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Kapitel 4

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22. Mai

»Rechts ran, du Schnarchnase!«, brüllte Tim.

»Nun mal sachte«, sagte Mark. »Wo soll er denn hin?«

»Weg.« Tim hieb auf die Hupe, aber deren Laut ging im Lärm des Einsatzhorns unter. Quälend langsam sortierten sich die Autos vor ihnen, bis sich der Rettungswagen endlich wieder in Bewegung setzen konnte.

»Nur Sonntagsfahrer unterwegs«, brummte Tim, lehnte sich vor und blickte links und rechts in die Kreuzung, bevor er über die rote Ampel fuhr.

»Rechts ist frei«, sagte Mark. »Hast du schlecht geschlafen oder was?«

»Nee. Weiß nicht. Nicht mein Tag.«

»Wir sollten dich in die Leitstelle setzen, dann traut sich keiner mehr, die 112 anzurufen.«

»Ist ja gut. Wir sind da.«

Die Leitstelle hatte ihnen eine »Hilope« hinter dem Einkaufszentrum Hamburger Meile gemeldet – eine hilflose Person. Das konnte alles Mögliche heißen, aber in den meisten Fällen bedeutete es einen sturzbesoffenen Patienten.

Und auch dieses Mal wurden ihre Erwartungen nicht enttäuscht.

Als sie ausstiegen, wurden sie von einer besorgten jungen Frau auf ein paar Füße aufmerksam gemacht, die aus einer Hecke ragten. »Ich habe ihn gefragt, ob es ihm gut geht, aber er antwortet nicht richtig«, sagte sie. »Er macht einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Ich will ihm nicht Unrecht tun, aber ich glaube, er ist betrunken.«

»Na, dann schauen wir ihn uns mal an.« Mark dankte der jungen Frau, die davoneilte, froh, die Verantwortung los zu sein.

Den Patienten hätten sie auch ohne die Füße in der Hecke schnell gefunden: immer dem Geruch nach. Eine wilde Mischung aus verschüttetem Fusel, Eau de Ungewaschen und altem Urin.

Sie traten an die kniehohe Hecke, über die ihr Kunde offenbar hintenüber gekippt war. Er war weich auf einem Bett aus immergrünen Bodendeckern gelandet und schien kein Problem damit zu haben.

»Mohoin!«, sagte Mark. »Alles klar bei dir?«

Der Angesprochene, dessen Aussehen seinem Geruch um nichts nachstand, lallte heiser. Tim und Mark zogen Latexhandschuhe an und stiegen über die Hecke in das Beet. Sie fassten den Mann unter den Armen und setzten ihn auf.

»Wir haben heute aber reichlich früh angefangen, was? Ist ja noch nicht mal elf.«

»Kannst du stehen?«, fragte Tim.

Der Mann öffnete mühsam die Augen, blinzelte Tim an und fluchte auf Russisch. Oder Polnisch. Oder so. Tim hielt die Luft an, denn der Mundgeruch des Mannes war noch unerträglicher als seine sonstigen Ausdünstungen.

»Sprichst du Deutsch?«, fragte Mark.

»Hä?«

»Deu-heutsch!«, sagte Tim. »Verstehst du mich?«

»Fick dich in Arsch, Hurensohn!«, lallte der Mann.

»Dir auch einen schönen guten Morgen. Aufstehen?«

»Fick dich!«

»Eins, zwei, drei!« Sie hoben den Mann auf die Beine.

»Na bitte, geht doch«, sagte Mark zufrieden. Ein Besoffener, der noch auf zwei Beinen stehen konnte, war nichts für den Rettungswagen und damit auf jeden Fall erfreulich.

Ihr Schützling wirkte weniger enthusiastisch. Er riss sich von Mark los und schlug mit der Faust nach Tims Gesicht, der ihn mit dem Unterarm abwehrte.

»Hey, was soll der Scheiß?« Tim stieß den Kerl von sich.

Der Mann taumelte rückwärts durch das Beet, brachte aber das Kunststück fertig, nicht umzufallen. »Fick dich, Hurensohn!«, brüllte er.

