Читать книгу Coronas Zeugen - Stefan Kuntze - Страница 6

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Donnerstag, 16. April 2020

Die Anzahlung, die er dem Verwaltungschef des Verlags hatte abringen können, sicherte ihm das Überleben für die nächsten Wochen. Konrad versuchte, sich nicht davon lähmen zu lassen, dass er Geld bekommen hatte, ohne eine Zeile geschrieben zu haben. Er wollte sein Leben wieder in die Spur bringen, und er wollte sich über seine Beziehung zu Ingrid klar werden.

Dieses eine Projekt würde helfen, etwas Selbstbewusstsein zu gewinnen, zu mehr konnte es nicht ausreichen. In den letzten Wochen hatte er ohne richtigen Plan in den Tag hinein gelebt. Eigentlich sogar schon länger. Damit war jetzt Schluss! Irgendwann mussten Enttäuschung und Frust überwunden sein.

Anna hatte ihn kurz nach seinem 40. Geburtstag verlassen. Er sei zu weich und klammere sich an sie, was ihr die Luft abschnüre, hatte sie in einem nüchternen Abschiedsbrief auf seinem Küchentisch hinterlassen. Nach dem Schock hatte er eine hektische Betriebsamkeit entwickelt, aber bis zur Silvesternacht waren alle Bemühungen um eine Nachfolgerin erfolglos geblieben. Vielleicht hatte Anna recht gehabt. Er traute sich Frauen gegenüber nicht viel zu, und seine Angst vor Verlust war ein schwaches Fundament für Beziehungen.

Konrad versuchte, sein Laptop zu starten. Der Bildschirm blieb schwarz. Verdammt, jetzt streikte sogar dieses neue Gerät. Nach weiteren fruchtlosen Versuchen packte er die Kiste ein und verließ schlecht gelaunt die Wohnung. In dem Computerladen am Wilhelmsplatz, wo er das Ding erworben hatte, befanden sich um diese frühe Zeit keine anderen Kunden.

„Na, lassen Sie mal sehen“, meinte der Jungspund hinter dem Schalter, nachdem er die Problemschilderung gleichmütig angehört hatte. Fünf Minuten später, die Konrad entsetzlich lang vorkamen, tauchte er mit einem Kollegen zusammen wieder auf.

„Das Gerät ist in Ordnung. Hatten Sie in letzter Zeit eine Meldung von Microsoft?“

„Wie, eine E-Mail von Bill Gates oder was?“

Der Junge lächelte säuerlich. „Nein, einen Hinweis auf Ihrem Desktop.“

„Ich weiß nicht, neulich stand da, die Grafik brauche ein Update oder so ähnlich.“

„Aha.“ Der junge Mann sah seinen Kollegen an und wandte sich wieder an Konrad.

„Wir haben dieses Update jetzt installiert. Die Grafikkarte ist auf dem neuesten Stand, und Sie können weiterarbeiten.“

Als Konrad auf dem Rückweg durch das Leonhardsviertel, den Stuttgarter Rotlichtbezirk ging, schämte er sich, weil er seinen Computer nicht ernst genommen hatte. ‚Nicht einmal das kriegst du hin‘, maulte er in sich hinein, als er am Olgaeck die Straße überquerte.

Zurück in der Wohnung saß er minutenlang am Schreibtisch und bedauerte sich selber wegen seiner Entschlusslosigkeit. Wenn er nicht endlich aus dem larmoyanten Selbstmitleid herauskäme, wäre dieser phantastische Anfang mit Ingrid wieder zu Ende, bevor es richtig losging. Warum hatte er ihr seine verkorkste Situation nicht erzählt, sondern so getan, als sei er stark beschäftigt und gut im Geschäft? Seit Wochen hatte er sie weder gesehen noch gesprochen. Wo blieb die Zuversicht des Neujahrstages?

