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ОглавлениеTag 1: Freitag
„Das ist doch ‘ne ganz alberne Show.“
Ich versuche trotz aller Nervosität zu lächeln. Und das Lächeln fällt schwer. Sehr schwer.
„Erst zieht dieser Herr Berghaim etliche zig Millionen an der deutschen Steuer vorbei ins Ausland, um dann mit ‘ner Fünf-Millionen-Spende zum Volkshelden zu werden.“
Noch einmal tief durchatmen. Es ist schon erstaunlich wie nervös einen so eine Kamera macht. Ich will aber so ruhig wie möglich wirken. Um jeden Preis.
„Der Mann verdient jährlich vierzig oder fünfzig Millionen Euro. Den Löwenanteil davon durch Werbeverträge, also auf unsere Kosten. Damit lebt der doch von dem, was andere Leute erarbeiten. Er selbst schafft nichts, außer immer nur im Kreis zu fahren. Das ist in meinen Augen nicht sonderlich produktiv.“
Um mich herum wird es ruhiger. Und auch ich beruhigte mich langsam. Das ganze Interview kam ziemlich überfallartig. Aber zu diesem Thema hatte ich eigentlich schon immer einen eigenen, festen Standpunkt und kann daher, ohne lange nachzudenken, fortfahren.
„Dieses horrende, steuerfreie Einkommen bezahlt der Verbraucher, wenn er tankt, wenn er Kaffee kauft oder für sonst irgendetwas Geld ausgibt, wofür Herr Berghaim Werbung macht. Und Herr Berghaim nimmt die ganze Kohle mit nach Monaco, in die Schweiz oder sonst wo hin. Unsere Staatskasse geht leer aus. Eine Staatskasse, die normalerweise die Versorgung hilfsbedürftiger Kinder übernehmen sollte, dank Leuten wie Herrn Berghaim dies aber nicht leisten kann.“
Die hübsche junge Frau, die mich so abrupt vor die Kamera gezogen hatte, steht nun regungslos vor mir. Ich empfinde das als Bestätigung. Und es gibt mir genug Selbstvertrauen, um weiter zu machen.
„Vielen Leuten hier geht es schlecht. Dem Staat geht es so schlecht, dass er seinen Aufgaben nicht nachkommen kann. Herr Berghaim aber verdient mehr Geld als er jemals ausgeben könnte. Und das auf Kosten der Anderen. Und indem er dem Staat Geld vorenthält.
Gleichzeitig bewundern ihn die Menschen noch. Genau die Menschen, die er so mühelos über den Tisch zieht, halten ihn auch noch für einen Helden. Wie funktioniert das? Ich versteh das nicht.“
Die kurze Pause kommt jetzt wie von selbst.
„Eine kleine Fünf-Millionen-Euro-Spende.“
Wie eingeübt fange ich an mit dem Daumen meiner rechten Hand abzuzählen und mache mit dem Zeigefinger weiter.
„Dazu ein paar warme Worte in die Kameras.“
Nun den dritten Finger.
„Und hinter den Kameras und Mikrofonen eine Horde Journalisten, die das Ganze als Heldentat verkaufen. Entweder weil sie selbst darauf reinfallen, oder weil sie mit dem ganzen Schwindel selbst noch ein paar Euro verdienen wollen.“
Ich strecke die Hand mit den drei Fingern ein wenig in Richtung Kamera.
„Ich verstehe nicht, wie augenscheinlich ein ganzes Volk permanent auf die Berghaims dieser Welt hereinfallen kann. Wie kann man Menschen nur dafür bewundern, dass sie einen ausnehmen?“
Auf den Kameramann wirkt das anschließende Kopfschütteln offensichtlich. Jedenfalls wirkt er ein wenig beeindruckt. Längst schaute er nicht mehr auf den Kontrollmonitor der Kamera, sondern an ihr vorbei.
Es dauert einen Augenblick, bis sich die junge Reporterin bei mir bedankt. Ich bemerke diese Verzögerung zuerst nicht, aber sie geht nicht so plötzlich zu dem nächsten, willkürlich ausgewählten Interviewpartner über, wie sie es zuvor bei mir getan hatte. Ich versuche einfach nur zu lächeln und als das rote Licht an der Kamera ausgeht, merke ich, dass es vorbei ist. Ich brauche nicht mehr zu lächeln. Aber was soll ich sonst machen.
Die Reporterin ist bereits aus meinem Blickfeld verschwunden, als, wie aus dem Nichts, eine andere, eher unscheinbare Frau auftaucht.
„Nicht schlecht“, meint sie anerkennend. Ich nehme sie kaum wahr, bis sie mir ihre Hand entgegenstreckt und hinzufügt:
„Ich heiße Susanne Häusler und bin hier die verantwortliche Redakteurin.“
„Freut mich“, bringe ich gerade so eben heraus. Die Aufregung legt sich, aber das führt bei mir eher zu einem massiven Absinken der Reaktionsfähigkeit.
