Читать книгу Die Traumjäger - Stefan Müller - Страница 4
Prolog
ОглавлениеNun sitze ich hier in einer noblen Hotelsuite mitten in Hongkong. Mein Name ist, oder besser war Johannes Becker, doch jeder nannte mich nur Jonny B, oder einfach nur John. Das war bevor das alles geschah, wovon ich nun berichten möchte. Mein Geist ist momentan recht angenehm von teurem Whiskey benebelt. Darum schreibe ich hier und jetzt die höchst eigenartigen Ereignisse nieder, die mich in eine fremde Stadt fernab meiner Heimat brachten. Ich bin nun unglaublich reich und berühmt, doch wer bin ich? Wohin wird mich mein Schicksal noch führen? Diese Tatsache und meine chronische Schlaflosigkeit sind ein Grund mehr, mit diesem Rückblick der Geschehnisse und Gedanken zu beginnen, die damals unausweichlich in das sichere Chaos führten. Ich hoffe, ich halte lange genug durch, bis das Ende meiner Geschichte erzählt ist. Vielleicht will ich mir nur selbst damit beweisen, daß alles nur ein Zufall war. Möglicherweise hoffe ich aber auch insgeheim, jemand wird dieses Skript lesen und etwas Verständnis für einen jungen Mann aufbringen, der bloß etwas Spaß und Freude haben wollte in einer Welt, die für Träumer und harmlose Spinner nur wenig übrig hat.
Ich halte die Ereignisse und den Frust in Frankfurt für einen der ursprünglichen Auslöser dieser Misere. Ein kleiner losgetretener Schneeball, der zu einer gewaltigen Lawine anschwellen sollte.
Es begann an einem sonnigen Montag. Der Wecker hatte gerade wieder gerappelt. Das bedeutete natürlich aufstehen und zur Arbeit gehen. Den ganzen Tag, die ganze gottverdammte Woche an der Waschstraße am Einkaufszentrum wie ein Idiot ein paar Mark verdienen gehen. “Aaaargh, zum Teufel!” Mit etwa diesen oder ähnlichen Worten begrüßte ich wie immer unflätig schreiend den neuen Morgen. Der feindselige Wecker wurde mit ein paar gezielten Schlägen außer Gefecht gesetzt, und der eigene Körper ohne jede Grazie aus dem Bett gehievt, so wie jeden Morgen. Ich griff nach der Packung Lucky Strike, die neben meinem Bett lag, zog den Rollladen hoch und wurde von den ersten Sonnenstrahlen wie von einer Laserkanone getroffen und augenblicklich wieder flachgelegt. Es herrschte monotone, Nerv tötende Stille und mir wurde klar, daß dies kein normaler Tag werden würde. Die Zigarette noch immer im Mundwinkel, alle Viere von mir getreckt starrte ich die Decke an. Viel gab es nicht zu sehen, außer vergilbten, schäbige Styroporplatten und ein Stromkabel, an dem eine blanke Fassung mit einer mickerigen 40-Watt-Birne baumelte. Ach ja, und eine fette schwarze Spinne, die auf das Frühstück lauernd regungslos in ihrem Netz wartete.
“Verdammt brummt mir der Schädel”; mag ich wohl gemurmelt haben. Aufstehen, Waschen, Anziehen und Frühstücken, alles lief mit automatischer Präzision ab. So verließ ich mein kleines Appartement und hoffte im Stillen, mein Fiat möge doch wenigstens an diesem Tag einmal anspringen, ohne daß ich den verhaßten Nachbarn um Starthilfe bitten müßte. Unsere beiderseitige Ablehnung resultierte aus einer einfachen Tatsache. Dieser Schnösel verachtete alles, woran ich glaubte, und im direkten Gegenzug stellte ich für den ehrenwerten Prokuristen einer renommierten Firma geradezu das Paradeexemplar einer degenerierten, verkommenen, arbeitsunwilligen Jugend dar, ohne Sinn für Zucht und Ordnung. Unnötige Konfrontationen vermeidend, zeigte er sich jedoch meist kooperativ, konnte er doch so den Ruf als Mr. Hilfsbereit untermauern, auf den er schließlich viel Wert legte. Wie dem auch so sei, auch wenn es nicht unbedingt das ideale nachbarschaftliche Verhältnis war, so lebten wir in friedlichem Einklang nebeneinander her und bot durch korrektes Verhalten dem Widersacher keine Blöße. Ansonsten mieden wir einander und gingen unsere eigenen getrennten Wege. Die klafften meilenweit auseinander und es bestand nicht das geringste Risiko, sich außerhalb des Mietshauses in die Quere zu kommen.
