Читать книгу Das geheimnisvolle Leben der Anna Schäffer - Stefan Meetschen - Страница 8
3. Beginn der Leidenszeit (4. Februar 1901 bis Mai 1902)
ОглавлениеEs war Anfang Februar 1901, und für die Familie von Kirschbaum und die Mitarbeiter stand ein Waschtag auf dem Programm. Das verlangte eine intensive Vorbereitung. Zumal draußen viel Schnee und Eis war. »Im gemauerten Waschhaus unweit des Forsthauses wurde zunächst der Ofen eingeheizt und Wasser für den Waschkessel herbeigeschafft.«1 Das übernahm Anna mit ihrer Arbeitskollegin Walburga Kreuzer – am 4. Februar 1901. Was dann geschah, lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: »Um die Wäsche einweichen zu können, hatte Anna vom etwa 20 Meter entfernten Brunnen Wasser herbeigeschleppt, während Walburga auf einem Tisch neben der Türe die Wäsche ordnete. Da löste sich nach einiger Zeit das Ofenrohr aus der Kaminöffnung. Sogleich stieg Anna als die Jüngere auf die circa 92 cm hohe, aber schmale Kesselummauerung, um das Rohr zu befestigen. […] Infolge der nassen Holzschuhe, die etwas aufgetaut waren, verlor Anna das Gleichgewicht und rutschte in die kochende Lauge des 45 cm tiefen Kessels. Ihre Mitwäscherin Walburga, die ihr den Rücken zugewendet hatte, hörte plötzlich einen markerschütternden Schrei, wandte sich um und sah Anna im brodelnden Waschzuber stehen. Entsetzt stürzte sie aus dem Waschhaus, laut um Hilfe rufend. Sie holte sodann den im Forsthaus wohnenden Kutscher Johann Dickel, der die arme Verunglückte aus dem Kessel heraushob.
Die Füße Annas waren bis an die Knie verbrüht, Körper und Arme durch den heißen Dampf mit zahlreichen Brandblasen bedeckt. In der Aufregung schütteten nun die durch die Hilferufe herbeigeeilten Bediensteten ihr noch ein Schaff kalten Wassers über die Füße. Dann wickelte man die sichtbaren Wunden Anna eilends in Leinwandstreifen, die mit Salatöl getränkt waren. Dann brachte man die Verletzte mit einem Pferdefuhrwerk ins sieben Kilometer entfernte Krankenhaus in Kösching. Als man sie dort hineintrug, fast um Mitternacht, ›schleiften verbrannte Fleischfetzen am Boden nach‹.«2
Anna Schäffer wurde in dem Krankenhaus für die damaligen Verhältnisse gut betreut, doch es half nichts. Das Fleisch an ihren Füßen faulte dahin. Was sollte man tun? Der Arzt entschied sich für eine Operation. Am 19. März 1901 schnitt er ihr »von den Knöcheln bis zu den Knien […] das Fleisch weg. Da Anna nicht chloroformiert wurde, sondern nur eine Dosis Morphium erhalten hatte, war sie nur wenig betäubt und schrie in furchtbaren Schmerzen. Allmählich gesellte sich ein schweres Magenleiden dazu, ein Geschwür, das der Arzt nicht erkannte. Eines Tages erwartete man von Minute zu Minute den Tod Annas. Der Pfarrer und der Kooperator von Kösching standen an ihrem Marterbett. Da plötzlich entleerte sich das Magengeschwür durch den Mund und langsam erholte sich das Mädchen.«3 Ihre Zeit war also noch nicht gekommen. Es warteten Aufgaben für Anna Schäffer. Leidensvoll, entbehrungsreich, so wie sie es sich am Tag der Erstkommunion gewünscht hatte. Und es warteten weitere Probleme auf sie. Schwierigkeiten, Schmerzen.
