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4. Seltsamer Tag

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Der nächste Tag verlief besonders grausam, darum erinnere ich mich noch sehr gut an ihn; wenn auch nicht unbedingt gerne.

Ich mußte doch mehr getrunken haben als ich dachte, denn ich erwachte mit mörderischen Kopfschmerzen, einem Kloß im Hals, einer Magenverstimmung und einem undefinierbaren Geschmack im Mund; und mit erheblicher Verspätung. Falsch, ich hatte glücklicherweise die Nachtschicht an diesem Tag. Total am Ende ging ich ins Bad und nahm eine Dusche. Mit den Bewegungen eines alten Greises, der Kleider entledigt, zog ich den Duschvorhang zurück, verlor das Gleichgewicht, suchte es, fand es nicht und stürzte mit den Armen wild rudernd, die Faust in den Duschvorhang gegraben, “klatsch” auf den Boden. Der Vorhang, der Belastung nicht gewachsen, verabschiedete sich von den netten kleinen bunten Ringen, die ihr Dasein aufgereiht auf einer Stange fristeten und begrub mich, die arme Sau, unter ihrem geblümten Muster.

“Auua, ...Scheiße, ...Aauuuh!” Benommen und benebelt verließ ich kriechend das Bad, stieß mir den Kopf an einem weiteren harten Gegenstand (wie gefährlich doch so eine Wohnung sein kann), erklomm die Couch und fiel in Tiefschlaf. Eine oder zwei Stunden später kehrte ganz langsam wieder Leben in meinen so arg geschundenen Körper zurück, vorsichtig sondierend, ob sich das überhaupt lohnen würde, jederzeit bereit, die Aktion wieder abzubrechen.

“Uaheh, ich lebe noch, ..oder?” stammelte ich noch im Halbschlaf.

“Natürlich tust du das.”

“Was...? ...Wie...?” Zu Tode erschrocken fuhr ich herum, auf der Suche nach dem Ursprung der unerwarteten Antwort, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Den Tisch, die Stühle, da der Sessel, eine leere Packung Cornflakes, Jenny, die alte Vitrine, die Couch... Moment mal, Jenny? ...Jenny?

“Jenny, du hier.., Scheiße, seit wann das denn?”

“Schon eine ganze Weile, ich wollte dich bloß nicht aufwecken, du siehst ja ganz schön mitgenommen aus.”

“Gestern, ach ja, ja das war ganz gut, ...irgendwie.” Natürlich wollte ich Jenny nichts von unseren Plänen verraten, sie war schließlich noch viel zu jung, um mit dem Gesetz in eine Auseinandersetzung zu geraten.

”Ich habe vorhin geträumt, mein Kopf sei eine Flipperkugel, und ich muß eine Menge Punkte gemacht haben.” Ich torkelte unsicher auf den Füßen ziellos und verwirrt durch die Wohnung.

“Ach so ist das, alles klar, ...aber” Jenny hockte im Sessel, knabberte Chips, die noch übrig waren, und ohne eine Miene zu verziehen deutete sie vage in meine Richtung. “Aber sag mal, warum bist du nackt, und warum hast du den Duschvorhang In der Hand?” Herrje, nun war ich völlig perplex, riß die rechte Hand hoch empor und..., in der Tat, in der noch immer geballten Faust zappelte ein hilfloser geblümter Duschvorhang in meiner Hand. Ich starrte ihn ungläubig an, wendete meine Blicke ab und schaute noch ungläubiger an mir herab. Und ja, zum Teufel, ich hatte tatsächlich nichts am Leib. Mit einer blitzartigen Bewegung verdeckte ich meinen Genitalbereich mit dem Vorhang, lief knallrot an und zog verlegen grinsend den Rückzug ins Bad an. Jenny verfolgte amüsiert das Schauspiel, bis ich im Bad verschwunden und die Tür zugefallen war, richtete achselzuckend ihr Augenmerk wieder den Chips zu und schaltete den Fernseher ein.