Er versank in der Erinnerung und hätte am liebsten sofort bei Ingrid angerufen. Ihre Stimme, ihr Lachen, ihr Optimismus, wie hatte er das vergessen können? Konrad schaltete die Kaffeemaschine an, die ihn seit Studentenzeiten begleitete, und auf einmal schien die Welt wieder voller vielversprechender Möglichkeiten. Er vergaß den Besuch im Computergeschäft und machte sich voller Elan an das Thema Corona und was die Menschen daraus machten, wie er für sich den Arbeitstitel formulierte. Mit diesem Text würde er sich Ingrid als erfolgreicher Journalist präsentieren. Er wollte versuchen, die verschiedenen Strömungen, die bei den Hygienedemonstrationen zusammengekommen waren, zu erforschen, um anschließend Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Hintergründe darzustellen. Auf den Straßen und in den Internetforen tummelten sich Esoteriker, Anthroposophen, Identitäre, Reichsbürger, alternative Ärzte und Heilpraktiker und nicht zuletzt Rechtsradikale von der AfD bis zu Neonazis. Ein Riesenspektrum.

Konrad kam ins Grübeln. Ob das bis Ende Mai zu schaffen war? Der Kaffee war sehr stark geraten. Er holte sich ein Glas Wasser im Badezimmer. Dort blickte er in sein leicht besorgtes Gesicht im Spiegel. ‚Bangemachen gilt nicht‘, sagte er laut. Also, wo anfangen? Erst einmal die Grundlagen: Mitte März war die Zweite Corona-Verordnung der baden-württembergischen Landesregierung in Kraft getreten, die neben den Schulen, Kindergärten und Kultureinrichtungen auch den nicht zum Überleben erforderlichen Einzelhandel zur Schließung zwang. Seither grassierten die Erzählungen der Selberdenker und anderer sogenannter Kritiker. Ob der Selberlenker mit seinem Fahrrad auch dazu gehörte?

Was findet man unter dem Stichwort Verschwörungsgeschichten? Der erste Suchlauf ergab derart viele Treffer, dass er fürchtete, die Aufgabe könnte schwieriger werden, als er angenommen hatte. Er rief sich das Zwiegespräch vor dem Spiegel in Erinnerung und suchte weiter. Sieben Ordner hatte er angelegt und mit zahlreichen Dokumenten gefüllt, und das waren erst Bruchteile der zugänglichen Informationen.

Was weiß ich eigentlich über Bill Gates, fragte er sich am frühen Nachmittag, nachdem dieser Name auf jeder zweiten Seite aufgetaucht war. Ich finanziere ihn auch mit meinen Microsoft-Anwendungen. Was ist an diesem amerikanischen Multimillionär Besonderes? Weshalb wird er von vielen zum Erzfeind erklärt?

Fakt war, dass der inzwischen nicht mehr im operativen Geschäft tätige Unternehmer den Kristallisationspunkt zahlreicher Behauptungen bildete, die letztlich alle daran anknüpften, dass er und seine Frau mit einem Teil ihres riesigen Vermögens Projekte der Entwicklungshilfe und der Weltgesundheitsorganisation unterstützen. Das täten sie aber nur, um gedeckt von finsteren Mächten andere, schreckliche Ziele zu verfolgen. Kenner sprachen von der Bill und Melinda Gates (BMG) -Verschwörungstheorie. Ziel sei – wie es sich für eine solche Geschichte gehört – die Weltherrschaft. Vorher müsste allerdings noch die Weltbevölkerung verringert werden.

Konrad hatte eine Eingebung, als er am offenen Fenster ein Zigarillo rauchte. Wie angenehm, dass Anna nicht mehr da war, die das Rauchen gehasst und verteufelt hatte. Tabak regte den Gedankenfluss an. Könnte nicht Aufhänger der Geschichte sein, dass manche Menschen philanthropisches Verhalten für unmöglich hielten, für etwas, das dem Wesen des Menschen zuwiderlief? Das wäre ein kritischer Ansatz, wie er sicher für das Profil des Magazins passte und auch dem Schnösel gefallen könnte. Einfach nur darstellen, was es gab, war sicher nicht Stil des Hauses. Sonst könnte man auch ein Boulevardmagazin bedienen. Das Magazin war schließlich nicht der Stern!

