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Samstag, 18. April 2020

Es war wie ein Ritual. Samstags ging Konrad nach einem kurzen Frühstück zu Fuß in die Stadt auf den Wochenmarkt. Er liebte diese Institution, die Landwirte, Händler und Gärtnereibetriebe aus der Region dreimal in der Woche mitten in der Großstadt mit Leben erfüllten. Wie immer trug er die eckige Korbtasche mit den schmalen Lederhenkeln, die er vor Jahren bei einem Korbflechter im Kinzigtal erworben hatte. Ein leerer Eierkarton und mehrere Tüten steckten darin.

Auf dem Karlsplatz war der martialische preußische König und erste deutsche Kaiser Wilhelm auf seinem Ross inmitten der vier Obelisken kaum noch zu sehen, weil um seine erhöhte Plattform herum das allsamstägliche Flohmarktgeschehen brodelte. Niemand schenkte dem Monarchen wider Willen Beachtung. Tauben kackten auf seinen Pickelhelm.

Trotz der Uhrzeit herrschte reger Betrieb. Aus dem Wagen am Rand der Freifläche verbreitete die Fritteuse den Duft der ersten Falafel-Bällchen. Konrad lief das Wasser im Mund zusammen. Am Stand des Spielzeughändlers, der Märklin-Eisenbahnen aus den 1930er Jahren anbot, konnte er nicht vorbeigehen. Wenigstens einmal wollte er die wunderschöne grüne E-Lok RV12890 in die Hand nehmen, die er sofort erspäht hatte. Sie wurde das ‚kleine Krokodil’ genannt, und mit ihrer einzelnen Lampe in der Front sah sie freundlich und geschäftig aus.

Wenn es wirtschaftlich wieder bergauf ging, würde er sich ein solches Modell leisten. „Super Zustand“, murmelte er. Der Mann mit dem Pferdeschwanz taxierte ihn kurz. „Mit dem Preis kann ich Ihnen etwas entgegenkommen.“ „Ich überleg‘s mir“, antwortete Konrad, als er das wertvolle Teil vorsichtig wieder abstellte. Der Händler zuckte mit den Schultern.

Ausgedehnte Flächen des mit kleinen Kopfsteinen gepflasterten Platzes zwischen den Kastanienbäumen waren mit mehr oder weniger echten Orientteppichen bedeckt, die dem Areal den Charakter eines riesigen Wohnzimmers verliehen. Früher hatte Konrad noch eine gewisse Scheu verspürt und diese bunten Flächen sorgsam umrundet. Im Laufe der Jahre hatte er begriffen, dass das Darübergehen als allgemein anerkannte Prüfung diente, ob die Teppiche robust und wertvoll waren.

Zwischen dem Alten Schloss und der im kraftvollen Stuttgarter Jugendstil unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg fertiggestellten Markthalle wanderte er zum Schillerplatz, auf dem Blumen- und Gemüsehändler ihre Stände betrieben. Er hatte sich zu lange auf dem Flohmarkt aufgehalten. Auf dem Platz rund um das Standbild des großen Klassikers wuselten Hunderte von Menschen. Vor den Ständen drängten sich ungeduldige Käuferinnen und Käufer in langen Schlangen.

Konrad übte sich in Geduld, bis er Salat, Äpfel und jungen Spinat in seinen Korb packen konnte. Die Wartezeit vertrieb er sich mit einer ausgiebigen Betrachtung dieses geschlossenen Ensembles aus der Stuttgarter Vergangenheit. Zwischen Stiftskirche, Fruchtkasten, Alter Kanzlei und dem einer mittelalterlichen Burg nachempfundenen Alten Schloss bekam man eine Ahnung von der Pracht der Stadt im 17. Jahrhundert, als die Renaissance den Baustil der Herrschenden prägte und die württembergischen Herzöge sich einen Baumeister Schickhardt leisteten.

Erst als er den Torbogen des Durchlasses in Richtung Schlossplatz erreichte, fiel ihm ein, dass das Tabakgeschäft im Königsbau aufgrund der Corona-Verordnung geschlossen war. Er wollte gerade umdrehen, als er Musik und – nach einem heftigen Rauschen der Verstärkeranlage – einen Redner hörte. Ach ja, für heute war eine dieser Demonstrationen angesagt gewesen. Er nahm seinen Korb und näherte sich dem Grüppchen.

„Wir sind hier, weil wir uns die Freiheit nicht stehlen lassen. Wir nehmen unser Grundrecht wahr und lassen uns nicht einschüchtern. Wir denken selber und wissen, dass wir unterdrückt werden sollen. Das lassen wir uns nicht gefallen. Wir sind das Volk!“ Beifall brandete auf.

