Читать книгу Blaulichtmilieu - Stefan Mühlfried - Страница 7

Kapitel 2

Оглавление

20. Mai

Marie und Harald waren die letzten, die den Konferenzraum betraten. Sie grüßten und entschuldigten sich für die Verspätung.

»Macht nichts«, sagte Kriminaloberrat Decker. Er war heute Polizeiführer vom Dienst und hatte vor Ort den Einsatz geleitet. Ein hohes Tier, aber ein netter Mensch. Vorausgesetzt, man folgte seinen Anordnungen.

Mit Decker am runden Besprechungstisch saß ihr Team der dritten Mordbereitschaft: Leiter Arthur Thewes und die Kollegen Markus Schnittgereit und Johannes Tritscher. Außerdem ein Kollege und eine Kollegin, die Marie vom Sehen kannte, aber nicht einordnen konnte, und ein uniformierter Polizist, dessen fünf silberne Sterne an der Schulter ihn als Ersten Kriminalhauptkommissar auswiesen. Seinen Ärmel zierte ein Wappen mit dem Bundesadler. Bundespolizei also. Er war um die 50, hatte einen kahlgeschorenen Schädel und ausgeprägte Lachfalten. Es war nicht ein Staubkorn auf der Uniform, und er war der Einzige, der nicht nach Rauch und Tod stank wie alle anderen am Tisch, Decker eingeschlossen.

Marie und Harald setzen sich.

Decker räusperte sich. »Gut, dann können wir ja anfangen.« Er griff zu einer Fernbedienung und schaltete den Beamer ein, der unter der Decke hing.

»Sie alle wissen, warum wir hier sind: Heute Morgen um 7.37 Uhr ist eine Bombe im Check-in-Bereich des Terminals 1 im Helmut-Schmidt-Flughafen Hamburg explodiert. Die Anzahl der Todesopfer beläuft sich derzeit auf 17, die Anzahl der Verletzten auf rund 140. Wir müssen damit rechnen, dass noch einige von ihnen ihren schweren Verletzungen erliegen werden. Der Ort der Explosion war genau hier.«

Decker drückte auf eine Taste an seinem Notebook. Der Beamer warf einen Grundriss des Terminals auf die Leinwand. Links schlossen sich die Sicherheitskontrollbereiche an, oben der Ladenbereich mit den Rolltreppen zu den Restaurants und unten die Zufahrt. In der rechten unteren Ecke war eine rote Markierung, auf die Decker jetzt deutete.

»Wie Sie sehen – und die meisten von Ihnen auch vor Ort feststellen konnten – ist der Bereich in unmittelbarer Nähe des Infoschalters vor Check-in-Bereich drei. Dieser wird von einer Reihe von Fluggesellschaften, unter anderem Turkish Airlines, genutzt. Der Bereich wird natürlich videoüberwacht, aber leider sind die Kameras ziemlich weit weg, sodass die Bildqualität nicht optimal ist. Die folgenden Aufnahmen setzen etwa 30 Sekunden vor der Detonation ein.«

Der Grundriss auf der Leinwand machte einem Videobild Platz. Die Kamera musste ungefähr in der Mitte der verglasten Hallenfront in einigen Metern Höhe montiert sein, sie zeigte den Check-in-Bereich schräg von oben. Noch war eine Totale des Bereichs zu sehen, aber einige Sekunden nach dem Start des Videos schwenkte und zoomte sie näher an die Szene. Offenbar hatte etwas die Aufmerksamkeit des Operators erregt.

»Bitte beachten Sie diese beiden Männer«, sagte Decker und markierte mit einem Laserpointer zwei Gestalten, die beide eine Hand am Ausziehgriff desselben Rollkoffers hatten.

Die Männer gestikulierten, offensichtlich im Streit. Die Gesten wurden ausladender, beide zerrten an dem Koffer, der zwischen ihnen hin und her gerissen wurde. Die Kamera ging nahe heran und folgte der Auseinandersetzung.

Einer der Männer ließ den Koffer los und fiel nach hinten, aus dem Sichtbereich der Kamera heraus.

Keine zwei Sekunden später wurde die Leinwand übergangslos grellweiß. Als das Bild zurückkehrte, zeigte es nur Rauch und Staub. Decker stoppte die Wiedergabe, bevor die Wolke sich gelegt hatte, und ersparte ihnen die grausigen Bilder, die sie ohnehin alle kannten und die sie noch lange mit sich herumtragen würden.