Das zweite Zigarillo wollte nicht schmecken. Vielleicht lag es daran, dass es das letzte seiner dominikanischen Lieblingsstängel war, aber er fühlte sich irgendwie schlapp. Er sollte sich durchchecken lassen. In seinem Alter war so etwas angesagt. Gelegentlich plagten ihn Schwächephasen, die rasch vergingen und ebenso rasch vergessen wurden.

Er setzte sich wieder an den Tisch und griff nach seinem edlen Füllfederhalter. Anna hatte zu seinem 35. Geburtstag sogar den Namen eingravieren lassen. Also, wie lautet der Obersatz? These: Wer egozentrisch, kleingeistig und geizig ist, hält einen großzügigen Menschen für einen Lügner oder für jemanden, der etwas anderes verbergen will. Je umfangreicher die Bemühungen des Philanthropen, desto schlimmer musste sein, was er zu verdecken hatte! Konrad schmunzelte. Er war absolut sicher, dass egozentrische Kleingeister zuhauf in der Welt herumliefen.

Mit dem Ergebnis der Recherchen und Überlegungen aus den letzten Tagen war er zufrieden und verließ die Wohnung. Er hatte gelesen, dass der Kiosk am Olgaeck geöffnet war, weil er auch Getränke und Schokoriegel anbot. Damit diente er der Deckung des täglichen Bedarfs und war nicht zwangsweise geschlossen. Konrad würde sich dort eine Packung Zigarillos besorgen. Es gab da zwar nicht seine Marke, aber in diesen Zeiten musste man bescheiden sein. Sein Stammgeschäft im Königsbau war geschlossen.

An der Haltestelle vor den großen Kastanienbäumen saßen drei Menschen, die eine Stoffbedeckung über Mund und Nase trugen. Was war das denn? Hatte das Robert-Koch-Institut nicht offiziell verlautbart, die habe keinerlei Schutzwirkung? Naja, Übereifrige gab es immer. Oder stimmte die Erzählung einiger besonders Schlauer, dass diese Aussage nur der Knappheit an Masken geschuldet war? Dann hätte die Regierung bei ihrer Einkaufspolitik total versagt.

Konrad war sich nicht sicher, ob dies schon eine Verschwörungserzählung war oder eine gerechtfertigte Kritik. Allerdings konnte Bill Gates an diesem Mangel kein Interesse haben, es sei denn, man glaubte diesen Unsinn von der Reduzierung der Weltbevölkerung durch Erfindung eines Virus. Er beobachtete ohne wirkliches Interesse, wie die drei Maskenträger in die Bahn stiegen.

Der Fußweg zum Olgaeck tat ihm gut. Die Bewegung verscheuchte viele Gedanken an böse Mächte und teuflische Eliten, die sich nach der Lektüre des Vormittags in seinem Kopf eingenistet hatten. Vor dem Kiosk hatte sich eine Schlange gebildet. Was den vorgeschriebenen Abstand betraf, mussten die Menschen noch lernen, aber ansonsten ging es recht zivilisiert zu. Als Konrad die parfümierten Zigarillos erworben hatte – eine andere Sorte führten sie nicht – machte er sich wieder auf den Heimweg.

Während des Anstiegs sank sein Optimismus. Er rief sich die bisherige Lektüre in Erinnerung. Waren das wirklich nur naive Fehlgeleitete, die da schimpften und wetterten und sich von bösen Mächten verfolgt sahen? Eine Diskussion oder so etwas wie einen Austausch von Argumenten suchte man vergeblich. Er fragte sich, ob auch in seiner Umgebung in Stuttgart Menschen lebten, die an das absolute Böse glaubten, demgegenüber jede Form von Gegenwehr erlaubt sei.

Er hatte viel Arbeit vor sich.

Coronas Zeugen

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