Denn: »Inzwischen waren die Tage abgelaufen, für die die Invalidenversicherung bezahlte. Nun sollte ihre arme Mutter die Kosten der Krankenhausbehandlung tragen. Da diese dazu nicht imstande war, wurde sie ins elterliche Haus nach Mindelstetten zurückgebracht. Hier behandelte sie der Pförringer Arzt Dr. Willibald Wäldin, ein Protestant, mit großer Hingabe und meist um Gottes Lohn. Er probierte es zunächst mit trockener Wundbehandlung, bis schließlich Eiter am Bett herablief. Nach einem Monat hatten sich an beiden Füßen große Blutblasen gebildet. Nun versuchte er es mit Verbänden, die er jeden zweiten Tag mit den anklebenden Blutkrusten abreißen musste. Auch essigsaure Tonerde und Salben halfen nichts. So ging es ein Vierteljahr weiter, ohne wesentliche Änderung oder gar Heilung.«4
Die nächste Station des medizinischen Martyriums: »Bald nahm sich die Invalidenanstalt wieder des armen Mädchens an. Es begann ihr Martyrium im Universitätskrankenhaus in Erlangen, wo erst recht alles versucht wurde, sie zu heilen. Mehrmals wurden ihr die Füße, Vorderfuß und Zehen gebrochen; ein Gipsverband wurde angelegt. […] Darunter faulten die Füße von Neuem. Der Assistenzarzt, der den Gipsverband nach einiger Zeit absägen sollte, ein Anfänger, sägte in den Fuß hinein, sodass eine neue Wunde entstand.«5 Annas Kommentar zu all dem Ungemach: »Wenn ich gekonnt hätte, ich wäre von Erlangen auf allen vieren nach Hause gekrochen.«6
Trost kam aus Mindelstetten von Pfarrer Rieger, der »das talentierte Mädchen« in dieser Zeit des Leidens seelsorgerlich nicht allein ließ. In einem Brief vom 4. Dezember 1901 versicherte der Geistliche, dass er täglich beim Messopfer für sie bete und die »Rosenkranzkönigin« um Fürbitte für Anna anrufe. In der Hoffnung auf vollständige Herstellung und Heilung sowie mit Realismus und Einsicht in die geheimnisvollen Wege Gottes: »Der allmächtige Gott sorgt auch für Dich und gerade denen, welche Gott lieb hat, schickt er Prüfungen. […] Wie viele Mädchen Deines Alters sind schon auf Erden unglücklich trotz ihrer Gesundheit; wie manche sogar schon in ihrer Verzweiflung ewig tot. Welch reiche Verdienste kannst Du Dir dagegen für die Ewigkeit sammeln und für diese Welt lass nur den lieben Gott und unsere heiligste Mutter Maria sorgen!«7
Verdienste für die Ewigkeit. Das war gut gemeint, doch für einen jungen Menschen, der eine solch schmerzvolle Schocktherapie absolvieren musste, war das Leid, das Anna Schäffer zugemutet wurde, nicht leicht zu tragen. »Endlich«, so schreibt Emmeram H. Ritter, »brachte eine Salbe etwas Erleichterung und sie bekam einen Zinkleimverband. Nach anderthalb Jahren war sie so weit hergestellt, dass sie mühsam humpelnd wieder gehen konnte und nach Hause entlassen wurde. Sogleich wurde sie von ihrer Dienstherrschaft in Stammheim eingeladen zu kommen, aber nicht zur Arbeit, sondern zur Erholung durch Ruhe und bessere Verpflegung im Forsthaus. Doch lange hielt es Anna als müßige Kostgeherin nicht aus. Sie wollte arbeiten, sich dankbar erweisen. Bald hatte sie Gelegenheit dazu, weil die Köchin des Hauses ihren Dienst aufgesagt hatte. Sie trug immer noch den Zinkleimverband, der ihr in Erlangen angelegt wurde. Als sie eines Tages einen Eimer Wasser über die Stiege hinaufschleppte, wurde durch den Verband Eiter sichtbar. Damit endete ihr letzter Versuch, mit zusammengebissenen Zähnen den gewöhnlichen Weg eines materiell bettelarmen Mädchens zu gehen. Der Versuch war gescheitert.«8