„Verraten Sie mir noch Ihren Namen?“
Die Redakteurin hält Klemmbrett und Stift bereit.
„Wofür brauchen Sie den denn?“
„Nur Routine, okay?“
Normalerweise hätte ich eine solche Antwort nicht gelten lassen, aber da die Dame mir gleichzeitig ihre Karte reicht und meine Reaktionsfähigkeit immer noch im Keller ist, nenne ich bereitwillig meinen Namen, meine Anschrift und auch noch meine Telefonnummer. Hinter mir höre ich die Stimme der jungen Reporterin, die schon wieder versucht einen Passanten für ein spontanes Statement zu gewinnen:
„… Sie haben sicher von der noblen Spende des Rennfahrers Uwe Berghaim gehört. Er hat der Hilfsorganisation ‚Kinder - Unsere Zukunft’ sagenhafte fünf Millionen Euro gespendet und damit die gesamte Organisation vor dem Bankrott bewahrt…“
Offensichtlich hat meine Meinungsäußerung nicht so viel bewirkt, wie ich mir eingebildet hatte. Wahrscheinlich wird sie überhaupt nicht gesendet. Ein Blick zur Uhr holt mich wieder in den Alltag zurück. Verdammt, schon halb zwei. Eigentlich hätte ich in der Mittagspause nicht in die Stadt fahren sollen. In der Firma habe ich viel zu viel Arbeit liegen gelassen. Wenn morgen nicht der Geburtstag meiner Frau wäre, hätte ich den Ausflug in die Innenstadt auch gelassen. Und nun hatte ich auch noch meine Zeit mit diesen albernen Fernsehleuten vertrödelt.
Immerhin hatte der Juwelier die Uhr vorhin fertig gehabt. Hoffentlich gefällt sie Ulrike. Mit der Gravur kann ich sie ja nicht einmal mehr umtauschen. Egal, jetzt hatte ich die Uhr in der Tasche. Fix und fertig als Geschenk verpackt. Nun konnte ich mich wieder auf die Arbeit konzentrieren. Ich mache mir sowieso immer zu viele Gedanken um alles. Und zu wenig Zeit habe ich auch permanent. Warum hatte ich nur bei diesem Interview mitgemacht? Kein Mensch wird sich für meine Meinung interessieren. Aber wenigstens habe ich endlich einmal gesagt, was mich immer ärgert. Und das in aller Öffentlichkeit. Und, theoretisch besteht sogar die Möglichkeit, dass es gesendet wird. Zumindest theoretisch.
„Hey, hier bin ich.“
Immer die gleiche Begrüßung, wenn ich vom Büro aus zu Hause anrufe.
„Hey“, antwortet Ulrike und klingt dabei etwas genervt. Entweder spielen die Kinder verrückt oder die Vorbereitungen für ihre Geburtstagsfeier sind noch nicht so weit, wie sie sein sollten. Wahrscheinlich beides.
„Ich mach’ jetzt Feierabend“, versuche ich ihre Laune zu verbessern.
„Jetzt schon?“
„Ja“, antworte ich voller Überzeugung.
„Na ja, ist ja auch erst halb acht.“
Jetzt fällt auch mir die Ironie in Ulrikes Worten auf. Sicherlich hatte sie gehofft, dass ich früher nach Hause komme, um ihr bei den Geburtstagsvorbereitungen zu helfen.
„Ich beeile mich, okay?“, versuche ich sie sanfter zu stimmen und frage:
„Sind die Kinder schon im Bett?“
„Ich lasse sie noch etwas auf bleiben, dann kannst du noch gute Nacht sagen.“
Sie seufzt. Sie weiß genau, wie gern ich die Kinder ins Bett bringe. Am liebsten würde ich das jeden Tag tun. Meistens komme ich aber zu spät.
„Danke Schatz. Ich beeile mich.“
Ich freute mich nicht nur darauf, die Kinder ins Bett bringen zu können. Ich würde auch gern noch Ulrike unter die Arme greifen. Morgen kommen zehn Personen zum Essen. Sie muss alles alleine machen. Wahrscheinlich schrubbt sie auch noch das ganze Haus. Von oben bis unten. Und ich? Ich schaffte es nicht mal an einem Freitag so früh zu Hause zu sein, dass ich meiner Frau am Abend vor ihrem Geburtstag ein wenig helfen kann.
„Bis nachher. Und fahr vorsichtig!“
Zu Hause tobt das Chaos. Beide Kinder haben schon ihre Schlafanzüge an und sollten eigentlich schlafen. Sie sind auch schon ziemlich müde, aber jetzt drehen sie noch einmal richtig auf.
