Читать книгу Coronas Zeugen - Stefan Kuntze - Страница 4
ОглавлениеMärz 2020
Frieder Welte war mit sich und der Welt zufrieden. Die fünf Jahre seit Ende 2014 waren viel besser gelaufen, als er es je zu hoffen gewagt hatte. Die kleine Werbeagentur, gegründet nach seinem Abschied von Daimler, hatte sich zu einem gut vernetzten, erfolgreichen Unternehmen gemausert. Die Firma war seine Familie, eine andere brauchte er nicht. Dafür hätte er gar keine Zeit.
Es war ihm und seinem Team mit einer Mischung aus Tiefstapelei und Kreativität gelungen, die weltweit agierende Maschinenbaufirma Huber als Kunden zu gewinnen. Seither rollte der Rubel, wie Frieder sich ausdrückte. Das von ihm entworfene Firmenprofil mit dem eher altbackenen Slogan: „Huber Maschinen, zu schade für die Provinz!“ hatte den Patriarchen und erfreulicherweise auch den Geschäftsführer überzeugt. Vor allem war es weltweit als Zeichen schwäbischen Understatements und Humors anerkannt worden. Sogar die Kunden in Übersee wussten, dass dahinter höchste Qualität stand.
Dieses Jahr würde Frieder die laufenden Geschäfte den anderen überlassen. Das konnte er sich erlauben. Sein Privatleben war all die Jahre auf ein Minimum reduziert gewesen. Nur wenn die Auftragslage es wirklich zuließ, hatte er sich ein paar wenige Tage Urlaub genommen. Er lebte nicht einmal in einer richtigen Beziehung.
Jetzt war der richtige Augenblick gekommen, sich um das eigene Wohlbefinden zu kümmern. Er wollte sich das gönnen, was ihm seit Urzeiten vorschwebte. Mit seinen vierzig Jahren fühlte er sich bereit für Neues. Raus aus dem Trott, hatte er sich gesagt. Zu Hause hocken kannst du noch lang genug. Mönche in Tibet, Fakire in Indien, mongolische Nomaden, es waren stets extreme Lebensentwürfe gewesen, die ihn seit Jugendzeiten fasziniert hatten.
Er hatte alles vorbereitet und würde sich endlich die lange und lehrreiche Reise zu seinen Träumen leisten und diese besonderen Menschen und Länder in der Realität kennenlernen. Und dann das! Seit Mitte März galten wegen dieser komischen Chinagrippe derart viele Beschränkungen und Verbote, dass er seine Pläne vergessen konnte. Zumindest musste er das befürchten.
Frieder Welte nippte an seinem Karotten-Apfel-Basilikum-Smoothie und streckte seinen Oberkörper auf dem original Thai-Sitzkissen, das dem hellen Raum mit der zum Dach hin schräg zulaufenden Decke einen asiatischen Anstrich gab. Er sah durchtrainiert aus, wie er in dem großen Wandspiegel seiner Loftwohnung in Sillenbuch feststellen konnte: Muskulöse Oberarme, breiter Brustkasten und entschlossener Blick aus blauen Augen im weichen Gesicht. Gepflegter Schnitt der dunklen Haare à la Jogi Löw. Seltsam, dass Frauen seine Vorzüge bisher noch nicht so richtig bemerkt hatten. Vielleicht hatte er ihnen keine Chance gegeben.
Er stellte das Glas so heftig auf den antiken Beistelltisch aus Cannstatter Travertin, dass es zersprang und der Rest des Inhalts den porösen Stein benetzte.
Frieder sprang auf und fluchte. Daran war die Merkel schuld! Die dämliche Politik der Regierung dieses Landes mit ihrer unsäglichen Kanzlerin war auf dem besten Weg, seine Pläne und Träume dauerhaft zunichte zu machen. Lockdown, Reisewarnungen, Einstellung des Flugverkehrs, Quarantäne. Und jetzt auch noch der wertvolle Tisch! Rasch holte er ein Wischtuch aus der Küche.
