Читать книгу Prominent - Stefan Nym - Страница 6

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Tag 4: Montag

„Schönen guten Morgen, Herr Holstmann.“

Kann es sein, dass unsere Empfangsmitarbeiterin heute besonders freundlich ist? Oder bin ich nur besonders schlecht gelaunt.

„Morgen Frau Schreiber.“

„Sie werden schon von allen Seiten gesucht.“

„Ich bin sicher, Sie haben mir zu allen Anrufen ‘ne Mail geschickt.“

„Aber sicher!“

Frau Schreiber ist sehr nett und freundlich. Immer hilfsbereit und sehr zuverlässig. Aber heute Morgen geht sie mir ein wenig auf die Nerven. Ohne ein weiteres Wort gehe ich in mein Büro. Hoffentlich treffe ich jetzt niemanden auf dem Flur. Geschafft. Am liebsten würde ich mich einschließen. Sogar im Radio habe ich von meinem Interview und den Folgen gehört. Wahrscheinlich suchen mich jetzt deshalb auch alle. Habe ich zu Hause überhaupt den Telefonstecker wieder eingestöpselt? Egal. Hat Ulrike wenigstens ihre Ruhe.

Aber wenn was Wichtiges ist? Ich sollte sie anrufen. Aber wie, wenn doch das Telefon nicht an ist? Ich bin heute echt nicht gut drauf. Ich kann ‘s ja am Handy versuchen. Später vielleicht.

Auf meinen Schreibtisch liegt eine Zeitung. Was soll das denn? Die ‚News’. Die berühmte Zeitung mit den vier Buchstaben. Die, die niemand kauft und alle lesen. Die Tageszeitung mit der höchsten Auflage im ganzen Land. Wer hat die denn hier hingelegt?

Oh nein. Jetzt erkenne ich es erst. Das bin ja ich auf dem Foto. Links auf der Titelseite. Und rechts daneben, Uwe Berghaim.

Die Überschrift ist der Hammer: „Dieser Mann stoppt Berghaims Großzügigkeit!“ Ich habe das Gefühl, mein Herz bleibt stehen. Den Text brauche ich eigentlich gar nicht erst zu lesen. Klar, was da drin steht. Ich komme auch gar nicht dazu. Als ich das Blatt in die Hand nehme fliegt auch schon die Bürotür auf.

„Was machst du denn hier?“

Mein Chef ist bekannt dafür, sich nicht mit langen Vorreden aufzuhalten. Normalerweise weiß ich diese Eigenschaft sehr zu schätzen, aber heute fliegt er wirklich mit der Tür ins Haus, respektive ins Büro.

„Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, Dieter.“

„Komm’ mir jetzt nicht so.“

Ich habe Dieter noch nie so erlebt. Was regt ihn denn bloß so auf? Es muss ihm doch klar sein, dass ich nichts dafür kann, wenn plötzlich alle über mich herfallen. Aber er fängt gerade erst an.

„Was denkst du dir bloß?“

„Ich kann …“

Er lässt mich gar nicht zu Wort kommen.

Dieter ist sonst die Ruhe selbst. Wir kommen bestens miteinander klar. Genau genommen hält er mir immer den Rücken frei. Ein idealer Chef so zusagen. Sicherlich setzt er auch mal seine Meinung durch. Gelegentlich geraten wir auch aneinander. Aber so ein emotionales Gespräch hatten wir sicherlich noch nie.

„Was denkst du denn, wie die Kunden darauf reagieren?“

Ah, daher weht der Wind. Dieter hat immer die Kunden besser im Blick als ich. Fachlich macht er mir sicherlich nichts vor, aber mit den Kunden kann er eindeutig besser. Da brauche ich ihn einfach. Aber übertreibt er jetzt nicht? Kann mein Interview und das ganze Drumherum wirklich eine Kundenbeziehung gefährden?

„Der Schmidt hat mich heute Früh schon auf dem Handy angerufen.“

Es kann.

„Schon vor acht. Eine Stunde habe ich mit ihm telefonieren müssen.“

Herr Schmidt ist der Organisationsleiter eines großen Chemie-Unternehmens, NCL. Unser wichtigster Kunde. Ich begleite zwar nur ein Projekt der NCL, aber insgesamt machen wir einen Großteil unseres Umsatzes mit denen.

„Er hat sich maßlos aufgeregt.“

Ist der auch Berghaim-Fan. Aber dann würde er sich doch nicht so aufregen. So fanatisch kann der doch nicht sein. Das hätte ich doch schon vorher mal gemerkt. Ich schau Dieter fragend an.