Tim hatte die Nase voll. »Schluss jetzt, Mann, benimm dich!«

Der Betrunkene lallte etwas, das wie »Hau auf Maul« klang, es konnte aber auch Russisch sein. Er holte wieder aus und machte einen Schritt auf Tim zu.

Tim trat zur Seite und sah seelenruhig zu, wie der Kerl das Gleichgewicht verlor, über die Hecke fiel und lang hinschlug. Vom Alkohol aller Schutzreflexe beraubt, bremste nur sein Gesicht den Sturz.

»Super«, sagte Mark. »Ganz toll, danke.« Er sprang über die Hecke, drehte den Mann auf die Seite und untersuchte ihn. Blut lief ihm aus der Nase, eine heftige Schürfwunde zierte seine Stirn.

»Was denn? Hätte ich mir noch eins in die Fresse geben lassen sollen?« Tim öffnete den Notfallrucksack und entnahm ihm Packungen mit Zellstoff-Mullkompressen, die er aufriss und Mark reichte.

»Lass uns das im Wagen diskutieren. Denn jetzt, und dafür noch einmal vielen Dank, haben wir den Knaben endgültig an der Backe.«

Der Besoffene pöbelte und ruderte mit den Armen. Offenbar hatte er die Verletzung noch nicht bemerkt – kein Wunder bei seinem Pegel. Tim holte die Trage, und ohne viel Federlesens packten sie den Mann bei den schmutzstarrenden Klamotten und hoben ihn darauf. Eine erneute osteuropäische Schimpfkanonade war die Folge. Sie schnallten ihn fest und schoben ihn in den Wagen, aber er ruderte wild mit Armen und Beinen, versuchte, sich an allem festzuhalten, was ihm in die Finger kam, und lallte Obszönitäten in verschiedenen Sprachen.

»Mann, jetzt halt doch einfach mal die Flossen still«, schnauzte Tim. »Glaubt du, uns macht das Spaß?«

Endlich hatten sie die Trage drin. Sie kletterten hinterher und schlugen die Türen zu. Tim ging ans Kopfende und tastete dem Mann den Gesichtsschädel ab, um festzustellen, ob etwas gebrochen war. Auch das stieß auf wenig Gegenliebe.

»Hast du mich gerade angespuckt?«, brüllte Tim. »Hast du mich ernsthaft gerade angespuckt? Versuch das noch einmal, und du lernst mich richtig kennen, Freundchen!«

»Heil Hitler«, grölte der Penner und knallte Tim den ausgestreckten Arm an den Kopf.

»So, jetzt ist Feierabend, Junge, ich …«

Mark packte Tim am Kragen und zog ihn vom Patienten weg. »Schluss jetzt, klar? Geh nach vorne und fahr los!«

»Mann, der Wichser hat versucht, mich anzuspucken!«

»Der Typ ist nicht das erste und nicht das letzte Arschloch auf dieser Trage. Reiß dich zusammen!«

»Ist ja gut.« Er schaute ihren Patienten an. »Und wehe, du kotzt mir in den Wagen! Ich feudel den mit dir aus, klar?«

»Fick dich, Hurensohn!«

Tim zeigte ihm den Mittelfinger und stieg aus, um zum Fahrerhaus zu gehen.

Sie brachten den Mann ins Krankenhaus Barmbek und kippten ihn dort nach der Übergabe unzeremoniell von der Trage auf eine der gummiüberzogenen Matratzen auf dem Boden des Ausnüchterungsraums. Das hatte Vorteile: Man musste die Patienten nicht noch einmal anfassen, und wenn man es geschickt anstellte, landeten sie recht sanft in der stabilen Seitenlage.