Was war das denn? Konrad hatte von den Selberdenkern gehört, aber hatte das Ordnungsamt die heutige Kundgebung nicht untersagt? Wegen zu großer Ansteckungsgefahr. Wieso griff niemand ein? An der Bushaltestelle unter der Hermessäule standen ein paar Polizeifahrzeuge. Drei Beamte lehnten an einem Straßenschild und blickten gelangweilt in Richtung der etwa 50 Menschen, die dem Redner zuhörten.

„Sie sprechen von Rechtsstaat“, fuhr der Redner fort, „und was tun sie? Sie verbieten uns die Ausübung des Versammlungsrechts, das zu den kompli…, äh,“ er nahm einen Zettel von der Unterlage „zu den konstituierenden Rechten des Grundgesetzes gehört.“ Der breitschultrige Mann legte das Papier, aus dem er vorgelesen hatte, auf das Rednerpult zurück. Er trug ein helles T-Shirt, auf dem ein großes, rotes Herz aufgedruckt war.

Konrad hatte die Gruppe erreicht und stellte sich auf die Treppenstufen unter der Arkade bei dem Bankgebäude an der Ecke zur Königstraße. In der Menschentraube trug niemand eine Maske. Die in der Corona-Verordnung vorgeschriebenen Abstände wurden nicht eingehalten. Die Menschen standen dicht gedrängt. Wieso griff eigentlich die Polizei nicht ein? Eine Pflicht, die nicht durchgesetzt wurde, war nichts wert. Soweit er sich erinnerte, nannten Juristen so etwas Vollzugsdefizit. Er fand es gefährlich und vergrößerte den eigenen Abstand zu den Demonstranten.

Im Hintergrund wehte eine schwarz-weiß-rote Fahne. Vorne rechts stand ein dicklicher Herr im Anzug mit langen blonden Haaren und einem roten Gesicht. Er kam Konrad bekannt vor, aber er konnte sich nicht erinnern woher. Der Mann reckte ein weißes Papier zwischen den erhobenen Armen in die Höhe. ‚Gebt uns unser Recht zurück!‘, stand in wackeliger Schrift darauf. Weiter hinten hielt eine Frau im langen, bunten Strickrock ein Plakat mit der Aufschrift: ‚Masken töten unsere Kinder!‘ Neben ihr erkannte er mehrere Menschen in Kleidung aus Naturwolle und Leinen. Eine türkisfarbene Fahne wehte über ihnen. Sie trug die Aufschrift: ‚Impfen tötet, Mr. Gates!

Der Redner griff den Faden wieder auf mit den Worten „Wir wollen nichts Unrechtes. Das hat uns das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Dank sei unserem Anwalt, dem Frank Bauer. Ich sage euch, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir wollen Liebe und Freiheit, mehr brauchen wir nicht. Weg mit der Corona-Diktatur!“

Die bunte Versammlung wiederholte vielstimmig und lautstark: „Weg mit der Corona-Diktatur!“ In der hintersten Reihe waren Plakate zu sehen, die die Bundeskanzlerin, den Vizekanzler und den Gesundheitsminister in Häftlingskleidung zeigten.

„Merkel muss weg! Nieder mit der Merkel-Diktatur“, schallte es von dort.

Der Verstärker war hochgefahren worden. Die Stimme klang metallisch. „Und allen Mainstreamjournalisten, den Speichelleckern der Regierung und der Pharmaindustrie sagen wir: Wenn ihr nicht die Wahrheit berichtet, habt ihr bei uns nichts zu suchen. Liebe Freunde, ich verlange von Journalisten bei meinen Veranstaltungen die Unterschrift unter eine entsprechende Erklärung. Ich bestehe auf der Wahrheit. Wir lassen uns nicht verleumden!“

„Lügenpresse! Lügenpresse!“, antwortete die Versammlung.

„Wir kämpfen für Freiheit und Liebe, aber wir tun es mit Anstand und Kultur. Deshalb freue ich mich ganz besonders auf den nächsten Beitrag. Begrüßt mit mir Herrn Dr. Adam Wulf, den musikalischen Medizinexperten!“

Konrad wollte sich gerade verdrücken, als von der Bühne Gitarrenakkorde erklangen. „Liebe Selberdenker, ich danke Frieder Welte für die Einladung. Als Arzt habe ich tagtäglich mit Krankheiten, Bakterien und Viren zu tun. Und ich sage euch, was diese Bundesregierung veranstaltet, das ist unverantwortlich. Wegen eines Virus sperren sie das ganze Volk ein und berauben uns der Freiheit. Dabei kann dieses Virus nicht mehr als ein stinknormales Grippevirus. Sie glauben einem Virologen, der überall Gefahren wittert und ständig ‚Alarm, Alarm!‘ schreit. Solche Warner brauchen wir nicht, wir denken selber.“

„Selber denken! Selber denken!“, antwortete der Chor der Kundgebungsteilnehmer.