„Du hast keine Ahnung, oder?“

Ich schaue immer noch fragend.

„Du machst ja einen Superjob hier. Keiner arbeitet so schnell und zuverlässig wie du. Du führst Projektteams wie kein anderer. Damit hältst du jedes Projekt in der Waage. Alle Kunden sind superzufrieden mit dir. Aber manchmal fehlt dir echt der Überblick.“

Er lacht kurz und trocken und schüttelt den Kopf. Ein tiefes Seufzen.

„Fast schon naiv kommst du daher.“

Jetzt reicht es aber.

Er holt die Zeitung von meinem Schreibtisch und tippt auf das Bild von Berghaim auf der Titelseite.

„Siehst du das?“

Ich verstehe gar nichts. Bin ich wirklich naiv.

„Hier: Das Logo auf seiner Mütze. Mooiqu!“

Mein totales Unverständnis ist offensichtlich nicht zu übersehen. Dieter holt tief Luft. Er scheint zu bemerken, dass ich kein Wort verstehe und spricht jetzt viel ruhiger weiter.

„Mooiqu ist die Marke für Motorenöl im Segment für Hochleistungsmotoren. Mooiqu wird herstellt von MobilQuick. Fünfunddreißig Produkte, alle patentiert. Mehr als fünftausend Mitarbeiter. Mindestens eine Milliarde Umsatz. Dritter Sponsor des Beusen Rennstalls. Einer der wichtigsten Rennställe der gesamten Formel-1 und Arbeitgeber von Uwe Berghaim. Und vor allem ist MobilQuick eine einhundertprozentige Tochter der Nord Chemie Laboratorien, der NCL. Unser Kunden und Arbeitgeber von Peter Schmidt. Deren Organisationsleiter.“

Ich habe das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füssen wegfließt. Warum habe ich mich nie um diesen Quatsch gekümmert? Wer gehört wem? Wer macht wie viel Umsatz mit wie vielen Mitarbeitern? Ich bin doch kein Betriebswirt. Ich wusste noch nicht einmal, dass NCL Nord Chemie Laboratorien bedeutet.

Dieter schaut mich fragend an.

„Hast du ’s jetzt?“

„Ist ja gut. Ich weiß nichts von diesen Dingen. Ich will meistens auch nichts davon wissen. Du hast ja recht“

Dieter nickt.

„Aber selbst wenn ich die Verbindung zwischen MobilQuick und NCL gekannt hätte, hätte ich trotzdem nicht gewusst, dass MobilQuick Berghaim sponsert.“

Langsam finde ich meine Selbstsicherheit wieder.

„Und das Interview hätte ich trotzdem gegeben.“

„Ist ja auch egal jetzt. Du hast das Interview gegeben. Und ich werde jetzt sehen, wie wir aus der Nummer wieder rauskommen.“

Das schätze ich an Dieter besonders. Er hält sich nie lange mit der Schuldfrage auf. Schuldzuweisungen macht er erst recht nicht. Er schaut bei Problemen immer gleich nach vorn. Damit reißt er auch immer alle mit, vor allem die Schuldigen.

„Soll ich mal mit dem Schmidt reden?“

„Du redest mit niemand mehr!“

Jetzt ist er aber doch wieder etwas aufgebracht.

„Du bleibst bis zum Wochenende zu Hause. Home Office.“

Wir haben da so eine Betriebsvereinbarung, die es den Mitarbeitern erlaubt, zu Hause zu arbeiten, wenn die Auftragssituation es erlaubt. Meine Auftragssituation hat es noch nie erlaubt. Und mein Vorgesetzter auch nicht. Aber jetzt scheint er es gerade zu tun.

„Ich will dich hier nicht mehr sehen. Ab sofort. Für die Kunden bist du nicht zu sprechen. Gehe ja nicht an dein Handy. Und rufe niemanden an. Du sprichst nur mit mir und mit Berger. Mails auch nur an uns beide. Berger übernimmt ab sofort alle deine Projekte. Durch den Wegfall des Analyseprojektes bei dieser Logistik-Firma hat der im Moment sowieso Leerlauf. Der vertritt dich. Zumindest nach außen. Ist das klar?“

Ich nicke betroffen. Er scheint sich alles sehr wohl überlegt zu haben. Aber warum werde ich jetzt geopfert? Will er mich am Ende ‘rausschieben? Was soll denn das?

„Aber du bist die ganze Zeit für uns erreichbar! Zur Not musst du Berger erklären, was wo zu machen ist.“

Er denkt kurz nach.