Ja, geht’s noch? Wegen einer Grippe? Was lief denn hier ab? Nach all den Mühen hatte er sich ein Sabbatjahr genehmigt und die Leitung der Firma in die Hände seiner Vertrauten übergeben. Er saß sozusagen auf gepackten Koffern. Statt Reiselust Coronafrust mit geradezu diktatorischen Beschränkungen. Wer hätte mit so etwas rechnen können?
Niemand konnte ihm sagen, ob er überhaupt nach Indien einreisen dürfte, selbst wenn es eine Fluggesellschaft gäbe, die ihn dorthin gebracht hätte. Dieser Wahnsinn musste beendet werden. Das war die einzige Lösung, nicht nur für ihn. Viele Menschen dachten wie er. Es war mit Händen zu greifen, und jeden Tag berichteten sogar die Mainstreammedien davon. Wenn er es geschickt anstellte, könnte er diese Massen organisieren und sie dazu bringen, eine richtig große Kampagne für die Rückeroberung der Freiheit zu finanzieren. Warum auf andere warten? Frieder für Freiheit! Ein toller Spruch. Seine Arbeit war ihm zur zweiten Haut geworden, sodass er sofort in Slogans dachte.
Der Fleck auf dem Travertin war kaum noch zu sehen. Frieder setzte sich an den PC und checkte die aktuellen Pandemie-Meldungen. Alles Panikmache! Die ganze Nation hing offenbar an den Lippen eines Virologen, den vorher keine Sau gekannt hatte. Gab es keinen anderen? Mit wenigen Klicks landete er bei einem HNO-Arzt, der genau das verkündete, was er auch dachte: Das Coronavirus ist harmloser als die Grippe, und Masken nützen nichts, sondern töten Kinder. Die Beschränkungen sind unnütz und berauben uns der Freiheit. Niemand hat das Recht, dem Volk die Freiheit zu nehmen. Frieder war beeindruckt. Endlich widersprach jemand diesem aufgeblasenen, arroganten Regierungsberater und machte klar, worum es eigentlich ging. Er las weiter, bis ihn die tief stehende Sonne über dem Silberwald blendete und er auf dem Bildschirm nichts mehr erkennen konnte.
Wie leicht war es doch, sich richtig zu informieren. Frieder erhob sich, ging in den Küchenbereich und lehnte sich an die Theke. Er goss sich den Rest des Smoothies in ein neues Glas und blickte versonnen aus dem Fenster. Drüben auf dem Hügel über dem Tiefenbachtal glänzten die Fenster der Häuser in der Frauenkopfsiedlung. Das empfand er als Bestätigung des kühnen Gedankens, der von ihm Besitz ergriffen hatte.
Dieser Arzt, der schon auf zahlreichen Demonstrationen Klartext gegen die Regierungspolitik gesprochen hatte, bot seinem Publikum ein Füllhorn mit wahren Informationen und Dutzenden von überzeugenden Videos. Tausende hatten ihm zugejubelt. Auf seiner Homepage konnte man alles nachlesen. Diese Menschen musste man erreichen. Sie ahnten, dass etwas falsch war. Sie waren bereit aufzustehen und dies auch zu zeigen.
Frieder überschlug im Kopf, wieviel Tausend Menschen seit ein paar Wochen immer wieder zusammenkamen, um zu demonstrieren. Es war ganz einfach. Dafür brauchte er keinen Rechner. Wenn nur jeder zweite der Demonstrationsteilnehmer ein T-Shirt, ein Sweatshirt, einen Beutel oder Schal zu einem anständigen Preis kaufen würde, könnte man ordentlich verdienen. Natürlich müssten die Produkte mit zugkräftigen Parolen bedruckt sein. Die zu finden war eine leichte Übung für ihn als Werbeprofi.
Mittlere Stoffqualität reichte sicher aus. Die Botschaft steht im Vordergrund, nicht der Tragekomfort, sagte er sich. Es wäre bestimmt ein gutes Gefühl, mit einem lukrativen Geschäft zugleich das Wohl aller Menschen zu fördern. Liebe, Freiheit und Grundrechte, darum ging es doch! Das hatte er sofort verstanden.
