich an die Prozedur in Ostberliner Gaststätten und Hotels, in denen ich mit Tamara gegessen hatte – man musste am Restaurant-Eingang unterwürfig warten, bis ein gnädiger Kellner uns hineingeleitete und uns einen Tisch zuwies. Und wehe, man sprach den Wunsch nach einem anderen Tisch aus. Dann rieselte es zwar höflich klingende Worte, leider sei dies nicht möglich, aber die Blicke hinter unserem Rücken waren giftig wie die gebogenen Zähne einer Kobra.

Cahn und Christensen suchten auf der Getränkekarte einen Wein aus, ein kalifornischer musste es mir zu Ehren sein, und fragten mich, ob ich die kalifornischen Weine schon kennen würde. Ich verneinte.

„You are going to love this wine“, sagte mein wissenschaftlicher Tutor. Er lud Christensen und mich ein; es war ein schickes Lokal. Es gab vier Gänge, und die Rechnung war gewiss entsprechend hoch. Ich konnte es in etwa aus der Höhe des Trinkgeldes, das Elliot dem Kellner zusteckte, errechnen; es waren 15 Dollar. Ich wusste, dass man in den USA vom Gast erwartete, dem Servicepersonal einen »Tip« in Höhe von etwa fünfzehn bis zwanzig Prozent der Rechnung zu geben. Das Bedienpersonal erhält von seinem Arbeitgeber dagegen in der Regel nur einen sehr geringen Dollarbetrag als feste Bezahlung und ist daher auf das Trinkgeld absolut angewiesen. Das Dinner musste Elliot also zwischen 90 und 100 Dollar gekostet haben.

Mein großzügiger und hilfsbereiter Prof empfahl mir zum guten Dinner-Abschluss Kontakte zur ACLU, der »American Civil Liberties Union«. Einen kurzen Moment lang kam mir die Abkürzung sehr bekannt vor. Diese Vereinigung, so erklärte Cahn, habe ein besonderes Augenmerk auf die zivilen Freiheits- und Bürgerbeteiligungsrechte in den Staaten gerichtet und sammele Daten zum »Freedom of Information Act«, die für mich sehr wertvoll sein könnten. Beim Abschied von den beiden universitären kalifornischen Urgesteinen versprach ich ihnen, mich bald an die ACLU zu halten. Da wusste ich noch nicht, dass es für meine Arbeit ein goldrichtiger Tipp war.

Als ich auf dem Heimweg war, fiel mir ein, dass ich bereits ein dreiviertel Jahr zuvor die ACLU in meinem Forschungsplan als Institution vermerkt und diesen bei meinen Fördergebern eingereicht hatte.

„Dass ich das vergessen konnte!“, sprach ich vor mich hin und fügte hinzu: „Alter Dussel!“

*

Die Vorsitzende der »American Civil Liberties Union« in California hieß Liz Brotherton und wohnte in Friscos Mittel-Bezirk »Haight-Ashbury« in einer Fünfer-Wohn­gemeinschaft. Das kleine Häuschen war mindestens so verwinkelt und farbig wie die Villa Kunterbunt von Pippi Langstrumpf. Liz war eine taffe Frau, mit 182 Zentimetern genau eine Maßeinheit größer als ich, brünett, grün-braune Augen, etwas grüner als meine, und sie trug einen grauen Hosenanzug. Ich schätzte sie auf Anfang vierzig. Ihr farbiger Mann Stan war ein Riese, wenigstens zehn Zentimeter größer als sie und ebenfalls in gediegenem Stoff gekleidet.

„Nice to meet you! You are from Germany?”, begrüßte sie mich. „My ancestors moved from Bädän-Württembörg to America at the beginning of the century.”

Sehr oft begannen die Gespräche meiner amerikanischen Gesprächspartner mit der Feststellung, sie hätten irgendeinen guten deutschen Vorfahren. Gelegentlich ließ man durchschimmern, man fühle sich deshalb mit den »Germans« besser verbunden als mit irgendeiner anderen Nation. Liz war sehr gebildet und wusste selbstverständlich über das Weltgeschehen, über geopolitische wie über rein geografische Zusammenhänge bestens Bescheid. Für sie war Hitler weder im Knast noch untergetaucht, sondern tot. Für sie lag Österreich nicht in Deutschland, und Deutschland war tatsächlich in zwei Staaten geteilt. Sie kannte die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und die der Nachkriegsordnung: den Kalten Krieg und die beiden Weltsysteme, die sich gegenseitig unterzukriegen versuchten.