Wie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit, hielt ich bei meiner Lieblingsbäckerei an, kaufte mir zwei belegte Brötchen für die knapp bemessenen Pausen und ausnahmsweise noch die Tageszeitung. Keine Ahnung warum, vielleicht hatte mich ein seinerzeit besonderes Ereignis interessiert, oder einfach nur der langweilig geschriebene Sportteil. Egal, mißmutig wie immer fuhr ich durch Saarlouis, meine geliebte Stadt, heimliche Hauptstadt des Saarlandes. An einer roten Ampel - irgendwie sind morgens alle Ampeln rot - fiel mein Blick auf die Seite mit den Stellenannoncen, die zufällig aufgeschlagen auf dem Beifahrersitz lag. Eine dick umrandete Anzeige sprang mir sofort unwiderstehlich ins Auge. Sie bot eine, wenn auch nur geringe Hoffnung, dem alten trostlosen Trott zu entrinnen, dem ich stets so hartnäckig zu entkommen versuchte.
Damals habe ich natürlich noch nicht gewußt, daß es wieder nur ein vielversprechender Versuch werden sollte, in die große weite Welt hinauszuziehen. Und natürlich wurde ich bei meinem idealistischen Kreuzzug an eben dieses genagelt. Dabei sah doch alles so gut aus, in der Zeitung. Die Firma: PAXTON ENTERPRISES. Der Job: Abteilung Marketing, gute Englisch- und EDV-Kenntnisse. Die Stadt: Frankfurt.
Endlich ein solider Beruf, geregeltes Einkommen, gesellschaftliche Anerkennung, dachte ich. Und eine Stadt, die nicht zur Ruhe kommt, die meinen unersättlichen Drang nach Entfaltung hätte stillen können.
Das Problem: Eine mickerige Ausbildung zum Industriekaufmann, ein abgebrochenes BWL-Studium, sowie ein halbes Dutzend belangloser Angestelltenverhältnisse, von denen kaum eines die Dauer eines Jahres überlebt hatte.
Die Lösung: Ich mußte bloß ein kleines bisschen nachhelfen und meinen bescheidenen Lebenslauf etwas aufpäppeln. Das war es schließlich, was man von einem Angestellten einer Marketingabteilung erwarten durfte. Nämlich ein durchschnittliches Produkt, in diesem Fall mich selbst, als das Nonplusultra zu verkaufen. Und abgesehen davon war ich der beste Mann für diesen Job. Da war ich mir ganz sicher.
Trunken des eigenen Mutes machte ich mich noch am selben Abend an das Werk; die Bewerbung.
„So, jetzt wird mal so richtig vom Leder gezogen, die alten Säcke in der Personaldirektion wird es vom Hocker hauen“, dachte ich, ohne zu ahnen, daß genau das noch früh genug passieren sollte.
Euphorisch beflügelt erstellte ich eine Bewerbung, die eher in die Sagenwelt gehört hätte, als auf irgend eines Bosses Schreibtisch. Meine anfänglichen Übertreibungen steigerten sich ins Maßlose. Faustdicke Lügen rundeten das Bild zur vollkommenen Frechheit ab.
„Hauptsache ich mache auf mich aufmerksam“, dachte ich. „Denen werde ich schon zeigen, was ich drauf habe“, meinte ich unbekümmert. So nahm das Unglück seinen Lauf. Die Bosse, von meiner Dichtkunst beeindruckt, luden mich auch prompt zu einem Vorstellungsgespräch ein. Der gute, fast nie getragene Anzug war schnell entmottet, das schulterlange, rotbraune, zottig gelockte Haar wurde kurzerhand auf ziviles Niveau reduziert. (Was nimmt man nicht alles in Kauf). Die feinen Schuhe wurden sofort nach Auffinden, also nach zwei Stunden intensiver Suche, ordnungsgemäß poliert und der alte Fiat durch die Waschstraße geschickt. Dennoch nahm ich mir vor, ihn aufgrund diverser optischer Mängel sicherheitshalber mindestens einen Block weit weg zu parken.