„Und du machst noch heute eine komplette Projektliste für ihn fertig. Alle laufenden Projekte. Alle Fakten, Potentiale, Dokumente, Ansprechpartner… Du weißt schon.“

Jetzt ist Dieter wieder ganz ruhig.

„In einer Woche sieht die Sache sicher schon wieder ganz anders aus. Aber solange will ich dich aus der Schusslinie haben.“

Mit diesem einen Satz sagt er das Wichtigste. Es geht nicht um mich. Ich werde nicht geopfert. Dieter will mich schützen. Und natürlich auch seine Projekte. Muss er ja auch. Mir geht es aber gleich viel besser.

Dieter geht. Mehr muss er auch nicht sagen. Ich lasse mich in den Schreibtischstuhl fallen. Dieses verdammte Interview. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Sonst überlege ich mir doch auch immer genau, was ich tue oder sage.


Den Rechner brauche ich ja wohl gar nicht erst einzuschalten. Den packe ich einfach nur ein und nehme ihn mit. Am Besten ich sage Ulrike Bescheid. Ich rufe sie an.

„Hallo.“

So meldet sie sich doch sonst nicht. Offensichtlich geht aber das Telefon wieder. Habe ich den Stecker doch wieder eingesteckt?

„Hallo Ulrike, bist du das“

„Hallo Schatz.“

„Alles klar bei dir?“, frage ich.

„Geht so.“

„Was ist denn?“

„Hier klingelt laufend das Telefon. Ich glaube ich habe die gesamte Familie und die komplette Nachbarschaft schon durch. Ich mag schon gar nicht mehr abheben.“

Das klingt nicht gut. Wenn Ulrike nicht mehr telefonieren mag, dann wird es ernst.

„Hat das Telefon denn funktioniert?“

„Ja, ich wollte Mama anrufen. Da hab ich gesehen, dass der Stecker raus ist.“

„Das war ich.“

„Das habe ich mir gedacht. Ich hab den Stecker wieder eingesteckt.“

Sie seufzt. Es war doch eigentlich klar, dass Ulrike den Stecker selbst wieder einsteckt. Manchmal denke ich eben doch zu viel nach. Und wenn ’s darauf ankommt eben doch zu wenig. Ulrike habe ich heute mal wieder unterschätzt. Da sollte ich dran arbeiten. Momentan habe ich aber Wichtigeres zu tun.

„Das hätte ich mal lieber nicht machen sollen.“

„Am besten du ziehst den Stecker wieder raus.“

„Ich glaub auch. Aber wie lange soll das so gehen?“

„Ich komme sowieso gleich nach Hause“

„Wieso das denn?“

„Dieter hat Home Office für mich angeordnet. Offensichtlich hat das ganze auch Wellen bei einigen Kunden geschlagen. Dieter will mich da aus der Schusslinie halten.“

„Oh Gott. Die machen dich fertig, ich sag es dir.“

„Ach was, das wird schon.“

Ich kann Ulrikes skeptischen Gesichtsaudruck förmlich vor mir sehen. Sie sagt aber nichts.

„Ich komm jetzt erst einmal nach Hause, dann reden wir weiter.“


Zu Hause ist alles ruhig. Wo sind denn Ulrike und die Kinder. Ich gehe ins Wohnzimmer. Mein erster Blick gilt dem Telefon. Der Stecker ist draußen. Gut so. Ich gehe nach oben. Im Schlafzimmer finde ich Ulrike. Als ich in den Raum komme wacht sie auf. Sie lächelt mich an. Es kostet sie offensichtlich Mühe zu lächeln.

„Hallo“, sagt sie verschlafen.

„Hallo.“

Ich gehe zu ihr, setze mich aufs Bett und küsse sie sanft.

„Was ist denn mit dir los?“

„Ich bin ein wenig geschafft.“

„Und die Kinder?“

„Die sind noch in der Schule.“

Ja klar. Hätte ich mir ja denken können. So ist das eben mit mir und dem Denken.

Ich erzähle Ulrike von meinem Morgen im Büro. Meinem kurzen Morgen. Die Angst steht ihr förmlich ins Gesicht geschrieben und sie fragt mich immer wieder, wie das Ganze weiter gehen soll. Sie ist total erschöpft. Ich schlage vor, alle Telefone zu mir ins Arbeitszimmer umzustellen. Dort werde ich sowieso den Rest des Tages verbringen, um zu arbeiten. Jedenfalls nehme ich mir das vor. Ulrike lasse ich schlafen. Ich verspreche, sie zu wecken, wenn die Kinder kommen.