Aber ihre zivilgesellschaftliche Arbeit konzentrierte sich auf die amerikanischen Bürgerrechte, auf die im inneren bedrohte Freiheit des amerikanischen Bürgers. Sie kämpfte mit ihrem Mann und der ACLU für das Recht eines jeden Bürgers, über seine Privatsphäre, über seine Daten selbst zu bestimmen und somit Informationen über die eigene Person abrufen zu dürfen, wo immer sie auch gespeichert wurden. Das betraf genau den Kern meiner Arbeit. Auch für Liz war es der Kern ihrer Arbeit, denn sie war hauptberufliche ACLU-Mitarbei­terin. Stan hingegen war Arzt.

Im Laufe der Zeit wurden wir zu guten Freunden. Ich wurde den anderen WG-Mitgliedern, Rodger und seiner Freundin Kathy sowie Tom, dem Single, vorgestellt. Rodger war beruflich bei einer Versicherung angestellt, seine Freundin arbeitete für einen Lebensmittelgroßhandel und Tom war Tapezierer und Maler. Über sie kam ich mit vielen Leuten in Kontakt, die mir Einblicke in den normalen »American Way of Life« gaben.

Pünktlich, wie angekündigt, erschien Professor Hel­mut Wagner, mein Abi-Prüfer vom Berliner Otto-Suhr-Institut, zu Besuch in Frisco. Er erkundigte sich nach dem Fortgang meiner Arbeit; ich berichtete von Berkeley und von der ACLU, wobei er bei Erwähnung der letzteren eine Schnute zog.

„Das sind nach meiner Kenntnis Spät-68er, die an allem etwas auszusetzen haben. Nicht dass Sie in die falschen Kreise geraten!“

„Oh“, stieß ich scheinbar entrüstet hervor, „falsche Kreise kann ich für meine Dissertation überhaupt nicht gebrauchen. Doch nach meinen Kenntnissen gab es die ACLU schon lange vor 1968. Und geht es dieser zivilgesellschaftlichen Union nicht lediglich um die Sicherstellung von Datenschutz- und Bürgerrechten? Die ACLU stand jedenfalls auf der vom Auswärtigen Amt genehmigten Liste der Forschungseinrichtungen, mit denen ich zusammenarbeiten möge. Ich werde mir die Sache genau anschauen.“

Ansonsten war Herr Wagner ein unaufdringlicher, bescheidener Mann, der sich mit einer Matratze im Nebenzimmer zufriedengab. Er lud mich jeden Tag zum Essen ein und ich konnte ihm trotz seiner verkorksten Ansichten und unterwürfigen Amerikahörigkeit viele gute menschliche Seiten abgewinnen.

„Ihr Datenschutz-Thema ist wirklich überfällig und äußerst wichtig“, sagte er und klopfte mir freundschaftlich auf die Schultern. „Ein Staat, der seine Bürger durchleuchtet und ausforscht, ist nicht das, was wir Deutschen nach der Nazidiktatur brauchen.“

Das klingt vernünftig, dachte ich. Zugleich aber musste ich an meine Erfahrung mit dem Verfassungsschutz und den Berufsverboten denken. Das ließ ich ihn aber nicht wissen.

So, wie ich ihn jetzt aus unmittelbarer Nähe kennengelernt hatte, war ich mir sicher, dass auch konservative Urgesteine irgendwo ein Gewissen haben und sich gelegentlich fragen, ob sie alles richtig entscheiden.

(Wie ich in späteren Jahren erfuhr, kam er tatsächlich mit seinen Ansichten ins Wanken.)

Aus der BRD erreichte mich mit jeweils drei bis vier Tagen Verzögerung die taz. So blieb ich auf dem Laufenden. In Celle wurden Mitte September in einem ersten großen Prozess gegen Rechtsextremisten sechs junge Neonazis zu Freiheitsstrafen zwischen vier und elf Jahren verurteilt. Einer der Verurteilten war der frühere Bundeswehr-Leutnant Michael Kühnen. Ein früher Schwarm meines Schwagers. Denn wie Schwager Claus meinte, machte der Kühnen mit „den Roten zack-zack“. Die Mitglieder dieser kriminellen Vereinigung hatten in mehreren Städten bewaffnete Raubüberfälle verübt und dabei Geld, Waffen und Munition erbeutet.