An einem ansonsten unbedeutenden Donnerstag machte ich mich also auf den Weg. Es war ein herrlicher Frühlingstag, alles roch gut und die Welt erwachte nach dem kalten Winter zu neuem Leben. Neugierig drang die Sonne durch die Windschutzscheibe und erwärmte sanft mein Gesicht. Das alte, abgehalfterte Kassettentape krächzte optimistisch “We are the champions.” Ich kannte Frankfurt nur von einigen Besuchen bei Freunden her, die allesamt in furchtbaren Besäufnissen endeten und enorme Geld- und Gedächtniseinbußen zur Folge trugen. Natürlich war ich sehr nervös; erst recht, als das mächtige Paxton-Gebäude vor mir aufragte und seine ganze einschüchternde, furchterregende Monstrosität entfaltete, als ich die ersten Stufen des Portals erklomm. Es erschien mir wie ein Gigant, ein Bollwerk, eine kraftstrotzende Ansammlung von Beton, Stahl und eloxiertem Glas. Willens und bereit, jeder Wirtschaftskrise zu trotzen und jedem Bombardement standzuhalten. Jedoch nichtsahnend, welchen gefährlichen Virus es sich damit mir einzuhandeln drohte.
“Herbert Pohl, Personalabteilung. Sie sind sicher Johannes Becker, wenn ich richtig informiert bin.” Johannes, Johannes Becker. Mein Gott wie lange hatte ich diesen elenden Namen nicht mehr gehört. Wie schon gesagt, man nannte mich meistens einfach nur John. Und so fühlte ich mich auch. Ich glaube auch heute noch, jeder sollte das Recht haben, sich seinen Namen selbst aussuchen zu dürfen. Jedenfalls erhöhte sich schlagartig die Anzahl der Plätze, an denen ich mich zu diesem Zeitpunkt lieber aufgehalten hätte und strebte zielsicher gegen Unendlich.
“Bitte nehmen sie doch Platz, Herr Becker,”
“Danke.”
“Johannes Becker, 25 Jahre alt, ...aha, ...mmmmh, soso! Bemerkenswerte Bewerbung, Herr Becker, wirklich außerordentlich bemerkenswert.” Logisch, mit einem Lebenslauf so hochfrisiert wie ein Formel 1 Rennwagen.
“Wie ich sehe arbeiten Sie bereits seit mehreren Jahren bei der Saarmilch GmbH in einer ähnlich verantwortungsvollen Position.”
“Ja, das ist richtig”, log ich selbstbewußt, denn das war nicht richtig, sondern total falsch. Diese vorzügliche Referenz stammte von Frank, meinem guten Kumpel und Zechkumpan. Frank Hardfort, Sohn des millionenschweren Joghurtkönigs und uneingeschränkten Herrschers der Saarmilch GmbH, Gottfried Hardfort. Zu dessen Entsetzen fand Frank dummerweise Milchprodukte zum Kotzen, pfiff auf die ihm zugedachte Rolle als Kronprinz, strebte lieber eine Karriere als Rockmusiker an und umgab sich mit unwürdigen Kreaturen wie mir.
Jedenfalls spulte ich bei dem Vorstellungsgespräch mit traumwandlerischer Sicherheit mein Programm ab, log, daß sich die Balken bogen und seifte den ohnehin schon schleimigen Personalleiter so tüchtig ein, daß dieser verzückt auf seinem Sessel hin und her glibberte und zufrieden grunzte. Mit stolzgeschwellter Brust und dem erhabenen Gefühl, einen triumphalen Sieg und einen exzellenten Vertrag errungen zu haben, verließ ich anschließend den Paxton-Komplex, der bei weitem nicht mehr so einschüchternd und unbezwingbar auf mich wirkte wie noch ein paar Stunden zuvor.
Einen knappen Monat später kehrte ich mit ein paar Habseligkeiten und den besten Vorsätzen nach Frankfurt zurück und mietete mich im Dachgeschoß einer Altbauwohnung ein. In den ersten Arbeitswochen schien es noch so, als könne ich mich doch tatsächlich zu einem brauchbaren Mitarbeiter entwickeln. Zwar wurden meine Vorschläge stets abgewiesen, meist mit der Begründung sie seien zu gewagt oder zu extrem. Aber jeder konnte sehen wie eifrig ich immer zu Werke ging. Und wirklich, man mochte mich; einen 170 cm großen schmächtigen Zausel mit treuen dunkelbraunen Augen, der stets die besten Jokes auf Lager hatte und immer für die besten Lacher in seiner Abteilung sorgte.