Wie beflügelt eilte er zurück in den Wohnbereich, setzte sich an den Schreibtisch und begann ein neues Dokument. Man musste den Unzufriedenen vermitteln, dass sie Teil eines großen Ganzen waren und vor allem, dass sie zu den Guten gehörten. Dafür brauchte es weniger ein schlüssiges Konzept als vielmehr gute Parolen. Slogans mussten griffig sein, damit sie die Leute packten.
Politisch zuordnen sollte man sie nicht so leicht können. Vor allem mussten sie harmlos klingen. Es wäre gelacht, wenn ihm da nichts einfiele! ‚Frieder für Freiheit‘ war zwar gut, aber er wollte sich den Anschein von Bescheidenheit und Zurückhaltung geben. Das kam besser an als auch nur der Anschein von Angeberei.
Zunächst musste das Ganze nach einer echten Bewegung klingen, etwa so: ‚Besorgte Bürger fordern ihre Rechte zurück‘. Naja, in der Art. Dieser Spruch war aber zu politisch. Irgendwie musste es lockerer daherkommen. Er war schließlich kein verbissener Ideologe. Und Spaß machen musste die Demonstrierei auch. Die Leute würden vielleicht sogar in der ganzen Republik umherreisen, um dabei zu sein. Was für eine gigantische Bewegung könnte entstehen, wenn er es richtig anpackte.
Auf dem Bildschirm schimmerte immer noch das leere Dokument. Er zog die Tastatur heran und gab Kundgebung 2.0 ein. Das klang gut. Eine Kombination von Wort und Zahl war moderner und schlagkräftiger als ein bloßer Name. Ein guter Oberbegriff wäre vielleicht ‚Denken 2.7‘. Nein, so etwas verstand kein Mensch. Es geht darum, den Leuten einzureden, dass sie es selber sind, die etwas bewegen in diesem Land.
Natürlich, warum hatte er das nicht schon längst gefunden: Selber denken 2.7 war die passende Parole. Das betonte Eigenständigkeit und gleichzeitig ungeheuren Fortschritt, weit über 2.0 hinaus. Die Sieben könnte darüber hinaus seiner Heimatstadt Stuttgart zugeordnet werden. Das war es. Lokal verwurzelt, offen gegenüber dem Fortschritt: ‚Selber Denken 7000‘. Frieder, dachte er, ich will zwar nicht übertreiben, aber das ist genial!
Um der Konkurrenz von vorneherein keine Chance zu geben, wäre es angebracht, die Postleitzahlen aller Großstädte in Deutschland schützen zu lassen. Der Rechtsanwalt, der die Firma betreute, sollte sich darum kümmern, ob das über Patent oder Warenzeichen möglich war.
Als er kurz nach Mitternacht wie betäubt ins Bett fiel, hatte er folgende Parolen entwickelt: „Freiheit, Frieden, Güte!“, „Lächeln macht frei“, „Menschenskind“ und „Glaube, Liebe, Glück“. Das klang alles schön unbestimmt und griffig. Vor allem war es allgemeingültig. Manche mochten die Aussagen banal finden. Das störte ihn nicht. Über Preise musste er mit der Druckerei reden. Eine Gewinnspanne von 60 % war sicher zu realisieren. Und das Wichtigste: Die Slogans waren kurz. Sie passten sogar auf Kleidung der Größe S und auf Kindershirts.
Alles war richtig an diesen Ideen und Slogans. Niemand könnte ihn politisch in eine bestimmte Ecke stellen, und wer konnte schon etwas gegen diese Botschaften haben? Frieder Welte schlief tief und fest. Er hatte viel zu tun in den nächsten Tagen. Er würde die Kundgebungen auf ein neues Level heben. Der Schlossplatz, ja sogar die ganze Stadt Stuttgart würden nicht ausreichen für das, was er vorhatte. Es gab viele Strömungen in der Gesellschaft und Menschen, die man ansprechen konnte mit dieser Aktion. Der Anwalt musste ihm auch noch ein paar griffige Formulierungen zu den Grundrechten liefern. Um die ging es schließlich! Morgen würde er für Anfang Mai eine Großkundgebung anmelden. Bis dahin musste alles fertig sein.
Die Demos auf dem Schlossplatz konnten nur den Anfang bilden. Ihm schwebte Größeres vor. Die Zeit war reif!