„Papa, Papa, …“, ruft Florian und stürmt auf mich zu, dicht gefolgt von Sahra, seiner Schwester. Florian springt an mir hoch, noch bevor ich meinen Aktenkoffer abstellen kann. Ich lasse den Koffer fallen, damit ich den Kleinen auffangen kann.
„… da bist du ja endlich.“
Sahra umklammert meinen Bauch und schmiegt sich an mich. Ich genieße das. Auch wenn der Kleine sofort weiter plappert.
„Ich bin ja so aufgeregt, wegen morgen.“
„Was ist denn morgen?“
Sahra schlägt mit ihrer Faust gegen meinen Bauch.
„Mensch Papa!“
Sie schaut mich böse an.
„Was denn?“
„Du weißt genau, was morgen ist.“
Ich schaue fragend zurück.
„Morgen ist der 14. Juni?“
Sie zieht ihre Stirn in Falten und schaut böse. Manchmal erinnert sie mich sehr an ihre Mutter.
„Ach so, das meint ihr.“
Jetzt lächelt sie versöhnlich und erinnert mich noch stärker an ihre Mutter. Sie macht das gut.
„Ihr seid ja aufgeregter als das Geburtstagskind selbst.“
Ulrike drängelt sich mit einem vollen Müllbeutel an uns vorbei und meint:
„Das hat ja keine Zeit zum Aufgeregtsein.“
Ich gebe ihr im Vorbeigehen einen flüchtigen Kuss.
„Hallo mein Schatz.“
„Hallo“, antwortet sie und lächelt ein wenig. Aber nur ein klein weinig, um sich dann - halb ernsthaft, halb gespielt - über uns zu beschweren.
„Müsst ihr hier im Weg stehen?“
Sie bringt den Müll nach draußen, aber nicht ohne mir noch einmal zuzulächeln. Offensichtlich hat sie viel zu tun, aber noch nicht aufgegeben.
„Ich habe noch gar keinen Kuss bekommen!“, quietscht Florian und zieht meinen Kopf zu sich hinüber, um das sofort nachzuholen.
„Ich auch nicht!“, beschwert sich nun auch Sahra und zieht mich zu sich hinunter. Ich stöhne leicht während ich mich hinunterbeuge und nutze die Gelegenheit, um Florian auf den Boden zu setzen, bevor ich auch meiner Tochter einen Begrüßungskuss gebe.
„Und? Habt ihr denn schon eure Zähne geputzt?“
„Ja!“
Ich lächle und schiebe die beiden in Richtung Treppe.
„Na dann, ab nach oben mit euch. Und Marsch ab ins Bett. Der Papa kommt gleich zum Gutenachtsagen.“
Im gleichen Augenblick kommt Ulrike wieder herein und ruft ihnen lächelnd hinterher:
„Und die Mama kommt auch gleich!“
Die beiden trappeln kichernd nach oben. Ich nehme Ulrike in den Arm, um sie endlich richtig zu begrüßen.
„Na? Wie sieht’s aus? Wie weit bist du?“
„Fertig“, strahlt sie.
„Fertig?“
„Fix und Fertig“, antwortet sie und sackt in meinem Arm zusammen. Ich lache und ziehe sie wieder hoch. Endlich gibt es einen richtigen Kuss. Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.
„Das glaube ich ja nicht“, beginne ich von neuem.
„Doch, doch“, antwortet Ulrike mit überzeugendem Blick.
„… ich habe alles fertig und bin selbst völlig fertig. Ich sage den Kindern noch gute Nacht und dann will ich auf meine Couch. Außerdem wartet Katja auf mich.“
„Katja?“
Ulrike lächelt.
Ach ja, diese Klatsch-Tante aus dem Fernsehen. Ulrike liebt diese Sendung, ‚Katjas Woche’. Klatsch und Tratsch über Prominente und solche, die es gern wären.
Heute enthalte ich mich jeden Kommentars. Sie hatte einen anstrengenden Tag. Außerdem hat sie morgen Geburtstag. Da darf sie doch mal das sehen, was sie mag, ohne kritische Kommentare ihres Ehemanns. Ich bin ja schon froh, dass offensichtlich alles soweit erledigt ist. Am Telefon hatte sie wirklich etwas abgespannt geklungen. Oder mache ich mir schon wieder zu viele Gedanken? Egal. Wir genießen jetzt einfach den Rest des Abends.
Gemeinsam gehen wir nach oben. Ich gehe zuerst in Sahras Zimmer, Ulrike in Florians. Das ist so eine Art Ritual.
Ich decke Sahra zu. Sie zappelt, aber es gelingt mir doch.
„Du bist ja ganz schön aufgeregt.“
Sie strahlt und nickt mit kurzen, schnellen Bewegungen.