»Wie Sie sehen, können wir auf den Aufnahmen nicht unmittelbar erkennen, ob der Koffer, um den die beiden sich stritten, der Ausgangspunkt der Explosion war. Unsere Spezialisten hegen daran aber kaum Zweifel. Über die Machart der Bombe wissen wir noch nichts. Bei den Männern handelt es sich vermutlich um einen Wolfgang Boskop, deutscher Staatsbürger, und um einen Deutschtürken namens Ibrahim Kabaoglu. Boskop lebt, ist jedoch in kritischem Zustand. Kabaoglu ist tot. Er hinterlässt eine Frau und eine Tochter, die ebenfalls am Flughafen waren und derzeit psychologisch betreut werden, sowie einen Sohn. Sie alle wissen, dass wir mit massiven Vorverurteilungen vonseiten der Presse und der Bevölkerung konfrontiert sein werden. Wir haben einen Moslem und wir haben eine Bombe, für viele reicht das, um einen islamistischen Terroranschlag anzunehmen. Ich muss Ihnen sicherlich nicht sagen, dass uns das nicht zu interessieren hat. Unser Einsatz dient der Wahrheitsfindung, sonst nichts.

In Absprache mit der Polizeiführung haben wir auf die Einrichtung einer Sonderkommission verzichtet. Der Grund: Nach allem, was wir bisher wissen, handelt es sich um einen Einzeltäter. Wir haben bislang keinerlei Hinweise gefunden, dass es Hintermänner gibt. Trotzdem wird dieser Fall ein wenig über den Rahmen des Üblichen hinausgehen: Wir haben eine große Menge an Zeugen und Betroffenen, die alle vernommen werden müssen, und die Presse wird jeden unserer Schritte genau beobachten, ganz zu schweigen von Polizeipräsident und Innensenator. Seien Sie sich dessen bitte bewusst, und fordern Sie bei Bedarf zeitig weitere Kräfte an. Mit dabei ist der polizeiliche Staatsschutz in Gestalt des LKA 7. Herr Behrend und Frau Zander waren heute vor Ort, vielleicht hat der eine oder andere sie schon am Flughafen gesehen.«

Die beiden Kollegen nickten in die Runde.

»Und da der Tatort der Flughafen war, ist auch die Bundespolizei mit an Bord. Im Grunde fällt die Angelegenheit in ihren Zuständigkeitsbereich, aber da die Bundespolizei keine Tötungsdelikte bearbeitet, sind wir übereingekommen, dass die Sache von uns geführt wird. Wenn Sie irgendetwas von der BuPol brauchen, wenden Sie sich am besten an Herrn Kubicki.«

Der Bundespolizist nickte. »Gerne. Und entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug. Hätte ich gewusst, dass es hier so leger zugeht, hätte ich mir kein Bein ausgerissen, um noch zu duschen und die Uniform zu wechseln.«

Alle lachten.

»Wie Herr Decker ganz richtig sagte, liegt der Fall eigentlich bei uns, aber wir sind ganz froh, dass Sie sich darum kümmern. Wenn Sie die Kollegen von der Flughafenwache vernehmen wollen oder Augen und Ohren vor Ort brauchen, koordiniere ich das gerne für Sie.«

»Sehr schön, vielen Dank«, sagte Decker. »Auch von meiner Seite kann ich Ihnen allen volle Unterstützung zusichern: Sagen Sie, was und wen Sie brauchen, und Sie werden es bekommen. Also alles wie immer.«

Verhaltenes Lachen. Die prekäre Finanz- und Personallage der Polizei war ihnen allen bekannt.

»Noch Fragen? Gut. Ich übergebe die Leitung des Einsatzes hiermit an Herrn Thewes von der Mordermittlungsgruppe drei.«

»Danke«, sagte Arthur. »Wie gesagt, sieht es vom ermittlungstechnischen Standpunkt her nicht kompliziert aus. Sprengstoffexperten und die Spürhunde haben jede Ecke und jeden Winkel des Flughafens abgesucht, ohne einen Hinweis auf Mittäter oder eine weitere Bombe zu finden. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um einen Selbstmordanschlag handelt, womit wir keinen flüchtigen Täter mehr suchen müssten. Alleine der große Umfang des Tatorts, der Spuren und der Zeugen und nicht zuletzt, wie Herr Decker schon sagte, die große Aufmerksamkeit, die unserer Arbeit zuteilwird, machen die Sache aufwendig.« Er wandte sich an den Bundespolizisten. »Herr Kubicki, könnten Sie die Befragung der Angestellten am Flughafen übernehmen? Ihre Leute sind näher dran, man kennt sie, und Sie würden uns damit sehr helfen.«

Kubicki nickte. »Natürlich. Ich habe damit gerechnet, meine Leute sind bereits unterwegs.«

»Vielen Dank. Herr Behrend, Frau Zander, wie stellt sich die Sache aus Sicht des Staatsschutzes dar?«

Zander winkte ab. »Diffus. Ich wünschte, wir könnten Ihnen etwas anderes sagen, aber die Sache hat uns ziemlich kalt erwischt.« Sie war eine kleine rundliche Frau Anfang 40 mit kurzen dunklen Haaren. Obwohl sie entspannt auf die Unterarme gestützt am Tisch saß, strahlte sie eine ungeheure Dynamik aus.