“Sag mal, John, was gibt es heute zu essen, von den Chips allein werde ich bestimmt nicht satt.” Noch den frühmorgendlichen Schreck in allen Gliedern, fuhr ich raus zu Joe, Einzelheiten für den Plan mußten noch besprochen werden. Ich wußte, daß er sich zwei Tage frei genommen hatte, weil er an seinen Bildern arbeiten wollte. Vor dem alten Bauernhaus weit draußen in der Prärie parkte ich, stieg ich aus und trat in Hundescheiße. Ein leichtfüßiger Jogger in nagelneuen Turnschuhen der neuesten Marke, erst kürzlich im Fernsehen präsentiert, beobachtete die Szene und erhöhte kopfschüttelnd das Tempo. Eine nicht untypische Reaktion für mich und mein altersschwaches Gefährt. So seltsam ich als Mensch damals auch gewirkt haben mochte, so ungewöhnlich wirkte auch mein treues Fahrzeug. Geprägt von einem außergewöhnlichem Auftreten, unkonventioneller eckiger Form, leicht schlampig war es auch, zerknittert und unaufgeräumt. Mitleiderregend und natürlich auch provozierend, unliebsames Aufsehen erregend wo immer es erschien. Neue Autos mochte ich nicht, sie hatten keine Seele, keinen Charakter. Nein, ein Wagen, wie ich ihn liebte, mußte von Schrammen und Blessuren übersät sein. Resultate gemeinsam überstandener Erlebnisse und Abenteuer. Für mich stellte der Fiat, genannt Bigfish, nicht nur ein zweckgebundenes Fortbewegungsmittel dar, sondern es war mein Freund, mein Kumpel, ein Spiegelbild meiner selbst. Das morsche Gebäude erweckte den Eindruck, als könne es der nächsten Windböe kaum standhalten, schiefe Fenster drohten aus dem Rahmen zu springen, das Dach stand kurz vor dem Einsturz. Ich schlenderte den mageren Büschen entlang, welche die Auffahrt säumten und läutete an der Tür. Von drinnen stampfte der Baß, angetrieben von mächtigen HiFi-Boxen, irgendwas von Bob Dylan, so vermutete ich. Ich klingelte ein weiteres Mal. Die Tür ging auf und ein unbekanntes Gesicht grinste mich an.“ Komm rein, willst du einen Joint?”

“Danke nein, im Moment nicht, ich habe heute schon etwas vor meine Birne geknallt, „ist Joe oder Pam da?” Pam, Joes Frau. Von unscheinbarer Art und Schönheit, natürlich ebenfalls eine Hippiefrau. Joe und sie lebten mit Gleichgesinnten in einer WG, machten einen auf Alternativaussteiger oder was auch immer. Die genaue Anzahl der Mitbewohner wußte niemand so recht, sie schwankte ständig, interessierte aber auch keinen großartig. Es war, als ob man eine Zeitzone verläßt und durch ein Portal eine fremde Welt besucht. Wie üblich fasziniert, bahnte ich mir einen Weg durch die Relikte einer längst vergessenen Zeit, fand Pam beim Brotbacken in der Küche.

“Hey John, du suchst sicher Joe, wenn er nicht hinter dem Haus ist und Holz hackt, ist er bestimmt oben und malt an einem seiner Bilder weiter.” Wirklich zu komisch, Pam stand am Herd, summte ein Lied und backte Brot, barfuß, in einem bunten Kleid, die langen braunen Haare zurückwerfend, immer lächelnd. Sommersprossen überall im Gesicht und mit einer abgeschlossenen Juraausbildung in der Tasche. Man mußte sie einfach lieb haben, sie, die liebevoll und gütig für jeden ein nettes Lächeln übrig hatte und Joe nie davon abhielt, mit seinen schrägen Vögeln loszuziehen. Wütend oder schreiend sah sie nie jemand, gab es ein Problem, wurde darüber diskutiert und vernünftig abgestimmt. Was bedeutete, daß sie fast jedesmal ihren Willen durchsetzen konnte, da die Vernunft stets auf ihrer Seite war. Wie ausgerechnet diese vernünftige, gutaussehende Frau mit dem so unvernünftigen Joe zusammenkam, habe ich nie kapiert. Vielleicht, weil Gegensätze einander anziehen, oder vielleicht liebt sie ihn, weil Joe, wenn er an etwas glaubt, mit leidenschaftlicher Besessenheit zu Werke ging. Auch wenn er dabei jedesmal unerträglich wird, sich total hineinsteigert, gnadenlos übertreibt und kilometerweit über das Ziel hinausschießt. Wie dem auch sei, von funktionierenden Partnerschaften hatte ich eh keine Ahnung und habe sie auch heute noch nicht. Meine diesbezüglichen Erfahrungen und Exkursionen endeten allesamt im Chaos, die mit Herztropfen und Beruhigungsmitteln verarztet wurden.

“Was wird denn das, wenn es fertig ist?” fragte ich Joe, als ich in sein Atelier reinpolterte und diesen vor einem seiner Werke hocken fand, gedankenversunken und mit dem Pinsel in verschiedenen Blautönen rührend.