„Aber du hast doch gar keinen Geburtstag…“
„Aber Mama!“
Ich frage im Flüsterton:
„Hast du denn das Geschenk für die Mama fertig?“
Sie nickt wieder eifrig.
„Ich habe ein Bild gemalt. Richtig schön. Das Bild habe ich eingepackt und eine Schleife drum gemacht. Willst du’s mal sehen?“
Sie versucht schon die Decke abzustreifen um aufzustehen. Ich lache und drücke sie vorsichtig zurück in ihr Kissen.
„Nein, nein! Das sehe ich doch morgen.“
Sahra will sich losstrampeln.
„Doch, bitte!“
„Ich möchte aber nicht. Dann ist es doch für mich keine Überraschung mehr. Und ein bisschen Aufregung möchte ich doch auch noch.“
Ich lächle sie an und sie gibt sich geschlagen.
„Na gut.“
Auch sie lächelt und spitzt die Lippen. Ich gebe ihr einen Kuss und sage:
„Schlaf schön!“
Sie liegt da wie ein Engel und wir sehen uns noch einen Augenblick nur an. Ich liebe diese Augenblicke. Als ich aufstehe flüstert sie:
„Gute Nacht!“
Langsam gehe ich aus dem Zimmer, über den Flur rüber zu Florian. Der bekommt gerade einen Gutenachtkuss von seiner Mama und der Platz an seinem Bett wird frei.
Als ich an sein Bett komme, rutscht er ganz an die Kante. Auch das ist ein Ritual. Ich muss mich dann noch zu ihm ins Bett legen. Ohne dem geht es nicht. Also tue ich es auch heute. Er zappelt noch einmal unter seiner Decke und plappert sofort los.
„Ich bin ja so aufgeregt, wegen morgen.“
Unweigerlich muss ich lachen und fast automatisch kommen die geradezu obligatorischen Fragen:
„Aber warum denn? Was ist denn morgen?“
Wieder zappelt der Kleine kurz, fast unkontrolliert, und lacht dabei.
„Mensch Papa! Morgen hat doch Mama Geburtstag!“
„Oh, das habe ich ja fast vergessen“, lache ich.
„Aber warum bist du denn so aufgeregt?“
„Das ist eben alles so aufregend.“
Noch einmal reißt er kurz die Arme nach oben, so dass sich kurz die Decke hebt. Es ist einfach zu niedlich, wenn er so aufgeregt ist. Schön, dass ich ihn heute Abend noch ins Bett bringen kann.
„Aber was ist denn so aufregend?“, versuche ich noch einmal.
„Alles! Das ist alles so aufregend. Freut sich Mama über mein Geschenk? Was bekommt sie sonst noch geschenkt? Wer kommt alles zu Besuch? Was bringen die für Geschenke mit?“
Er macht eine kurze Pause. Teils um nachzudenken, teils um Luft zu holen. Dann schließt er, fast seufzend:
„Das ist alles aufregend.“
„Na, wenn das so ist, dann solltest du jetzt schnell schlafen. Dann ist schnell morgen und du bekommst schnell die ganzen Antworten auf alle deine Fragen.“
„Ja!“
Die Antwort kam voller Überzeugung und ich bin froh, dass er so schnell bereit ist zu schlafen. Ich hätte noch ewig weiter mit ihm über seine Aufregung reden können. Aber es ist spät. Florian soll schlafen. Ich habe Hunger. Schnell gebe ich ihm noch einen Kuss und sage:
„Gute Nacht.“
Dann stehe ich rasch auf, bevor er es sich anders überlegen kann, und höre noch im Rausgehen sein „Gute Nacht.“
Unten im Flur treffe ich Ulrike. Sie will direkt an mir vorbeigehen. Mit einem ausgestreckten Arm fange ich sie ab und ziehe sie zu mir heran. Zuerst werden ihre Augen groß. Sie spielt erschrocken. Dann das sanfte Lächeln, für das ich alles tun würde. Dann folgt eine enge Umarmung und ein langer Kuss, bei dem die Umarmung immer enger wird.
Wie gesagt, ich liebe es die Kinder ins Bett bringen zu können. Ich liebe die Kinder. Aber der Moment, wenn sie dann im Bett sind, hat zweifellos auch sehr angenehme Seiten. Endlich bin ich mit meiner Frau allein.
„Oh, es ist ja schon gleich halb zehn.“
Manchmal enden solche Momente viel zu abrupt. Meistens bin ich es, der ein solches Ende einläutet. Oder die Kinder. Aber diesmal war es Ulrike.