Meinen großen Auftritt hatte ich dann bei der Betriebsfeier zum 50jährigen Firmenjubiläum. Ich saß an einem Tisch mit ein paar lockeren Jungs aus dem Vertrieb und einer Klasse aussehenden Brünetten von der Buchhaltung, auf die ich schon eine ganze Weile ein Auge geworfen hatte. Es war furchtbar langweilig und ich war schon ziemlich blau. Mein eigens für diesen Anlaß besorgter Schlips schnürte mir die Kehle zu und unterbrach allmählich den verbleibenden Rest der Sauerstoff- und Blutzirkulation. Also lockerte ich etwas den Knoten, trotz der durchaus begründeten Gefahr, mein rumorender Magen könne die so entstandene Situation dazu mißbrauchen, um sich der Unmengen alkoholischer Getränke zu entledigen, die ich bereits intus hatte. Die vier geschniegelten Idioten von Musikern in ihren schwul wirkenden Anzügen hatten gerade ihr letztes Stück beendet, bedankten sich höflich für den erhaltenen Applaus und verließen artig die Bühne. Jedoch natürlich nicht, ohne vorher die obligatorische Floskel zu erwähnen, was für ein reizendes Publikum man doch gewesen sei, und wie sehr sie sich darüber freuen würden, wenn sie wieder irgendwann einmal für uns spielen dürften. Das klang für mich eher wie eine ernstzunehmende Drohung als ein nettes Angebot. Außerdem erzielte ich noch immer keine nennenswerten Fortschritte bei meiner auserwählten Brünetten; was mich damals besonders ärgerte. Da ich meine Felle davonschwimmen sah, mußte augenblicklich etwas geschehen. Die Zeit dazu war reif. Der Laden benötigte dringend mehr Schwung.
“Hey Karin, wie wär’s mit einem kleinen Ständchen”, posaunte ich der jungen Frau ungestüm entgegen und deutete auf die verlassene Bühne, auf der nur noch die Instrumente standen und auf ihren Abtransport warteten.
“Mensch John, mach bloß keinen Quatsch, ...John!” Doch zu spät, ich war bereits schnurstracks Richtung Bühne unterwegs. Kippte drei randvolle Gläser Champagner auf ex, die das Pech hatten, auf dem Weg zum Ziel in meine Reichweite zu gelangen. Wobei ich die verdutzt dreinschauenden eigentlichen Besitzer der Getränke noch hämisch angrinste und rülpste. Auf der Bühne angelangt schnappte ich eine E-Gitarre der Blues Boys, drehte den Verstärker auf Maximum und ließ mit einer mächtigen Rückkopplung den Saal erbeben. Zufrieden betrachtete ich mein Publikum, das mich entsetzt und fassungslos anstarrte, verharrte einen Moment und legte richtig los. Schrilles Quietschen, verzerrtes Gejaule gepaart mit tödlich wüsten Rhythmuswechseln und immer wieder eingestreuten Rückkopplungen. So fesselte ich mein paralysiertes Publikum, das wie angewurzelt dasaß, unfähig einer Bewegung, unfähig auch nur einen Mucks von sich geben zu können. Wie im Rausch spielte ich eine Melodie, oder das was davon übrig blieb, denn von richtigem, vernünftigem Gitarrenspiel hatte ich eigentlich keine Ahnung. Doch auch diese Nebensächlichkeiten verdrängte ich ebenso gekonnt wie die letzte Spur vornehmer Zurückhaltung. Ich entlockte meinem Instrument die exotischsten Töne, die von dem Verstärker gnadenlos in die hilflos wirkende Schar von Opfern geprügelt wurde. Den Song, den ich spielte, erkannten die meisten wenigstens im Ansatz als das Firmenintro, welches seit einigen Wochen in Rundfunk und Fernsehen den neuen Werbeblock der Paxton Computersoftware einleitete. Nur präsentierte ich das gute Stück à la Jimmy Hendrix, der seinerzeit in Woodstock die amerikanische Nationalhymne in ähnlicher Weise “verunglimpft” hatte. Das Massaker war zu diesem Zeitpunkt bereits in vollem Gange und ich richtete mit einem wahrhaft diabolischem Crescendo ein akustisches Blutbad an. Als Zugabe wählte ich dann noch ein Stück von den Ramones. Mein Publikum hatte mich dazu nicht aufgemuntert, dessen bedarf es wohl keiner Erwähnung. Blankes Entsetzen, wohin man nur schaute, Chaos lag in der mit Heavy Metal hochgradig angereicherten Luft, Panik im Anflug. Ein paar Beherzte erhoben sich, bereit zu töten, wenn es sein mußte, denn diesem höllischen Szenario mußte umgehend ein Ende bereitet werden. Kawummm... Just in diesem Moment explodierte der hoffnungslos überlastete Verstärker mit einem gewaltigen Knall und erstarb in einem farbenfrohen sich über die Bühne ergießenden Funkenmeer. Die mir nahenden Angreifer setzen unbeirrt ihren Weg zur Bühne fort. Die Gefahr schien nun zwar gebannt, aber es paßte ihnen nicht, daß ich als Urheber noch immer am Leben war. Zum einen mußten sie ein gewaltiges Potential an Aggression und Mordlust abbauen, zum anderen glaube ich, die Meute wollte sich einfach nicht umsonst in Bewegung gesetzt haben. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mit offenem Mund ungläubig den geborstenen Kasten anstarrte, der kapitulierende Rauchschwaden von sich gab, hervorgerufen durch eine kleine bläuliche Flamme, die in seinem Inneren loderte. Das Todeskommando hatte mich nun fast erreicht und bereits die Arme nach mir ausgestreckt, als es urplötzlich dunkel wurde. -Kurzschluß-.