Marie mochte sie auf Anhieb.

»Zwar hat die Terrormiliz ›Islamischer Staat‹ über ihren Propagandadienst Amak verlauten lassen, sie sei für den Anschlag verantwortlich, aber wie üblich wurde kein Täterwissen offenbart und nur spärlich Informationen herausgegeben: ›Der Ausführer des Sprengstoffanschlags heute in Hamburg ist ein Soldat des Islamischen Staates. Er führte die Operation nach Aufrufen zum Angriff auf Angehörige der Koalitionsstaaten aus.‹ Das war alles.«

»Ist es nicht ohnehin so, dass der IS bereitwillig die Verantwortung für jeden Vorfall übernimmt, der nur im Entferntesten nach einem Anschlag aussieht?«, frage Kubicki.

Zander nickte. »Im Grunde schon. Wir verlassen uns lieber auf unsere eigenen Erkenntnisse, aber die sind dieses Mal ausgesprochen dünn. Für gewöhnlich liegen uns bereits geraume Zeit vor einer Tat zumindest vage Beobachtungen vor. Wenn diese sich weit genug eingrenzen lassen, dann können wir die Tat oft verhindern. Wir kennen unsere Szene, die linke wie die rechte, und wir bekommen jede größere Erschütterung mit. Aber dieses Mal – nichts. Nicht bei den Islamisten, nicht bei den Rechten, nicht bei den Linken. Sogar die Reichsbürger machen Ferien.«

»Für mich klingt das nach Einzeltäter«, sagte Harald.

Behrend, ein großer Mann mit strubbeligen schwarzen Haaren und einem dicken Schnauzbart, nickte.

Er erinnerte Marie an eine ältere Beamtenversion von Tom Selleck als Privatdetektiv Magnum. Nur nicht so gut aussehend.

»Ja«, bestätigte Behrend, »scheint so. Aber im Regelfall haben wir auch die einsamen Wölfe auf dem Radar, denn auf die eine oder andere Art und Weise sind sie alle vernetzt. Extremisten wollen Bestätigung, sie lieben ihre Filterblase, wie das neudeutsch so schön heißt. Wir dürfen zwar nicht alles mithören, doch die meisten kennen wir.«

»Ibrahim Kabaoglu?«, fragte Marie. »War der bei euch bekannt?«

Zander schüttelte den Kopf. »Eine makellos weiße Weste. Braver Staatsbürger und Steuerzahler, kein einziges Mal in einer der Moscheen aufgetaucht, die wir im Fokus haben.«

»Also sehr vorsichtig? Oder hat er wirklich eine weiße Weste?«

»Meine Liebe, wenn wir das wüssten, wären wir ein gutes Stück weiter.«

»Es spricht aber dennoch eine Menge gegen Kabaoglu«, sagte Behrend. »Ich meine, er hatte im wahrsten Sinne des Wortes die Hand an der Bombe, oder?«

Allgemeines Nicken.

»Gut«, sagte Arthur Thewes. »Wir haben einiges auf der Liste: Familie Kabaoglu muss noch heute vernommen werden, und ich möchte so schnell und so genau wie möglich wissen, was heute Morgen passiert ist, von den beteiligten Personen bis hin zur Bauart der Bombe, dem Explosionsradius und allem, das uns helfen kann, den Vorfall zu rekonstruieren. Ich brauche Aussagen von den eingesetzten Polizisten, Ärzten, Feuerwehrleuten, alles.«

»Wir übernehmen Familie Kabaoglu«, sagte Marie.

»Dann übernehmen die Evangelisten die Tatrekonstruktion. Einverstanden?«

»Evangelisten?«, fragte Kubicki.

»Johannes und Markus, vermute ich«, sagte Zander.

Kubicki schmunzelte.

»Ist dieser Boskop schon vernehmungsfähig?«, fragte Thewes.

»Nein«, antwortete Markus Schnittgereit. »Wir waren vorhin im Krankenhaus Boberg wegen ein paar anderer Aussagen. Es scheint ihm besser zu gehen als befürchtet, aber noch ist nichts zu machen.«

»Okay, aber bleibt dran. Mit Glück können wir den Sack zumachen, sobald wir seine Aussage haben.« Arthur stand auf. »Wenn ihr mich bitte entschuldigt.« Er sammelte seine Papiere ein und verließ den Raum.