Ein paar Tage später entschied der Bundesgerichtshof, dass eine Leugnung der Ermordung von Millionen Juden durch die Nazis, die sogenannte »Ausschwitz-Lüge«, einen Straftatbestand darstellt. In der taz stand auch, dass die Hamburger Bürgerschaft für den Stadtstaat die Einführung der Gesamtschule als Form der Regelschule beschlossen hatte. Damit war Hamburg das erste unter den Bundesländern.

Beruhigende Ankündigungspolitik: Anfang Oktober wollte der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew Ost-Berlin besuchen. Es sollten 20.000 sowjetische Soldaten und 1.000 Panzern aus der DDR abgezogen werden. Es gab unserer westlichen Friedensbewegung gute Argumente in Sachen Abrüstung contra Aufrüstung in die Hand. Doch im Moment war das alles weiter weggerückt als ich es mir zugestehen wollte. Zugleich war jede Zeile, die mich aus der Heimat erreichte, ein irgendwie gearteter Trost, wofür auch immer. »Heimat« – alleine dieser Begriff, ich hatte ihn seit meiner rebellischen Jugendzeit gemieden wie die Pest! Jetzt war er »auferstanden aus Ruinen«, wie es so traurig-schön in der DDR-Hymne von Johannes R. Becher hieß.

Elke hatte mir aus Düsseldorf eine Karte geschrieben. Sie war dort auf dem Konzert »Woodstock Revival on Tour«; mit ihr war der Musikjournalist Norbert Wendling unterwegs, der für die BRAVO, die Westberliner zitty und den Tip schrieb. Aufgetreten waren Joe Cocker, Arlo Guthrie und Country Joe McDonald. „Ein tolles Konzert!“, schrieb sie.

Mein ehemaliger Arbeitskollege Jan vom WZB, dem Wissenschaftszentrum Berlin, kündigte seinen Besuch für Mitte Oktober an. Ob er bei mir unterkommen könne. „Gerne“, schrieb ich auf einer Ansichtskarte von Fisherman‘s Wharf zurück. „Platz habe ich, nur ob ich touristische Freizeit rauspauken kann, weiß ich noch nicht … Viele Grüße aus dem Zentrum des Kapitalismus!“

Zwischen Jan, der wie ich am Otto-Suhr-Institut studiert hatte, und mir hatte sich im Laufe meines WZB-Praktikums eine feste Freundschaft entwickelt. Wir verstanden und ergänzten uns nicht nur in fachlicher und politischer Hinsicht, sondern gewannen auch persönliche Vertrautheit und konnten uns über unsere Beziehungen offen und ungeschminkt unterhalten. Männliches Konkurrenzgehabe war da noch nicht zu spüren.

Zwischen meinen Forschungsprojekten in Berkeley und an der Universität in Irvine, wo ich mit Professor Kenneth Kraemer zu den sozialen Risikofaktoren von Datenbanken und Informationssystem in öffentlichen Administrationen arbeitete, versuchte ich das hin und wieder aufflackernde Heimweh mit Blödelbriefen zu bekämpfen. Mein guter Freund Hörbi zahlte es mir in gleicher Münze heim:

Dear Stephen, best wishi-Grüße ausm american sector from Börlin, westlich von the wall. And viele thanks for your nette Post Card from irgendein Lacy Point Motel. Ich bin astonished, was du alles schreibst, auch dass du alles vorher schon geahnt hast.

Ich wusste nicht, was ich geahnt haben sollte. Vielleicht hatte mich beim Schreiben an Hörbi ein Blackout erwischt. Vielleicht aber auch war’s umgekehrt.