Die Hauptsicherung hatte sich verabschiedet. Das Gebäude mußte wohl eine Art Gegenwehr entwickelt haben, nachdem es erkannt hatte, welche Gefahr von dem Strom auszugehen vermochte. Die Angreifer griffen ins Leere und fielen reihenweise auf die Schnauze, wie die meisten der gepeinigten Gäste übrigens auch, die jetzt nicht nur taub, sondern zu guter Letzt auch noch blind waren. Sie tasteten sich an den Wänden und Tischen entlang. Entlang durch die Salatschüsseln, über die Mayonnaise verschmierten Teller hinweg, dann wieder durch ein paar Gesichter und Dekolletés; stets auf der Suche nach einem Weg ins Freie. Manche leisteten ganze Arbeit, indem sie beim Hinfallen gleich den ganzen Tisch mitrissen. Andere wiederum begnügten sich damit, die Gläser und Flaschen einzeln umzustoßen. Viele hielten es für das Beste, auf dem Boden, der mittlerweile im Morast zu versinken drohte, entlangzukriechen, da man sich über kurz oder lang sowieso immer wieder dort befand. Wohl dem, der einen guten Orientierungssinn besaß. Und auch mir gelang schließlich im Scheppern, Poltern, Wimmern, Weinen und Fluchen unerkannt die Flucht.
Mein Kopf dröhnte mir den ganzen nächsten Morgen, und die Hoffnung, die ich heimlich hegte, ich habe das alles nur geträumt, verblaßte augenblicklich, als ich das Paxton-Gebäude betrat. Man mied mich und ging mir aus dem Weg. Ich konnte regelrecht spüren, wie hinter meinem Rücken über mich geredet wurde. Teils grimmig, teils kichernd, jedoch immer mit vorgehaltener Hand. Also doch, Pech, dachte ich und schleppte mich an meinen Arbeitsplatz. Dort angekommen sank ich in den Bürosessel, fixierte mit meinen Blicken starr und bewegungslos die Tischlampe, als wollte ich sie hypnotisieren. Ich wartete auf das Exekutionskommando, welches mich zum Boß zerren und mich hinrichten würde. Und ich mußte nicht einmal lange darauf warten.
Wie ein Häufchen Elend saß ich im Büro des Chefs, als dieser mich zur Minna machte.
“Was zur Hölle haben sie sich denn dabei gedacht?”
“Äääh.. na ja..”
“Wissen sie überhaupt was für einen Schaden sie da angerichtet haben?”
“Öööh, also.” Meine Verteidigung verlief eher sporadisch. Was kann man auch schon tun, so erniedrigt an den Pranger gestellt? Außerdem war mir eh alles egal, mein Schädel brummte, und wenn dieser cholerische und humorlose Chef meinen Kopf haben wollte..., na bitte, meinetwegen, dann sollte er ihn eben kriegen. In diesem Zustand wäre ich ihn sowieso lieber losgewesen. Doch entgegen meiner Einschätzung der Situation ließ er Milde walten.
“Sie werden die nächsten Monate im Archiv mit Ablagen und mit der Ausgangspost verbringen. Da können sie in Ruhe über den Mist nachdenken, den sie verzapft haben. Und dort können sie wenigstens keinen Schaden mehr anrichten.” Diese Fehlinterpretation war wohl der folgenschwerste Irrtum, den mein Boß je in seinem Leben begangen hatte, wie sich später herausstellte sollte.