“Mmmmh mmmm mmmh!!” kam eine Antwort gegrummelt, in einer Art, in der ich sie in etwa erwartet hatte. Ich wußte ja, wie empfindlich Joe sein konnte, oder besser wie empfindlich jeder Künstler sein kann, wenn ignorante, kunstunverständige Kommentare ihren Schöpferakt unterbrechen. Ich zog meine Jacke aus und gesellte mich zu Joe auf den Boden. Überall wimmelte es nur so von Utensilien, die der Malerei dienen, scheinbar wahllos verteilt und doch einer höheren Ordnung unterworfen, die wohl nur begnadete Künstler begreifen können. Räucherstäbchen verbreiteten den penetranten Geruch von Opium. Joe berichtete mir einmal, er besäße eine orientalische Seele, die in einem abendländischen Körper gefangen sei. Wie so vieles von dem, was Joe mir sagte, verstand ich auch dabei nicht, was er gemeint haben könnte. Das riesige Loch in der Wand riß er selbst ein, es erzielte, durch ein passendes Fenster ersetzt, den gewünschten Lichteffekt, den er wollte. Das ganze Zimmer war für Joe ein Tempel, ein Quell der Inspiration. Für normale Menschen wohl eher eine verdammte Rumpelkammer. Unsere lebhafte Unterhaltung klärte schnell die letzten Feinheiten bezüglich unseres Vorhabens, und auch der Blauton entsprach allmählich Joe’s Vorstellungen, er brummte zufrieden.

“Yo man, dann ist ja alles geklärt, bleibst du noch zum Essen?”

“Nee, laß nur, ich bin schon spät dran. Ich habe doch heute die Nachtschicht. Bis dann, schönen Gruß an Pam. ”Die Zeit bei der Arbeit wollte einfach nicht vergehen, und es waren noch fünf lange Stunden bis zum Feierabend. Müde und träge rollte der Verkehr vorbei an der Tankstelle; meiner Tankstelle. Ab und zu hielt ein Reisender sein Fahrzeug an und tankte, und einige wenige Nachtschwärmer betraten den Laden, schnappten sich Zigaretten und Schokoriegel. Nachts war eben nicht so viel los, es gab nicht viel zu tun. Ich schaute diesen Menschen gerne nach, grübelte, woher sie kamen und wohin sie wohl gingen, emsig wie die Ameisen. Sie tauchten aus dem Nichts auf, tankten , ...brumm, und verschwanden wieder. Ich fragte mich, ob sie alle ein Ziel hatten, oder ob sie ziellos umherirrten, wie verlorene Seelen im Schutze der Nacht. Oder wie in die Irre geleitete, die ihr Zuhause suchten. Für jeden dachte ich mir eine passende Geschichte aus, lag dabei garantiert total daneben, aber egal. Jedenfalls wollte meine Phantasie in dieser Nacht nicht so recht zünden. Ich griff nach dem Penthouse Magazin, hoffend, die netten Bilder könnten mich ein wenig stimulieren und mir ein wenig Abwechslung verschaffen; aber der Versuch schlug fehl. Unruhig wippte ich auf dem Hocker hinter der Kasse und spielte mit den Feuerzeugen, die in einer Plastikschachtel auf der Theke standen und allesamt mit nackten Frauen versehen waren. Ich wählte mir eine Favoritin aus und verlor erneut das Interesse. Die körperliche und geistige Anstrengung des letzten Tages forderten ihren Tribut. Den Kopf auf die Handinnenflächen gestützt, den Mund zu einer Schmollmiene verzogen, versackte ich in einen Traum. Aus dem beschissen sitzenden Arbeitskittel wurde eine prachtvolle Lederjacke, die Bundesstraße 59 verwandelte sich kurzerhand in den Highway Number One. Der Hocker auf dem ich saß war plötzlich ein Motorrad. Ich spürte das Vibrieren der Harley, die kraftvoll im unteren Drehzahlbereich für ausreichenden Vortrieb sorgte und durch leichte Bewegung des rechten Handgelenks donnernd losbrüllte. Im Traum versank die Sonne effektvoll im Meer und hinterließ für einen Moment in Purpurfarben getauchte Bergketten und schroffe düstere Klippen, die aus dem Meer ragten und nach vorbeiziehenden Möwen schnappten. Ein warmer Wind blies mir heftig ins Gesicht und zerrte an meiner Kleidung. Das Haar wehte wild, eine dunkle Sonnenbrille schützte und unterstrich die betont lässige Haltung. Ich trieb die Maschine voran, spielte mit ihrer Muskelkraft und gab die Zügel frei. Eine junge Frau mit endlos langen Beinen, in kurzen Shorts und mit knappem Top stand, den Daumen erhoben, am Straßenrand. Braungebrannt, mit langen blonden Haaren und den weißesten Zähnen, die nur für mich strahlten. Ich schaltete die Harley runter bis in den ersten Gang; bei jedem einzelnen Einrasten der Getrieberäder fauchte der Motor stolz auf. Ich hatte alles im Griff, zähmte den Boliden, brachte ihn zum Stehen.