„Ich gehe jetzt fernsehen.“
Das Wort ‚Ich’ betont sie ganz besonders, denn sie wollte jetzt schließlich ‚Katjas Woche’ schauen. Mein Interesse daran hält sich, wie sie genau weiß, in Grenzen. Da der Quatsch offensichtlich schon angefangen hat, ergänzt sie lächelnd:
„Dein Abendbrot musst du dir leider selber machen. Ich habe schon mit den Kindern gegessen.“
Zusammen mit ihrem Lächeln verschwindet sie ins Wohnzimmer. Ich blicke ihr noch nach und gehe in die Küche. Schnell mache ich mir ein Sandwich, schenke mir eine Cola ein und gehe zu ihr auf die Couch. Der Fernseher läuft bereits und Katja Niemann erklärt gerade, wieso der in die Jahre gekommene Tennisstar, Jan Beul, seine Villa in Beverly Hills verkaufen muss. Oh, der Arme hat Ärger mit seinen Nachbarn, einem amerikanischen Footballspieler nebst Familie. Während wir Luftaufnahmen der beiden Villen sehen, erklärt uns Frau Niemann, dass alle Amerikaner sich ausschließlich mit dem Auto bewegen. Sie sagt tatsächlich ‚alle’ und ‚ausschließlich’. Offensichtlich kennt Frau Niemann sie alle, diese Amerikaner, und beobachtet sie tagtäglich. Na ja, Übertreibung veranschaulicht.
„… die vielen Besucher, die der Footballstar empfängt, müssen alle dicht an dem Anwesen von Jan Beul vorbeifahren und stören ihn nicht nur den ganzen Tag, sondern auch in seiner Nachtruhe …“
Der Arme.
„… die gesamte Familie des Tennisstars leidet unter der Situation …“
Moment mal. Auf den Luftbildern liegt Beuls Villa doch mindestens zweihundertfünfzig Meter von der Zufahrt des anderen Grundstücks entfernt.
„… daher ließ Beul jetzt durch seinen Anwalt erklären, dass sein Anwesen zum Verkauf steht…“
Dafür braucht der einen Anwalt? Na gut.
„… gleichzeitig ließ er alle Gerüchte dementierten, dass finanzielle Probleme seinerseits den Verkauf erforderlich machen …“
Ach so, nee, nee, da ist sicher nur der Verkehrslärm schuld.
Drei Minuten Sendezeit, in denen ich Dinge erfahren habe, die ich überhaupt nicht wissen wollte. Wenigstens habe ich die erste Hälfte meines Sandwichs gegessen. Also war die Zeit nicht ganz vergeudet.
„Paul Heesterings …“
Wer ist das denn?
„… trennt sich von seiner Frau Jennifer. Das erklärte der Anwalt des Paares …“
Schon wieder ein Anwalt, der für seine prominenten Klienten sprechen muss. Können die nicht selbst sagen, dass sie sich trennen?
„…noch vor wenigen Tagen wurde Heesterings mit dem fünfzehn Jahre jüngeren Topmodel Jessica Panten …“
Ich glaube, den Namen habe ich wenigstens schon mal gehört. Oder nicht?
„… in einem New Yorker Szeneclub gesehen …“
Mein Gott, bin ich eigentlich der einzige Mensch, den das nicht einmal ansatzweise interessiert?
„… die 27-jährige hatte sich erst vor kurzem von ihrem langjährigen Freund und Manager Marc van Boven getrennt …“
Den kenne ich auch wieder nicht. Ich habe so große kulturelle Bildungsdefizite.
„… wie eine Freundin Jessica Pantens verriet, sollen die beiden einen gemeinsamen Urlaub planen …“
Wie unbedeutend muss diese arme Freundin Jessica Pantens sein, wenn sie nicht einmal namentlich genannt wird. Wenigstens muss ich mich nicht wieder ärgern, dass ich auch ihren Namen nicht kenne.
Innerhalb von dreißig Sekunden habe ich jetzt vier Nachrichten zu vier verschiedenen Personen gehört. Alles Leute, die ich vorher nicht einmal kannte. Und dabei sind der Anwalt der Heesterings und die Freundin von Jessica Panten noch gar nicht mitgerechnet. Schließlich sind die ja auch nicht namentlich genannt worden.
Wissen die beim Fernsehen eigentlich welche Menge von Informationen sie zu den einzelnen Prominenten in solchen Sendungen ausstrahlen. Gibt es da Messwerte? Gibt es so etwas wie ‚Prominentennachrichten pro Minute’, den sogenannten PpM-Wert? Sozusagen die Menge an Müll über Prominente, den eine Fernsehmeldung enthält. Vier Nachrichten in dreißig Sekunden, das macht 8 PpM auf der nach oben offenen Katja-Niemann-Skala. Das macht die ganzen Magazine doch erst vergleichbar. Vielleicht sollte man eine solch innovative Idee irgendwo anmelden. Wer weiß, wahrscheinlich gibt es so etwas schon.