Der Redner schlug noch einmal seine Akkorde. „Ich habe ein Lied verfasst, das ich euch vorsingen möchte. Wir wollen dem Wahnsinn mit Humor, Liebe und Kunst begegnen.“

Konrad blieb stehen und bekam Folgendes zu hören: „Wir werfen den Covid in die Flammen, mit Virologen zusammen.“ Johlend und klatschend begleiteten die Menschen die einfache Melodie. Auf einem Tisch neben der Bühne lagen T-Shirts aus, die mit Wörtern oder mit Herzen bedruckt waren.

Konrad umrundete die Kundgebung. Auf der Seite zum Schlossplatz hin, bei der Gruppe der Schwarzgekleideten, hörte er im Vorbeigehen: „Gut, dass dieser Schwachkopf unseren Rechtsanwalt erwähnt hat. Der ist wirklich unser wichtigster Mann. Was meint ihr Kameraden, besuchen wir ihn gleich? Du kannst ihm schon das Foto schicken.“

Konrad stellte die Korbtasche ab, um eine Aufnahme von der Kundgebung zu machen. Als er sein Mobiltelefon anhob, wurde er angerempelt. Zwei Männer aus der Gruppe drängten seitlich an ihn. Einer riss das Telefon aus seiner Hand. Er konnte sich nicht bewegen, da auch hinter und vor ihm jemand aufgetaucht war.

„Du kannst hier nicht einfach so rumfotografieren!“

„Wie bitte? Wir leben in einem freien Land …“

Die Männer lachten. „Das denkst du vielleicht, aber glaub ja nicht, dass du deine Unwahrheiten überall erzählen kannst. Wir mögen verlogene Journalisten nicht.“

„Lassen Sie mich sofort los, sonst … Woher wollen Sie wissen, dass ich Journalist bin?“

„Das riechen wir und ich wette, du hast die Wahrheitserklärung von Herrn Welte nicht unterschrieben.“ Einer der Männer wedelte mit einem Blatt Papier vor Konrads Gesicht. Ein heftiger Zorn erfasste ihn, der die Angst vor den Schwarzhemden übertraf. „Geben Sie sofort mein Telefon zurück.“ Er wurde laut. Vom Alten Schloss sahen die drei Polizeibeamten zu ihnen herüber. „Hilfe!“, schrie er. „Ich werde bedroht.“

Die Polizisten überquerten die Straße. „Was ist hier los? Haben Sie Hilfe gerufen?“

„Diese jungen Männer haben mir das Handy abgenommen und mich bedroht.“

„Welche jungen Männer? Ich sehe niemanden, und ihr Telefon liegt hier auf dem Boden. Das muss Ihnen runtergefallen sein.“

Konrad blickte sich verwirrt um. Die Kundgebung löste sich auf. In der Menschenmenge konnte er die Schwarzhemden nirgends entdecken. Sein Korb stand noch neben ihm.

„Sie haben gedacht, ich sei Journalist und mich als Lügner beschimpft.“

Der junge Polizist bückte sich und hob das Telefon auf. Er reichte es Konrad und sah ihn freundlich an. „Also wenn Ihnen nichts fehlt und sie die angeblichen Täter nicht sehen, können wir nichts weiter veranlassen.“ Er senkte die Stimme. „Wissen Sie, es wird ja in den Zeitungen wirklich viel Falsches behauptet. In manchem haben die Demonstranten doch recht. Auf Wiedersehen.“

Sprachlos sah Konrad den drei Beamten nach. Er war gewarnt. Kopfschüttelnd trollte er sich durch die Passage. Die Marktstände wurden abgebaut. Vor dem riesigen Denkmal des großen Dichters blieb er stehen und blickte nach oben. ‚Du hast wirklich für die Freiheit gekämpft. Deine Gegner waren real‘. Es zog ihn jetzt mit Macht nach Hause. Er musste mehr über die Selberdenker erfahren, und er wollte versuchen, diesen Anwalt zu finden, den der Redner erwähnt hatte.

Das Kaiserdenkmal, auf dessen vier Obelisken sämtliche Siege der preußischen Truppen gegen den Erzfeind Frankreich säuberlich aufgezeichnet waren, ließ er rechts liegen. So rasch es der Autoverkehr zuließ, überquerte er die überdimensionierte Straßenkreuzung, die euphemistisch Charlottenplatz hieß. Er nahm den steilen Weg über die Gaisburgstraße zum Eugensplatz. Der Computer wartete.