“Hey blonde Schönheit, wohin des Weges?” Das atemberaubendste Mädchen der Welt bewegte sich hüftschwingend, geschmeidig wie eine Raubkatze auf mich zu, lehnte sich an das Motorrad, gewährte einen tiefen Einblick in das halbdurchsichtige Top, beleckte sich die phantastischen vollen Lippen und flüsterte mir säuselnd ins Ohr.

“Ist das alles was du kannst, John?”

“Ich habe noch ganz andere Sachen auf Lager, wenn du willst, ..aber sag an, woher kennst du meinen Namen? Wer bist du?”

“Ich bin dein Boß, du Idiot, und du bist gefeuert, ...entlassen, du Spinner!” Ich fuhr entsetzt auf, die schönste Frau der Welt hatte sich in ein scheußliches Monster verwandelt und stand wutschnaubend wie ein wilder Stier vor mir. Ach du grüne Neune. Ich war derart in meinen Traum vertieft, daß ich nicht bemerkte, wie sich der Boß der Filiale angeschlichen und mich beim Schlafen erwischt hatte. Der Boß wechselte eindrucksvoll die Gesichtsfarbe und tobte. Mit riesigen, blutunterlaufenen, aus den Höhlen tretenden Augäpfeln und mit gefletschten Reißzähnen wie ein toll gewordener Köter. Er bellte und kläffte und mir wurde klar, daß es nun vorbei sein würde, mit den kostenlosen Playboys, den Chips, den Erdnüssen und dem beschissen sitzenden Arbeitskittel. Dieser miese Tag hatte es also wirklich in sich. Ich war dennoch froh, ihn überstanden zu haben und schlief wie ein Baby. Fröhlich pfeifend, sprang ich am nächsten Morgen aus dem Bett, duschte (ohne nennenswerte Komplikationen) und zog die Lederjeans an. Auch der Kaffee war an diesem Tag von exquisiter Qualität, der angebrannte Toast entfaltete ein vorzügliches Aroma. Des leidigen Jobs entledigt, fühlte ich mich bärenstark und frei wie schon lange nicht mehr. Erst mal entspannen, dachte ich, die neugewonnene Unabhängigkeit genießen, dann wieder weiterschlafen. So war der Plan. Die ganze Welt stand mir wieder offen. Ohne Einschränkungen konnte ich wieder tun und lassen was ich wollte, mich treiben lassen, bis wieder etwas meine Aufmerksamkeit erregen und ich zu neuen Ufern aufbrechen und eine weitere Tür in eine bis dahin verborgene Welt aufschlagen würde.

“Hallo Jenny, ich habe schon auf dich gewartet, es gibt Fischstäbchen, Spinat und Püree nach Art des Hauses; dein Lieblingsgericht.” Das Mädchen stand verdutzt in der Tür, von meinem Redeschwall regelrecht überrumpelt. Ein Hund namens Hund strich um ihre Füße.

“Du bist schon wieder gefeuert worden, stimmt’s?”

“Stimmt.”

“Und was kommt nun?”

“Keinen Plan, erst Urlaub, dann weitersehen. Möglicherweise schreibe ich auch an dem Buch weiter, was denkst du?”

“Gut, mal schauen wie, weit du kommst. Kommt dir diese Situation und dieses Gespräch nicht bekannt vor?”

“Nein, wieso fragst du? Wie kommst du denn darauf?”

“Nicht so wichtig.” Jenny atmete tief durch und deckte den Tisch. Launen dieser Art waren ihr bei mir nichts Neues. Mit routinierter Gelassenheit ließ sie mich reden und Pläne schmieden, abwartend was ich als nächstes anstelle. Aber sie wußte, daß ich ein Stehaufmännchen war, das alles überleben und immer wieder auf die Füße fallen würde.

Die Traumjäger

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