Immerhin habe ich jetzt das ganze Sandwich aufgegessen. Und da erscheint auch wieder das ewig lächelnde Gesicht der Katja Niemann auf dem Bildschirm.
„Und nun zur Nachricht des Tages …“
So etwas gibt es bei denen auch? Nachrichten zu Prominenten, die wichtiger sind als andere Nachrichten zu anderen Prominenten? Gibt es womöglich ganze Nachrichtenhierarchien? Man kann also auch die Wichtigkeit der Nachrichten messen? Nicht nur die Anzahl Prominentennachrichten pro Minute?
Das eingeblendete Bild von Uwe Berghaim schreckt mich auf. Dazu Katjas immer freundliche Stimme.
„… der 39-jährige hat der Hilfsorganisation ‚Kinder - Unsere Zukunft’ sagenhafte fünf Millionen Euro gespendet …“
Hoffentlich war mein Interview von heute Nachmittag nicht für Katjas Woche. Welcher Sender war das denn eigentlich? Oben in der Ecke des Bildschirms prangt das Logo von SuperSat. Und was stand da vorhin auf dem Mikrofon? Ich weiß es nicht mehr.
„… mit dieser Spende soll die in eine finanzielle Schieflage geratene Organisation ‚Kinder - Unsere Zukunft’ vor dem sicheren Aus bewahrt werden…“
Bisher weiß ja niemand, dass ich überhaupt vor einer Kamera war. Ich habe ja auch Ulrike nichts von dem Interview erzählt. Das glaubt sie mir eh nicht.
„Auf einer Pressekonferenz kündigte der deutsche Formel-1-Star am Vormittag die Spende an…“
Bilder von der Pressekonferenz. Uwe Berghaim lächelt gönnerhaft in die Kameras.
Ich glaube nicht, dass die die Interviews aus der Umfrage von heute Nachmittag zeigen. Und wenn doch? Vielleicht zeigen sie ja sogar mich. Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht sollte ich schnell den Rekorder einschalten und die Sendung aufzeichnen. Nur falls ich doch gezeigt werde. Dann habe ich das wenigstens auf der Platte. Nur so zur Sicherheit. Aber, was wird Ulrike sagen, wenn ich jetzt plötzlich ‚Katjas Woche’ aufnehme? Die hält mich doch für verrückt. Und dann muss ich von dem Interview erzählen. Und wenn es dann doch nicht gezeigt wird? Ich lass das mit dem Aufnehmen lieber.
Da erscheint auch schon wieder Frau Niemann auf dem Bildschirm. Also ist das Thema bestimmt abgeschlossen, sonst bleibt sie noch unter 0,5 PpM mit diesem Beitrag. Das geht ja nun wirklich nicht.
„Diese Spende bewegt die Menschen Land auf, Land ab …“
Doch nicht abgeschlossen.
„… wir haben uns in Hamburg umgehört, was die Leute auf der Straße zu dieser Aktion sagen …“
Oh Gott. Also doch. Ein junger Mann erscheint auf der Mattscheibe. Er sieht eigentlich ganz normal aus. Steht aufrecht. Gerader Blick. Ordentlich rasiert und gekämmt. Aber was redet der denn da?
„… Berghaim ist eben ein Held. Sowohl auf dem Rennkurs als auch im Leben…“
Wie tiefsinnig.
„… acht mal Weltmeister, und nie die Bodenhaftung verloren. Immer auf der Erde geblieben. Immer ein Herz für die einfachen Menschen. Und vor allem für die Kinder. So einen Mann müssen Sie erstmal finden…“
Er strahlt in die Kamera.
„… ich verehre ihn dafür! Ja, ich liebe ihn!“
Super. Bei solchen Huldigungen brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Da wird mein Interview sicherlich nicht gesendet.
Und schon erscheint eine junge Frau im Bild. Sieht recht attraktiv aus. Sie strahlt, als würde es morgen verboten werden.
„Ich finde die Aktion von Uwe Berghaim ganz großartig. Ich bin selbst Mutter zweier Kinder und weiß daher, wie wichtig die Organisation ‚Kinder - Unsere Zukunft’ ist…“
Jetzt auch noch eine echte, selbsternannte Expertin in der Sache. Das hört ja gar nicht wieder auf. Na ja, jeder denkt da anders drüber. Oder denke nur ich anders darüber. Zum Glück habe ich nichts zu sagen. Und meine Kommentare werden ganz sicher nicht gesendet.
„… ich bin froh und stolz, dass es so etwas noch gibt.“
Ich fürchte, ich bin wirklich der einzige, der das Thema etwas differenzierter sieht. Doch dann legt ein älterer Herr mit Hut kurz angebunden klar:
„Der hat’s doch. Warum wird darum denn jetzt so eine Welle gemacht?“
Dann dreht er sich um und geht aus dem Bild. Na wenigstens einer. Auch wenn er etwas älter ist und vielleicht auch ein klein wenig verschroben wirkt, den muss man doch auch ernst nehmen.