Für Marie wirkte es wie eine Flucht, und die verwunderten Gesichter ihrer Kollegen zeigten, dass es ihnen ebenso ging.

Er saß vor seinem Fernseher, unfähig, sich zu bewegen. Sein ganzes Sein war von den Bildern eingenommen, die über den Bildschirm flackerten. Die restliche Welt hatte aufgehört zu existieren. Seine Hände waren taub, und die Kommentare aus den Lautsprechern drangen wie durch Watte zu ihm und verhallten in der Leere in seinem Inneren.

»… 17 Tote …«, hallte es ihm durch den Schädel. »… Bombe … Koffer … Flughafen …« Die Kamera schwenkte durch die Halle. »… Turkish Airlines … Zuckerfest …« Bilder in seinem Kopf. Die Mutter, wie sie ihn küsste. Die Schwester, die ihn umarmte. Der Vater, der ihn anlachte und an sich zog.

In dieser Halle. In dieser Trümmerwüste.

Die Kamera zoomte auf den zerstörten Check-in-Schalter. Genau dort. Genau dort hatten sie sich verabschiedet. Genau dort war nun eine riesige, halb eingetrocknete Blutlache.

Das Telefon klingelte, aber es drang nicht zu ihm durch. Wie aus weiter Ferne vermischte es sich mit den Klängen und den Bildern aus dem Fernseher. Er bemerkte es nicht, ebenso wenig wie die Tränen, die ihm über das Gesicht liefen.

Gereizt trommelte Tim mit den Fingern auf die Armlehne des Sofas. Ihre Arbeit am Flughafen war beendet, alle Fahrzeuge wieder an der Wache, die Besatzungen aus dem Einsatz entlassen, aber Tim und viele andere waren noch geblieben. Das half, das Adrenalin herunterzufahren. Je nach Einsatz und Kollegen wurde mal mehr, mal weniger geredet. Auch das half, mit dem Erlebten fertig zu werden. Sie alle waren darauf trainiert, die furchtbaren Bilder nicht allzu nahe an sich heranzulassen, doch manchmal konnten selbst sie sich ihnen nicht entziehen. Niemand kannte das besser als die Kollegen, und niemand war besser geeignet, darüber zu reden. Oder zu schweigen.

Heute sahen sie die meiste Zeit die Berichterstattung über den Anschlag im Fernsehen an. Die Fakten waren offensichtlich, aber wenn Tim in seiner Zeit als Notfallsanitäter und Feuerwehrmann eines über die Presse gelernt hatte, dann das: Fakten reichten nicht. Nicht für die Nachrichten und erst recht nicht für die Boulevardpresse. Schon am Flughafen hatte an jedem Absperrband ein Reporter gestanden, das pflichtbewusst erschütterte Gesicht der Kamera zugewandt, und mit großem Ernst haltlose Mutmaßungen verkündet.

»Gut, dass die Polizei wenigstens schnell geschaltet und keinen von den Affen in die Halle gelassen hat«, sagte Tim. »Wären die uns auch noch über die Füße gelaufen, ich glaube, ich wäre ausgerastet.«

»Und was ist das?«, fragte einer der Jungs vom Löschzug und deutete auf den Fernseher. Das Bild war grob und wackelte heftig, aber es zeigte unverkennbar Tim, Mark und die langhaarige LNA bei der Wiederbelebung.

»Na super«, sagte Mark. »Das werden wir bis morgen alle zehn Minuten auf jedem Kanal sehen.«

Tim seufzte. »Geschafft hat’s der arme Kerl trotzdem nicht.«

»Wo, um Himmels willen, stand die Kamera?«

»Auf dem Löschfahrzeug.«

»Seid ihr bescheuert, den da raufzulassen?«

»Haben wir nicht. Der ist heimlich raufgeklettert, und wir haben ihn erst nach ein paar Minuten entdeckt. Jörg wollte ihn eigentlich mit dem C-Rohr runterpusten.«

Alle lachten.