Deine Sprachkenntnisse machen gewiss progress, machen sie nicht? Das ist doch really beautiful, ist es nicht? Pörhöps soon you are dreaming in american Kaugummispeech! Anyhow (aber hau nicht Änni!) you have to denken in english, that gives you the last Schliff. End blies meid Lübke-Inglisch …

Ich hatte auf meiner Postkarte kein Wort von meinen Träumen geschrieben, aber Hörbi hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Die letzten zwei Wochen hatte ich tatsächlich in englischer Sprache geträumt. Unglaublich. TV-Sendungen und Radionachrichten erfasste ich jetzt fast komplett; der Wortschatz wuchs von Tag zu Tag. Im gleichen Maß wuchs mein Eindruck vom aufgeschlossensten Teil der Vereinigten Staaten: Es gab sie tatsächlich, die Kaugummi- und Plastik-Kultur, die Oberflächlichkeit, das Desinteresse am Rest der Welt – und ich war immerhin im Golden State California, dem liberalsten und weltoffensten Bundesstaat des »Vereinigten kapitalistischen Wallstreet-Reichs«!

Und doch bewunderte ich so vieles: Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme – ob beim Einkauf, in der Autowaschanlage oder in der Laundry, wo ich um die Ecke bei mir für ein paar »coins« meine Klamotten waschen und trocknen konnte. Bei Partys oder Besuchen wurden negative Themen ausgespart und kein Krankheitsgejammer erreichte fremde Ohren. Was mich beeindruckte: In den meisten Dörfern und Kleinstädten war nur eine Höchstgeschwindigkeit von 12 Meilen erlaubt. Oder dass es den Rezeptionisten in den Hotels und Motels völlig schnuppe war, in welch äußerlicher Erscheinung man auftrat, ob in den verrücktesten Outfits und mit den schrägsten Kopfbedeckungen, ob mit kurzen Seppelhosen oder im Punk-Look – jeder war gleich geachtet, wenn … wenn der Scheck gedeckt war.

Das erste Mal in meinem jungen Leben hatte ich meinen Geburtstag vergessen. Ein Zeichen meiner fortschreitenden Adoleszenz – ja, ich näherte mich der jugendlichen Endphase. Wer seinen Geburtstag vergisst, so sagte ich mir, hat das Zeitalter der buntballonhaltigen Kindergeburtstage endgültig hinter sich gelassen. Als mich am Tag danach, dem 13. September, die ersten der noch länger eintrudelnden Luftpost-Geburtstagskarten erreichten, erfasste mich dennoch ein infantiles Jubiläumsfeeling – und dies, obwohl es noch kein Jubiläum war. Doch ich musste schon jetzt an diesen verflixten Dreißigsten des kommenden Jahres denken.

Noch am selben Abend lud ich Mary, Vicky und Sam zum ganzjährig zelebrierten Oktoberfest in einer Kneipe in Fisherman’s Wharf ein. Sie schminkten mich und kleideten mich ein als Punk. Wir hatten Spaß bei Bier und bayrischen Haxen mit Sauerkraut, Wedges und Pommes. Ich fühlte mich bierselig beschwingt und schwadronierte in einem Amerikanisch-Denglisch daher, dass meinen Nachbarn nur so die Ohren schlackerten und sie aus dem Lachen nicht mehr rauskamen. In der Nacht war mir kotzübel.

Der nächste Tag war nicht mein Tag. Ein Arbeitstag ging flöten; dafür versuchte ich in meinem dahindämmerndem Zustand, ständig an der Schwelle des Kopfschmerzes balancierend, einen Fahrplan für die nächsten Monate festzuzurren. Und dann musste ich wieder an früher denken, an jenes »damals«, das so prägend war.

Ich wusste nicht mehr, ob und wann ich je betrunken gewesen war, außer an jenem denkwürdigen Tag, als ich mich als Vierzehnjähriger mit Duldung meines Vaters übernommen hatte. Die kontrollierte pädagogische Duldung meines Besäufnisses hatte eine durchschlagende Wirkung. Es ging mir so schlecht wie noch nie. Daraus folgte eine fünfzehnjährige totale Abstinenz. Puhh, Hardcore-Pädagogik.

So bescheiden es mir nun in Frisco ging, so brachte ich doch ein paar Planungsdaten zustande. Am nächsten Tag vereinbarte ich einen Termin in Los Angeles. Professor Harold Borko wusste bereits seit Mitte des Jahres, dass ich im Herbst zu einem Arbeitsbesuch kommen würde. Jetzt war es soweit. Ich bekam einen Termin bei ihm schon für die kommende Woche. Da rief ich meine altbekannte Anna aus der Gammler-Zeit am Marshallbrunnen an. Sie wohnte mit Mike, einem Musiker, in L.A.