„Das ist doch ‘ne ganz alberne Show…“
Oh nein, jetzt komme ich doch noch. In voller Größe. Auf dem Bildschirm in meinem eigen Wohnzimmer.
„…erst zieht dieser Herr Berghaim etliche zig Millionen an der deutschen Steuer vorbei ins Ausland, um dann mit ‘ner Fünf-Millionen-Spende zum Volkshelden zu werden.“
Vorsichtig blicke ich zu Ulrike rüber, die mit geöffnetem Mund zum Fernseher schaut.
„…verdient jährlich 40 oder 50 Millionen Euro. Den Löwenanteil davon durch Werbeverträge, also auf unsere Kosten. Damit lebt der doch von dem, was andere Leute erarbeiten. Er selbst schafft nichts, außer immer nur im Kreis zu fahren.“
Jetzt schaut Ulrike fragend zu mir rüber. Traut sich aber nicht, etwas zu sagen. Sicherlich hat sie Angst auch nur einen Augenblick zu verpassen.
„… dieses horrende, steuerfreie Einkommen bezahlt der Verbraucher, wenn er tankt, wenn er Kaffee kauft oder für sonst irgendetwas Geld ausgibt, wofür Herr Berghaim Werbung macht. Und Herr Berghaim nimmt die ganze Kohle mit nach Monaco, in die Schweiz oder sonst wo hin. Unsere Staatskasse geht leer aus. Eine Staatskasse, die normalerweise die Versorgung hilfsbedürftiger Kinder übernehmen sollte, dank Leuten wie Herrn Berghaim dies aber nicht leisten kann...“
Oh, oh. Das ist jetzt aber wirklich etwas dick aufgetragen.
„…Herr Berghaim aber verdient mehr Geld als er jemals ausgeben könnte. Und das auf Kosten der Anderen…“
Da fehlt doch was.
Haben die da etwas herausgeschnitten?
„… und indem er dem Staat Geld vorenthält.
Gleichzeitig bewundern ihn die Menschen noch. Genau die Menschen, die er so mühelos über den Tisch zieht, halten ihn auch noch für einen Helden. Wie funktioniert das? Ich versteh das nicht…“
Wow, jetzt komm ich aber doch ganz gut rüber.
„… eine kleine Fünf-Millionen-Euro-Spende…“
Ich sehe auch gar nicht mal schlecht aus. Seriös. Zum Glück habe ich zum Einkaufen die Krawatte umbehalten.
„…dazu ein paar warme Worte in die Kameras.“
Das Abzählen mit den Fingern macht sich auch nicht schlecht. Fast wie ein TV-Profi.
„… und hinter den Kameras und Mikrofonen eine Horde Journalisten, die das Ganze als Heldentat verkaufen. Entweder weil sie selbst darauf reinfallen, oder weil sie darauf hoffen, mit dem ganzen Schwindel selbst noch ein paar Euro zu verdienen.“
Na, da werde ich doch etwas angriffslustig.
„.. ich verstehe nicht, wie augenscheinlich ein ganzes Volk permanent auf die Berghaims dieser Welt hereinfallen kann. Wie kann man Menschen nur dafür bewundern, dass sie einen ausnehmen?“
Das Kopfschütteln wirkt authentisch. Aber wie konnte ich nur das ganze Volk angreifen. Was habe ich mir nur dabei gedacht.
Ulrike schaut mich auch schon so komisch an.
Zum Glück erscheint jetzt wieder Frau Niemann. Wer hätte gedacht, dass ich mich einmal freue, die auf der Mattscheibe zu sehen.
„Na ja, das sieht dann wohl jeder etwas anders…“
Ach so, die haben das nur gesendet, um etwas zu meckern zu haben. Dann wirkt das ganze Magazin differenzierter. Und seriöser. Am Ende dient dann auch ein kritischer Beitrag dem Mainstream: Der Huldigung unserer Prominenz.
„… und vielleicht hat ja auch jeder für sich, mit seiner Meinung irgendwo recht...“
Huch, hab’ ich die doch unterschätzt?
Plop.
Der Fernseher wird schwarz.
Ich sehe zu Ulrike hinüber, die die Hand noch immer auf der Fernbedienung hat. Sie schaut mich fragend an.
„Was war das denn?“
Sie lächelt. Gott sei dank, sie lächelt. Wenigstens ein bisschen. Oder doch nicht. Was soll ich denn jetzt antworten? Lächelt sie oder nicht?