Der Sprecher unterlegte die eingespielten Bilder mit Kommentaren, die aus den bekannten und hundertmal wiederholten Fakten gespeist und mit Spekulationen und Allgemeinplätzen aufgefüllt waren. »Der Ort der Explosion lag im vorderen rechten Teil der Halle«, sagte er. »Die Detonation war so heftig, dass das komplette Terminal verwüstet wurde. Es muss befürchtet werden, dass im Umkreis von vielen Metern niemand diese Explosion überlebt hat. Offizielle Zahlen gibt es noch nicht, aber unseren Informationen nach beträgt die Zahl der Todesopfer bis zu 20.«

»Stimmt gar nicht«, sagte Lars, der an diesem Morgen einer der ersten vor Ort gewesen war. »Der eine Typ, der war genau da, wo’s geknallt hat. Oder, Clemens?«

Sein Partner nickte. »Hat am Anfang noch vor sich hingebrabbelt. Sowas wie ›Das hätte nicht passieren dürfen‹.«

Tim nickte. »Ja, den haben wir später versorgt. Sah ziemlich finster aus.«

»Hat er euch denn überlebt?«

»Knapp. Ist als einer der ersten nach Boberg.«

»Da hatte er Glück. Die Verbrennungsbetten dürften in Nullkommanichts ausverkauft gewesen sein.«

Tim schnaubte. »Wer die Betten braucht, hatte per Definition kein Glück.«

»Aber er hat eine Chance.«

Tim schwieg.

»Hab ich schon wieder was Falsches gesagt?«

»Was hat der Mann mit ›Das hätte nicht passieren dürfen‹ gemeint?«

»Ist doch egal. Der war völlig durch den Wind. Keine Ahnung, was ich in so einer Situation sagen würde.«

»Du würdest wahrscheinlich Mark einen Heiratsantrag machen.«

Alle lachten, und Tim mit ihnen. Jetzt war nicht die Zeit zum Grübeln. Aber es nagte an ihm. Irgendetwas passte nicht, doch er kam nicht darauf, was.

In der Moschee waren sie nicht. Nicht im Gebetsraum, nicht in den Gemeinschaftsräumen, nicht im Waschraum.

Nervös streifte er durch die Gänge, öffnete jede Tür, sah in jedem Raum nach. Der Imam grüßte ihn, er grüßte flüchtig zurück, den Blick schon wieder woanders. Keiner von ihnen war da. Hatten sie ihn im Stich gelassen? Hatten sie ihn die Drecksarbeit machen lassen und waren dann verschwunden?

Es war Zeit für das Nachmittagsgebet. Er wünschte sich die Nähe des Barmherzigen. Also wusch er sich, ging in den Gebetsraum, richtete sich nach Mekka aus und hob die Hände. »Allahu akbar …«

Er betete, wie es vorgeschrieben war, aber sein Herz und seine Gedanken waren nicht bei der Sache. Die Erleichterung und die Ruhe im Geist, die er sich vom Gebet erhofft hatte, stellten sich nicht ein. Wie auch? Warum sollte Allah einem Sünder wie ihm Frieden schenken? Einem Mann, der all die getötet hatte, die ihm vom Höchsten zum Schutz befohlen waren – die eigene Familie?

Oder prüfte Allah ihn? Stellte er seine Glaubensfestigkeit auf die Probe mit dem höchsten Opfer, das ein Mann seinem Gott darbringen konnte? War es gar gerechtfertigt, die Familie zu opfern, um möglichst vielen Ungläubigen den Tod zu bringen? Hatte er sie Allahs Gnade als Märtyrer anempfohlen und ihnen einen Platz im Paradies verschafft?

Seine Brüder würden Rat wissen. Wo waren sie?

Er ging vor die Tür, suchte sich eine unbeobachtete Ecke und zog das Smartphone heraus. Zwar war es verboten, andere Mitglieder der Gruppe anzurufen – zu groß die Gefahr, dass eines ihrer Telefone den Ungläubigen in die Hände fiel –, aber das war ihm egal. Er musste Gewissheit haben.

Es klingelte und klingelte, dann sprang die Mailbox an und erklärte mit elektronischer Stimme, der Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar. Er versuchte es ein zweites und drittes Mal, bevor er es aufgab. Eine Nachricht hinterließ er nicht.

Frustriert steckte er das Smartphone weg und machte sich auf den Heimweg. Er war noch nicht weit gekommen, als es in seiner Tasche vibrierte. Der verschlüsselte Messenger, mit dem sie kommunizierten, zeigte eine neue Nachricht an. Hastig öffnete er sie.

»Nicht anrufen«, stand dort, darunter eine Adresse, die er nicht kannte, und eine Uhrzeit.

Eine Stunde. Dann würde sich alles aufklären.

Sein Blick fiel auf die Benachrichtigungsleiste. Ein Anruf in Abwesenheit.

Er tippte auf die Nachricht, die Nummer wurde angezeigt, und seine Welt drehte sich schlagartig in eine andere Richtung.

Es war die Nummer seiner Schwester.

Blaulichtmilieu

Подняться наверх