Zurück im RTW steckte Mark den Schlüssel ins Zündschloss, ließ den Wagen jedoch nicht an, sondern drehte sich zu Tim. »Was ist los mit dir?«

»Was soll los sein?«

»Junge, du kannst ein ziemliches Arschloch sein, aber heute bist du echt ein Mega-Arschloch.«

»Danke für die warmen Worte.«

»Du weißt, was ich meine. Liegt’s immer noch an deiner missglückten Liebschaft?«

»Quatsch, die kann mich an die Füße fassen. Und außerdem ist das meine Sache.«

»Ist es nicht, wenn es dich zum Arschloch macht. Du solltest darüber reden.«

»Bist du jetzt meine beste Freundin?«

»Ich bin zwar schwul, aber aufs Maul hauen kann ich dir trotzdem.«

»Ist ja gut. Nein, das ist es nicht.« Er lehnte sich zurück und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Petra hat gestern angerufen.«

»Sag nicht, sie hat schon wieder das Wochenende abgesagt.«

»Wundert dich das?«

»Mich wundert, dass du dir das gefallen lässt.«

»Was soll ich denn machen?«

»Dich nicht verarschen lassen.«

»Brillante Idee, danke. Können wir dann?«

Mark machte keine Anstalten, den Wagen zu starten.

»Was ist?«, fragte Tim. »Möchtest du noch ein paar von meinen Problemen lösen? Wir könnten mit dem Koffeinmangel anfangen.«

»Das ist nicht der einzige Grund.«

»Was?«

»Petra. Das kenne ich. Du brüllst den Verkehr an, du fährst wie ein Henker und du bist unausstehlich.«

»Ich fahre nicht wie –«

»Aber du lässt es nicht an den Patienten aus. Niemals.«

»Hör mal, der Typ hat’s verdient.«

»Bestreite ich nicht. Trotzdem ist das nicht deine Art. Macht dir der Einsatz am Flughafen zu schaffen?«

Tim zuckte die Schultern. »Nee. Nicht direkt.«

»Das klingt nicht überzeugend. Brauchst du wen zum Reden?«

»Quatsch. Alles im Lack. Aber irgendwie lässt mich die Sache nicht los.«

»Was für eine Sache? Der Einsatz? Deine Frau Kommissar?«

Tim schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfen. »Das ist es nicht. Ich komme einfach nicht drauf.«

»Dass die Notärztin dich angeflirtet hat?«

»Hat sie?«

»Ich bitte dich!«

»Nein, es ist … Kennst du dieses Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt, aber du weißt nicht, was?«

»Du meinst, außer dass ein Terrorist sich und das halbe Terminal 1 in die Luft gesprengt hat?«

Etwas machte »klick« in Tims Kopf. »Doch. Genau das.«

»Was willst du damit sagen?«

»Wenn du ein Islamist wärst und Ungläubige mit in den Tod reißen wolltest, wo würdest du das machen?«

»Na ja, Flughafen ist schon mal –«

»Turkish Airlines?«

Mark dachte kurz nach. »Eher nicht.«

Tim setzte sich kerzengerade auf. »Warum ist mir das nicht vorher aufgefallen? Das ist doch total widersinnig!«

»Bist du jetzt unter die Detektive gegangen? Vielleicht ist was schiefgelaufen. Terminal verwechselt oder Bombe zu früh explodiert.«

»Aber …«

»Ich bitte dich, Miss Marple, meinst du nicht, die von der Polizei kommen da von selbst drauf? Oder die vom Verfassungsschutz? Das sind Profis.«

»Und wenn nicht?«

»Und wenn doch? Tim, Selbstmordattentäter sind Idioten! Wer, der bei klarem Verstand ist, sprengt sich selbst in die Luft? Wie klar könntest du denken mit zehn Kilo Sprengstoff um den Bauch?«

Tim dachte nach. »Wahrscheinlich hast du recht.« Er drückte den Knopf für die Statusmeldung »wieder einsatzbereit« am Funkgerät.

Fast augenblicklich meldete sich die Leitstelle: »23 Berta für Florian Hamburg.«

Tim nahm den neuen Einsatz an, froh darüber, nicht weiter über das Thema reden zu müssen. Womöglich wäre das Gespräch erneut auf Marie gekommen, und darauf hatte er gar keine Lust.

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