Verärgert über die kleinliche Reaktion meines Chefs räumte ich also das Feld und verschwand ins Exil. Aber am meisten ärgerte ich mich wieder einmal über mich selbst. Bravo, ich hatte es erneut geschafft. Wieder einmal hatte ich meinen Launen nachgegeben und einfach nur das getan, wonach mir einfach zumute war. Mein Motto lautete stets: Pfeif drauf, was andere sagen, scher dich einen Dreck um das, was andere denken, tu einfach nur das, wozu du in Stimmung bist. Eine Lebensphilosophie, die zwar nachvollziehbar erscheint, aber einem fünfundzwanzigjährigen Mann doch einige Probleme bereitet. Einem Teenager verzeiht man eher exzentrische oder naive Untugenden als einem jungen Mann im leicht fortgeschrittenen Alter, bei dem bereits Vernunft und Verantwortungsbereitschaft erwartet werden durfte. Die logische Folge: Ich machte mich zusehends chronischer Unreife verdächtig. Dennoch ging ich immer unbeirrt meinen Weg, gleich was da kam, gleich was es kostete, gleich wie oft ich mit dieser Einstellung Schiffbruch erlitt. Integration bereitete mir schon immer gewisse Probleme. Die Vorstellung, Menschen müssen mit militanter Präzision gehorsame, gut geölte Zahnräder der Gesellschaft sein, ließ mich erschauern. Das bedeutete für mich den Tod jeder Art von Individualismus und Kreativität. Folglicherweise mußte ich gleich die ganze Gesellschaft in Frage stellen. Meine leicht paranoiden Vorstellungen von dem, was schlicht als “leistungsorientierte Gesellschaft” bezeichnet wird, machte es mir damals echt nicht leicht. Es bedeutete schlichtweg eine Art von persönlichen Hochverrat, mich vor anderen Leuten als etwas darzustellen, das ich nun mal nicht war. “Ich bin, wer ich bin, und wer mich so nicht mag, der soll es eben bleiben lassen.” Mit diesen Worten beendete ich oft total danebengegangene Tage. Doch wenn ich in dieser Welt überleben wollte, mußte ich mir etwas einfallen lassen. So schuf ich mir eine Figur, in die ich je nach Bedarf schlüpfen konnte. Mit dieser Hilfe mogelte ich mich immer irgendwie durch. Diese Karikatur eines netten jungen Mannes von nebenan wurde mir im Laufe der Jahre so vertraut, daß ich jeden aufs Kreuz legen konnte. Oft genug hatte ich so das Spielchen der “normalen Leute” mitgespielt, wie beispielsweise bei dem Einstellungsgespräch. Natürlich genoß ich es, wie ein Chamäleon in eine Rolle zu schlüpfen und einfältige Spießer an der Nase herumzuführen. Meist gelang mir das auch, aber dummerweise war der Erfolg nur auf Dauer begrenzt, bis mein wahres Ich wieder durchschlug und ich mich wieder zum Idioten machte.
Sie gefiel mir eigentlich ganz gut, die kleine Besenkammer, welche man mir zugewiesen hatte, die mich in Schach halten und isolieren sollte. Hier ging es weit weniger stressig zu, als im Marketinggroßraumbüro. Und ich nutzte die Zeit für die endlosen Tagräume, Spinnereien und Philosophien, die mich schon ein ganzes Leben begleiten. Sogar ein PC war mir geblieben, den ich auch weiterhin fleißig gebrauchte, um massenweise eigenartige Werbeslogans zu produzieren. Nur diente der Zweck dieser Arbeit ausschließlich meiner eigenen Belustigung. Mit lausbubenhaftem Grinsen zauberte ich so die unverschämtesten Parolen auf Diskette, die je ein krankes Gehirn verbrochen hatte, und dann kringelte ich mich anschließend vor Lachen.
“Welche Spinnerei ist dir denn jetzt schon wieder eingefallen?” Cindy aus der Verwaltung brachte wie jeden Tag gegen 3.00 Uhr ihre Post vorbei, deren Weiterleitung ja nun mein neuer Job war. Sie konnte mich durch ihre großen Brillengläser sehen, wie ich wiehernd und brüllend vor Lachen auf dem Tisch hing und mit der Faust auf die Tischplatte einhämmerte. Mit der anderen Hand winkte ich ihr zu, rappelte mich mühselig auf meinem Stuhl auf, wischte mir eine Lachträne von der Backe, hielt einen Moment lang inne und legte anschließend wieder voll los. Jedesmal wenn ich glaubte, mich gefangen zu haben, wand ich mich Cindy zu, wollte etwas sagen, blickte dabei in ihr verdattertes Gesicht und sofort war wieder alles vorbei. Dieses lustige Spielchen wurde noch einige Male wiederholt, ehe ich etwas Verständliches hervorbringen konnte.