„Was denn?“
Was für eine einfältige Antwort. Manchmal wirke ich ganz schön dämlich. Ulrike äfft mich auch sofort nach:
„Was denn?“
Also, auch wenn sie vorher gelächelt hat, jetzt tut sie es nicht mehr. Ich versuche das durch mein Lächeln auszugleichen. Haut nicht hin.
„Wann hast du das denn gesagt?“
„Heute Nachmittag. In Hamburg. Da neben dieser Buchhandlung. Die haben mich quasi überfallen. Noch ehe ich wusste, was ich da tat, war das ganze Interview auch schon aufgezeichnet.“
Jetzt lächelt sie wieder. Wenigstens ein bisschen.
„Na lange musstest du ja auch nicht überlegen. Da konntest du ja endlich mal so richtig über die Prominenten dieser Welt herziehen.“
Nun lächelt sie wirklich. Sie meint, das Ganze hätte mir auch noch Spaß gebracht. Wahrscheinlich hat sie Recht.
Sie verlangt, dass ich ihr alles erzähle. Vom ersten Ansprechen bis zum Nachgespräch mit der Redakteurin. Am Schluss erzähle ich auch noch, dass ich der Dame meine persönlichen Daten gegeben habe.
„Na hoffentlich kommt da nicht noch was nach.“
Jetzt wird sie spöttisch. Eigentlich bin ich es, der immer so vorsichtig ist mit unseren Daten. Meistens ermahne ich auch Ulrike, vorsichtig zu sein. Wenn sie dann doch irgendwo persönliche Daten von uns herausgibt, sage ich oft so Sätze wie, ‚Na hoffentlich kommt da nicht noch was nach.’
Natürlich will Ulrike auch das diskutieren, was ich gesagt habe. Sie meint, ich hätte mich da ganz schön reingesteigert. Zum Teil auch etwas dick aufgetragen. Wann mir das denn eingefallen sei, fragt sie. Wie ich denn darauf käme, eine solche Spende so negativ zu sehen. Dass ich grundsätzlich etwas gegen alle Prominenten hätte, egal ob Sport, Film oder Show, wusste sie ja, aber dass ich mich hinreißen ließ, eine eigentlich gute Sache so negativ zu sehen und so anzugreifen, das kann sie nicht verstehen. Ich versuche es zu erklären.
Ich verstehe nicht, dass jemand zweistellige Millionenbeträge im Jahr damit verdient, dass er im Kreis fährt, eineinhalb Stunden einem Ball hinterherläuft oder einfach nur zwei Stunden lang eine Unterhaltungssendung moderiert. Ich versuche zu erklären, dass diese Leute nicht wirklich etwas schaffen, also eigentlich nur von dem leben, was andere schaffen. Und sie leben nicht schlecht. Aber vor allem auf meine Kosten. Ich rede und rede.
Inzwischen ist es fast zwölf. Ich könnte stundenlang weiter diskutieren. Dabei weiß ich nicht, ob Ulrike mich versteht. Aber immerhin akzeptiert sie meine Meinung. Offensichtlich hat sie aber so langsam sowieso genug. Ein vorsichtiger Versuch von ihr, das Thema zu wechseln:
„Was hattest du eigentlich heute in der Stadt zu suchen?“
Ich zögere.
„Ich musste noch was besorgen.“
„Ah, der Herr war also noch shoppen. Ich hatte eigentlich gehofft, du kämst etwas früher nach Hause und hilfst mir bei den Vorbereitungen für morgen.“
Verdammt, jetzt wird sie doch noch sauer. Unbemerkt blicke ich auf die Uhr. Fünf nach zwölf. Meine Rettung.
„Moment, mein Schatz.“
Ich springe auf.
„Ich kann dir das erklären.“
Mit beiden Zeigefingern zeige ich auf sie und versuche mein überzeugendstes Lächeln.
„Du musst nur einfach hier sitzen bleiben.“
Sie schaut mich erstaunt an, bleibt aber sitzen. Ich eile hinaus zu meinem Aktenkoffer und hole die Uhr heraus. Als ich wieder ins Wohnzimmer komme lächelt Ulrike bereits.
„Ich musste doch heute noch etwas abholen.“
Ich reiche ihr das Schächtelchen und setze mich zu ihr.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“
Sie weiß nicht was drin ist. Das ist sicher. Gespannt reißt sie die Schleife auf, öffnet die Schachtel und strahlt, als sie die Uhr erblickt. Da strahle ich auch. Sie nimmt die Uhr heraus, schaut sie sich an und entdeckt die Gravur. ‚In Liebe, Sven’. Nicht sehr einfallsreich. Fast schon ein bisschen kitschig. Aber Ulrike fällt mir um den Hals. Ich glaube die Uhr gefällt ihr. Arm in Arm gehen wir nach oben. Schön, dass sie vorher ein wenig sauer war. Jetzt können wir uns versöhnen.