Читать книгу Spitzenleistungen in der Steuerberatung - Stefan Lami - Страница 4
I. Die „Quelle Mensch”
Оглавление1An den Anfang meines Buches möchte ich eine provokante These stellen: Der Mensch ist die Quelle des Lebens, und zwar nicht nur im übertragenen, sondern auch im tatsächlichen Sinn. Alles – wirklich alles – erhalten wir von anderen Menschen. Alles?
Ich bin mir bewusst, dass das Wort „alles” Gift für eine fruchtbare Kommunikation ist und den Gedankenaustausch zwischen Autor und Leser blockieren kann; genauso wie etwa die Wörter „nichts”, „immer” und „nie”. Solche kommunikativen Unwörter sind daher zu Beginn eines Buches eigentlich fehl am Platz. Sie fordern nämlich zu Widerspruch heraus und es besteht das Risiko, dass der Angesprochene intensiver über mögliche Ausnahmen von der These nachdenkt als über die These selbst.1) Man mag das bedauern, aber kommunikative Prozesse folgen nun einmal dieser Gesetzmäßigkeit.
Dennoch möchte ich dieses Risiko eingehen. Denn es ist – zugegeben – ein kalkuliertes Risiko, das darauf zielt, den Leser bewusst zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Ausgangsthese dieses Kapitels anzuregen:
Wir erhalten alles im Leben von anderen Menschen.
Alles? Ja, alles! Sogar das Leben selbst haben wir von anderen Menschen erhalten: Vater und Mutter. Wir haben es nicht gewollt, wir haben es jedoch erhalten. Und dieses Prinzip, etwas von anderen Menschen zu erhalten, was wir nicht bewusst gewollt haben, begleitet uns auf dem gesamten Lebensweg.
2Für den flüchtigen Betrachter ist die These, dass wir ohne die anderen Menschen nichts wären, schlicht inakzeptabel. Sie fordert spontanen – meist sogar vehementen – Widerspruch heraus. Doch selbst bei intensiverem Nachdenken will es den Skeptikern dann nicht so recht gelingen, die These argumentativ zu entkräften. In Gesprächen über das Thema höre ich dann als Entgegnung Grundsätzliches wie „meinen Verstand”, „mein Selbstbewusstsein”, „mein eigenes Ich”, „mein Verantwortungsbewusstsein”, aber auch scheinbar Triviales wie „die Zuneigung und Treue meines Hundes”. Dabei wird betont, man sei seines eigenen Glückes Schmied. Man gestalte sein Leben selbst, und nicht alles komme von „den anderen”, fliege einem quasi ungewollt zu. Dieser Überlegung stimme ich uneingeschränkt zu: Das eigene Handeln bestimmt entscheidend darüber, was wir im Leben erhalten. Dabei wird aber häufig übersehen, dass das, was wir als Resultat unseres Handelns erhalten, von anderen Menschen stammt, also eine Reaktion auf unser Handeln als Individuum in einer sozialen Gemeinschaft ist.
Ein Beispiel soll verdeutlichen, was ich meine: John D. Rockefeller, der Mann mit der Bilderbuch-Karriere vom Tellerwäscher zum Multimillionär, war zu seiner Zeit der reichste Mann der Welt. Er hat sich emporgearbeitet. Er galt als skrupelloser Geschäftsmann, der jede sich bietende Gelegenheit nutzte, um sein Öl-Imperium aufzubauen. Er galt als rücksichtslos gegenüber seinen Konkurrenten und seiner Belegschaft sowie ausschließlich auf seine Vorteile bedacht. In seiner Biografie wird über eine bisher unbekannte Seite dieses außergewöhnlichen Mannes berichtet: Nur wenige Außenstehende wussten, dass es zu den größten Talenten Rockefellers zählte, seine Mitarbeiter zu führen und zu motivieren. Rockefeller selbst sah dies so: „Meinen Erfolg im Leben verdanke ich vor allem meinem Vertrauen in Menschen und meiner Fähigkeit, in anderen Vertrauen zu mir zu erwecken.”2)
3Keinesfalls möchte ich behaupten, die These „Wir erhalten alles im Leben von anderen Menschen” sei die – alleinige – Wahrheit, denn dann wäre ich ein Lügner.3) Erzeugen möchte ich mit dieser Ausgangsthese jedoch ein intensives kritisches Nachdenken darüber, was es für Inhaber bzw. Partner und das Management einer Steuerberatungspraxis bedeutete, wenn die Aussage auch nur zu 95 % zuträfe. Welche Konsequenzen hätte dieses Gedankenspiel für das Selbstverständnis der Kanzlei, die Kanzleistrategie und die ihr unterlegten Werte?
Im Grunde betreten Sie kein Neuland, wenn Sie sich auf dieses Gedankenspiel vom Geben und Nehmen nach der 95 %-Formel einlassen, die sowohl für materielle Güter wie Geld als auch immaterielle Werte wie Anerkennung, Wertschätzung und Liebe gilt. Denn die Zusammenhänge sind Ihnen aus Ihrem Berufsalltag vertraut: Der Inhaber einer Steuerberaterpraxis erhält von seinen Mitarbeitern die Arbeitsleistung, das Engagement, die Bereitschaft zu Veränderungen und vieles mehr; der Mitarbeiter im Gegenzug Geld, Anerkennung, Image usw. Nicht weniger offensichtlich sind die Zusammenhänge zwischen dem Mandanten und der Kanzlei. Jede bezahlte Honorarnote belegt u. a. den gelungenen Austausch von Wissen, Arbeitserleichterung, Schutz vor dem Finanzamt gegen Geld, Wertschätzung oder etwa Weiterempfehlungen.
4Was den Blick dafür verstellt, dass hinter jedem in Ziffern dokumentierten Leistungsaustausch ein Mensch steht, ist die Tatsache, dass das Berufsleben des Steuerberaters fast ausschließlich um Zahlen kreist: Der aktuelle Jahresabschluss, die monatliche betriebswirtschaftliche Analyse, betriebliche Kennzahlen – in Beratungsgesprächen stehen Zahlen im Mittelpunkt. In Vergleichen, Prozent- und Steigerungssätzen bzw. Verhältniswerten werden hier Zahlen analysiert – unpersönlich, abstrakt, detailverliebt, teilweise auch realitätsfern. Dabei wird allzu leicht vergessen, dass jede Zahl das Ergebnis einer menschlichen Aktivität ist: Ein Kunde, der für das Produkt oder die Leistung bezahlt, ein Mitarbeiter, der das Produkt erstellt oder für den Kunden eine Dienstleistung erbringt, ein Lieferant, der das Unternehmen mit Waren versorgt. Machen wir uns also klar: Jahresabschlüsse bilden Handlungen von Menschen ab. „Sich auf die Zahlen zu konzentrieren”, wie es in der Steuerberatungsbranche gefordert wird, ist also ein dramatische Verkürzung der Wirklichkeit und offenbart ein Wahrnehmungsdefizit.
Gewiss, es ist nicht leicht, die Herausforderung anzunehmen, die sich aus der Erkenntnis ergibt, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Die sich hieraus ergebenden Probleme sind komplexer und deshalb schwieriger zu lösen als fachliche Fragen zu beantworten, Entscheidungen über EDV-Systeme zu treffen, Marketingbudgets festzulegen oder etwa die Prozesse zur Qualitätssicherung zu definieren. Letztlich muss man sich dieser Herausforderung aber stellen, denn letztendlich erhalten wir „alles” im Leben von anderen Menschen.