“Hey Cindy, nix für ungut, komm rein.” Die hochgewachsene schlanke Frau nahm Platz, hob eine Augenbraue, schüttelte kaum merklich den Kopf und lächelte sanft.
“Oh John, du verrückter Vogel, wirst du denn nie erwachsen?”
“Natürlich nicht! Jedenfalls nicht bevor ich wenigstens einen Stimmbruch hatte. Der steht mir schließlich zu. Bis dahin befinde ich mich in meiner vorpubertären Phase und pflege meine Pickel”, sagte ich und gewann allmählich die Fassung zurück, schluckte die letzten aufkommenden Gluckser runter und putzte mir die Nase.
“Das Leben kann wirklich sehr komisch sein, Cindy, es sind immer die Kleinigkeiten, auf die es ankommt, die das Leben lebenswert machen. Sei mal etwas lockerer und spontaner, dann siehst du es auch”, tönte ich übermütig und leider nicht sonderlich taktvoll.
“Ich kann genauso locker und spontan sein wie jeder andere auch!” konterte mein zurecht leicht gekränktes Gegenüber.
“Für mich gibt es wenigstens noch erstrebenswertere Ziele, als aus dem Leben einen einzigen Zirkus zu veranstalten. Mach dir lieber mal Gedanken um deine Zukunft. Als Pausenclown bringst du es weder hier noch sonstwo zu etwas.” Aua, das tat weh. Die agile junge Frau knallte mir unwirsch die Post vor die Nase und verließ energisch den Raum, ohne sich noch mal umzuschauen. Ich Idiot saß noch eine ganze Weile stumm und mit offenem Mund da und grübelte, was Cindy wohl damit gemeint haben könnte. Der einzige Schluß zu dem ich kam war der, daß ich es in Zukunft tunlichst vermeiden würde, Frauen als unspontan zu bezeichnen. Eigentlich mochte mich Cindy ja ganz gerne, weil ich ihr gegenüber stets charmant war, und weil ich sie immer aufmuntern konnte, wenn es ihr nicht gut ging. Aber sie hatte sich im Leben alles hart erkämpfen müssen, und es brachte sie auf die Palme, wenn sie sah, wie ich mich mit meiner ignoranten Art über alles lustig machte und nichts und niemanden ernst nahm. Mir schien wirklich gar nichts heilig zu sein, und heute glaube ich, Cindy grübelte insgeheim darüber, ob es wohl irgendetwas in meinem Leben geben würde, was mir wichtig sei, oder ob etwas existieren könnte, woran ich wohl glaubte.
Der Kaffeeautomat in der fünften Etage wurde bestimmt nur aus einem einzigen Grund dort errichtet, nämlich zum Töten meiner Geschmacksnerven. Ein weites Mosaik in einem teuflischen Plan, der mich in den Wahnsinn treiben sollte. Oder hatten sich etwa selbst die primitivsten technischen Geräte gegen mich verschworen? Ich beäugte argwöhnisch und angeekelt die braune Flüssigkeit in meinem Plastikbecher und würgte sie anschließend in kleinen Schlucken runter. Meine Blicke wanderten aus dem Fenster. Der Sommer war mittlerweile gegangen, und der Herbst ließ von der stolzen Pracht der mächtigen Eichen nur noch ein paar verdorrte Blätter übrig. Und selbst die würde er sich noch nehmen, dachte ich, bevor er dem Winter endgültig weichen und das Land der Kälte und der Trostlosigkeit überlassen müßte. Warum um alles in der Welt ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich Geldmünzen in diesen hundsvermaledeiten Kasten steckte, wohl wissend, daß dabei niemals etwas anderes zutage kommen könnte als das, was ich einmal mehr mit schmerzverzerrter Miene geschluckt hatte. Noch ehe ich mir selbst eine passende Antwort auf diese hochwichtige Frage geben konnte, laberte mich jemand von der Seite an.
“Hier hängst du also rum und träumst vor dich hin. Ich hab dir die Diskette mit der neuen überregionalen Werbeannonce auf den Schreibtisch gelegt. Mach Kopien davon und laß sie den üblichen Magazinen und Tageszeitungen zukommen. Und gib mal ein bißchen Gas, wir sind diesmal spät dran. Morgen ist bei den meisten Redaktionen Annahmeschluß!” Dieser elende Mensch mit dem Ton der Autorität war einst mein Arbeitskollege gewesen. Doch nachdem er sich der lästigen Konkurrenz entledigt wußte, trampelte er auf mir nach Herzenslaune herum und kommandierte und jagte mich durch die Gegend. Für ihn war ich bereits geschlagen und lag niedergerungen auf dem Boden.