Also, was hatte der Typ mit dem Herz-Shirt gesagt? Das Bundesverfassungsgericht hat die Versammlung erlaubt? Mit wenigen Klicks holte er den Beschluss auf seinen Bildschirm. Die hiesige Stadtverwaltung, das Verwaltungsgericht und die zweite Instanz hatten den Antrag abgelehnt. Anders sah es das oberste Gericht des Landes. „Das Vorgehen der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens wird Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG nicht gerecht“, las Konrad. Er holte ein Glas und genehmigte sich einen Gutedel.

Die Selberdenker hatten einen Antrag auf Zulassung einer Kundgebung gegen die Corona-Maßnahmen gestellt. Das Ordnungsamt hatte sich geweigert, einen ablehnenden Bescheid zu erlassen. Die etwas abenteuerliche Begründung lautete, eine Versammlung sei nach der geltenden Verordnung ohnehin verboten. Da sei nichts Weiteres zu veranlassen. Konrad runzelte die Stirn. Das war typisch für diese Behörde. Er erinnerte sich gut an seine Recherchen zu den Prozessen um die Bebauung des sogenannten Europaviertels. Seine scharfe Satire im Magazin, die das Verhalten des Gemeinderats und der Ämter geißelte, hatte eine heftige Debatte in der Öffentlichkeit ausgelöst. Mit ihrem Schlingerkurs hatten die städtischen Baurechtsbehörden damals ein jämmerliches Bild abgegeben.

Zurück zu dem Beschluss: Die Behörde habe die konkreten Umstände des Einzelfalles nicht berücksichtigt und sich letztlich davor gedrückt, eine eigene Entscheidung zu treffen. Aha, man hatte sich also hinter höheren Instanzen versteckt. Als ob ein Polizist nicht jemanden zum Wegfahren auffordern konnte, der sein Fahrzeug im Halteverbot abstellte, weil das ja ohnehin verboten war und deshalb nicht noch einmal gesagt werden musste.

Konrad ging auf den Balkon und versuchte zu erkennen, ob am Schlossplatz noch Menschen versammelt waren. Das riesige Glasdach des Königsbaus, das dieses klassizistische Gebäude mit den gewaltigen Säulen komplett verschandelte, spiegelte die helle Nachmittagssonne. Es war nichts mehr zu erkennen. Das Zigarillo schmeckte heute nicht. Ihm war, als vertrage er den Rauch nicht. Hinter der Stirn regte sich dieser lästige Schmerz. Unzufrieden setzte er sich wieder an den Schreibtisch.

Der Sänger hatte einen menschenfeindlichen Text vorgetragen, und die Kundgebungsteilnehmer quittierten das mit Beifall. Vor den Augen besorgter Mütter wurde zur Verbrennung unbequemer Wissenschaftler aufgerufen. Konrad fing an, sich Sorgen zu machen. Wenn er mit seinen Recherchen den Verschwörungsgläubigen in die Quere käme, wer konnte garantieren, dass ihm nicht Ähnliches drohte? Er versuchte vergeblich, diesen Gedanken abzuschütteln und öffnete den Internetbrowser.

Selberdenker nannten sich der Veranstalter dieser Kundgebung. Die Homepage Selberdenken war äußerst professionell gestaltet. Sie wurde offensichtlich zeitnah auf dem Laufenden gehalten. Die Rede, die er vorher in Auszügen mitbekommen hatte, konnte man in vollem Wortlaut nachlesen. Auf den zwei beigefügten Fotos sah die Gruppe vor dem Redner deutlich größer aus, als sie seiner Meinung nach gewesen war. Dem Impressum entnahm er, dass der Anführer dieser Gruppe Frieder Welte hieß. Den Namen hatte er schon einmal in der Zeitung gelesen.

Konrad goss sich noch einmal von dem Gutedel ein. In der Titelzeile der Website gab es den Menüpunkt ‚Was man braucht‘. Darunter verbarg sich ein großes Angebot an T-Shirts, Sweatshirts und anderen Produkten, die mit dem Logo „Selberdenken“ oder Parolen wie „Frieden, Freiheit, Glück“ bedruckt waren. Auch das Herz-Shirt war im Angebot. Die Preise für die Textilien lagen ähnlich hoch wie die für Fantrikots des großen Stuttgarter Profifußballvereins.

Langsam kam er in Fahrt. Das Kopfweh war verflogen. Vergessen auch die Anflüge von Angst vor Fanatikern. Er fühlte sich wieder auf vertrautem Terrain. Es ging ums Geld. Die Arbeit an dem Thema fing an, ihm Spaß zu machen.

Coronas Zeugen

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