„Kara“, rief sie in die Sprechmuschel, „du kommst tatsächlich? Das ist ja toll! Du kannst bei uns pennen, klar doch.“

Als Mary hörte, dass ich für eine Woche nach L.A. gehe, sagte sie mit einem einmaligen Unschuldsblick, sie wäre noch niemals dort gewesen, und ob ich sie nicht mitnehmen wolle.

„I have to ask my friends if they have one more sleeping place.”

Mary schaute verdammt glücklich aus ihrer knalligen und knallengen Punkwäsche. Ich rief Anne an und bekam prompt die Zusage. Schon am nächsten Tag fuhren wir früh morgens in meinem Station Wagon los. Auf dem Highway No.1, später auf der Route 101, ging es an Stanford vorbei, wo ich einen traurigen Moment lang an Siu denken musste. Ich sagte nichts und auch Mary schwieg.

Über Palo Alto und San José erreichten wir Monterey, wo wir in einem McDonalds dicke Hamburger verdrückten. Anschließend besuchten wir das Stevenson-Haus. Hier schrieb Robert Luis Stevenson 1879 an seinen bekannten Werken »Die Schatzinsel« und »Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde«.

Beim Fahren wechselten Mary und ich uns ab. Mir schien sie inzwischen sympathischer denn je, obwohl ich mir eine echte Beziehung mit ihr nicht vorstellen konnte. Jetzt erfuhr ich aber mehr über ihren familiären Hintergrund. Während ich am Steuer saß, hatte sie zuerst nur ein bisschen belanglos daher geplappert. Aber nach einer Stunde hatte sie plötzlich ein für mich völlig unerwartetes Thema aufgelegt. Ihr Vater war 1965 im Vietnamkrieg gefallen; da war die kleine Mary-Kay gerade einmal acht Jahre alt. Sie saß abends vor dem großen Fenster ihres Kinderzimmers und starrte in den dunkler werdenden Himmel, während ihre Mutter kochte und die Sachen für den nächsten Tag herrichtete. Denn am Morgen musste alles schnell gehen; ihre Mutter hatte einen strengen Chef, der sie feuern würde, wenn sie unpünktlich zur Arbeit käme.

Mary sprach dann mit ihrem Vater, den sie auf irgendeinem der da oben funkelnden Sterne vermutete. Sie konnte sogar seine Stimme hören, wenn er ihr Ratschläge gab und sie aufforderte, immer ihm zuliebe ehrlich, strebsam und erfolgreich zu sein.

Eines Abends aber rief Mary ihm laut zu, dass er selbst nicht erfolgreich gewesen sei, sonst wäre er doch noch hier bei ihr. Er könnte sie jetzt beschützen, ihr die Angst vor Gespenstern nehmen; er könnte sie morgens zur Schule begleiten und ihr bei den Hausaufgaben helfen, was Mom nicht konnte, denn Mom war eine fast perfekte Analphabetin.

Ihre Mom hatte den Ruf nach Dad gehört und nur den Kopf geschüttelt.

„Dein Vater kommt nicht wieder, Mary.“

Mary vermisste ihren Dad sehr. Ihre Mutter hatte sie alleine aufgezogen; es gab keine Grandma, keinen Grandpa. In der Pubertät kam es zum großen Krach. Seitdem irrte Mary durch die Welt.

Als Mary innehielt, sah ich aus den Augenwinkeln ihre Tränen die Wange runterkullern. Aus meinem gewieften punkigen Sexmonster war eine traurige Figur geworden.

Ich glaubte zu verstehen, weshalb sie sich mir, dem sieben Jahre älteren, an den Hals geworfen hatte.

Kurz vor Los Angeles legten wir in Santa Barbara eine Pause ein. Ich umarmte sie. Arm in Arm machten wir einen Bummel durch die wunderschöne Altstadt, sofern man in diesem Land von Altstadt sprechen konnte; doch der spanisch-mexikanische Einfluss war im Stadtbild allgegenwärtig.

Bunte Zeiten - 1980 etc.

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