“Bin ja schon unterwegs”, antwortete ich reumütig und flüchtete leise fluchend in Richtung Besenkammer. “Verrecke, Elender”, murmelte ich und begann mit dem Kopieren der Diskette, während meine Gedanken längst wieder um einen heimtückischen Automaten kreisten, der absichtlich ungenießbare Getränke produzierte.
Wenige Tage später explodierte dann die Bombe. Der ganze Gebäudekomplex war in heller Aufruhr. Sämtliche Leitungen standen nicht mehr still, die Telefone rappelten unaufhörlich. Dem kompletten Netz drohte der Kollaps. Paxton Industries befand sich in der größten Krise seit der Gründung vor fünfzig Jahren, und zu diesem Zeitpunkt schien es mehr als fraglich, ob es das einundfünfzigste noch erleben durfte. Eine Notstandssitzung wurde einberufen. Sie sollte erörtern, wie der bevorstehende Untergang noch abzuwenden sei. Eingeschaltete Topanwälte sollten Pläne vorlegen, wie der entstandene Schaden auf erträglichem Niveau gehalten werden konnte. Schon in den frühen Morgenstunden bekamen alle Vorstandsmitglieder Anrufe, mit der freundlichen Bitte, einen Blick auf die gerade erschienene Tageszeitung zu werfen. Ihnen schossen augenblicklich 5000 Volt durch die vor Schreck erstarrten Körper. Das Blut verließ ihre Eierköpfe und verkrümelte sich in tiefere Regionen, ließ blasse Nasen zurück. Unfaßbar, was da geschrieben stand. Zwanzig Minuten später traf man im Präsidium ein, ließ eine Analyse erstellen, schätzte das tatsächliche Ausmaß des Desasters ab und zitierte mögliche und unmögliche Verantwortliche hinzu, die ihre Berichte zu dem ereigneten Vorfall ablegten. Der Schuldige für diesen ganzen Schlamassel, nämlich ich, lag währenddessen friedlich schlafend im Bett meiner Dachwohnung. Natürlich hatte ich nicht den geringsten Schimmer davon, daß ich praktisch im Alleingang den Riesen namens Paxton in den Grundfesten erschüttert und ihn gefährlich nahe an den Rand des Abgrundes gebracht hatte. Also zog ich die Decke über den Kopf und ergaunerte noch ein paar Minuten Schlaf, ehe ich aufstehen und einem ganz normalen Arbeitstag entgegentreten wollte. Aber was genau war eigentlich geschehen? Eigentlich unterlief mir nur ein klitzekleiner Fehler, allerdings mit verheerender Wirkung. Ich Unglücksrabe hatte nämlich die falsche Diskette kopiert und verschickt, und so gelangte anstatt des von Profis sorgsam ausgearbeiteten Werbeslogans mein letztes Juxwerk an die Öffentlichkeit. Und das in allen großen Tagesblättern.
GEWALT, BLUT, HORROR, SEX
PAXTON SOFTWARE BRINGT ES JETZT
Ein Sturm der Entrüstung brach über Paxton Industries ein, es hagelte Proteste und Drohungen. Gerichtliche Schritte wurden eingeleitet. Von verantwortungsloser Jugendgefährdung und groben Verstößen gegen Moral und guten Sitten war die Rede. Paxton landete auf diversen schwarzen Listen von Verbraucherverbänden, die durch Boykottaufrufe das Unternehmen in die Knie zu zwingen versuchten. Die Medien hatten endlich etwas worauf sie sich stürzen und was sie zerfleischen konnten. Was sie übrigens auch sehr effektiv taten. Paxton Industries war in aller Munde. Mit mir wurde kurzer Prozeß gemacht. Ein weiteres halbes Dutzend Köpfe fielen ebenfalls dem Skandal zum Opfer. Mit Entschuldigungen, Bedauerungen, Beteuerungen, Versprechungen und diversen anderen ...ungen suchte man einen erträglichen Weg aus der Affäre. Auch wenn es noch eine sehr lange Zeit dauern sollte, bis sich die erhitzen Gemüter wieder beruhigten, so zog doch allmählich wieder der Alltag ein bei Paxton Enterprises. Natürlich ohne mich, denn ich wurde mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt, und ich verließ Frankfurt bei Nacht und Nebel. Still und leise trat ich den weiten Weg nach Hause in das Saarland an.