In der Ruhe meines Arbeitszimmers ist die Projektliste schnell geschrieben und ins Büro geschickt. Die Telefone schweigen die ganze Zeit. Gut so.


Mit den Kindern kommt wieder Leben in die Bude. Die beiden haben tausend Dinge zu erzählen. Von dem Moment als sie zur Tür hereinkommen reden sie ohne Unterbrechung. Ich habe das schon lange nicht mehr erlebt. Höchstens als ich letztes Jahr krank war. Die Kinder können sich offensichtlich noch erinnern. Sie wundern sich nicht einmal darüber, dass ich zu Hause bin.

„Geht das hier Mittags immer so zu?“, frage ich und Ulrike antwortet:

„Nein.“

Sie schmunzelt.

„Normalerweise ist es noch schlimmer.“

Zum Glück macht sie wieder Späße. Ein gutes Zeichen. Es geht ihr offensichtlich etwas besser. Ich genieße den Trubel fast ein bisschen. Er bringt mich auf andere Gedanken. Fast vergesse ich das verdammte Interview. Fast.

Am Tisch werden die Kinder langsam ruhiger. Entweder gehen ihnen die Themen aus oder sie haben bei dem guten Essen keine Lust mehr zu erzählen. Nach einer kurzen Zeit der Stille platzt es plötzlich aus Sahra heraus:

„Papa?“

„Ja?“

So fangen viele Dialoge zwischen meiner Tochter und mir an. Entweder, sie will etwas von mir, oder, sie traut sich nicht so recht, eine bestimmte Frage zu stellen. Nach diesem Auftakt und angespornt durch mein Bemühen um ein aufmunterndes Lächeln, traut sie sich doch:

„Hast du wirklich der ‚Kinder - Unsere Zukunft’ fünf Millionen Euro weggenommen?“

So schnell kommt man auf den Boden der Tatsachen zurück.

Und das mit einer so einfachen Zusammenfassung. Die letzten drei Tage in einem Satz. So geht das. Kindermund tut Wahrheit kund. Sagt man jedenfalls.

„Du hast einfach gesagt, die sollen das Geld nicht haben? Stimmt das?“

„Wo hast du das denn her?“

„Kim hat das gesagt.“

„Wer ist Kim?“

Ulrike springt ein und erklärt, dass Kim mit Sahra in eine Klasse geht. Dabei habe ich wieder das Gefühl, viel zu wenig von meinen Kindern zu wissen. Aber das bilde ich mir sicher nur ein. Welcher arbeitende Vater kennt schon alle Klassenkameraden seiner Kinder?

„Und wo hat Kim das denn her?“, frage ich weiter. Irgendwo muss es ja herkommen. Selbst ausgedacht haben sich die Kinder das sicher nicht. Bisher haben wir mit den Kindern darüber ja noch nicht gesprochen. Mal sehen, was sie jetzt so sagt.

„Kim hat gestern mit ihren Eltern die Nachrichten gesehen. Und da hat sie dich erkannt, hat sie gesagt.“

Sahra schaut mich fragend an. Da ich nichts sage, fährt sie fort.

„Sie hat dann ihre Eltern gefragt, warum du im Fernsehen bist. Ihr Vater hat ihr dann erklärt, dass du im Fernsehen sagst, dass dieser Uwe Berghaim, oder wie der heißt, kein Geld für ‚Kinder - Unsere Zukunft’ spenden soll. Und dabei wollte er fünf Millionen Euro spenden. Und die hätten das Geld dringend gebraucht, um armen Kindern zu helfen. Und nun bekommen die das Geld nicht.“


Es dauert fast eine Stunde, Sahra einigermaßen verständlich zu machen, was da passiert ist. Es ist auch schwer das zu erklären. Die Zusammenhänge sind einfach viel zu komplex. Die Situation im Büro heute Morgen habe ich schon weggelassen. Doch dann meldet sich Florian zu Wort:

„Kann ich jetzt auch mal was fragen?“

„Ja klar.“

Hoffentlich hat ihn jetzt nicht auch noch jemanden auf das Thema angesprochen.

„Was ist denn eigentlich dieses ‚Kinder - Unsere Zukunft’?“

Ich atme tief durch.

„Weißt du, es gibt bei uns in Deutschland viele Kinder, denen es nicht so gut geht. Meistens haben sie oder besser ihre Eltern nicht genug Geld. Zum Beispiel weil die Eltern krank sind. Oder arbeitslos. Oder ein Elternteil ist sogar gestorben. Sie haben einfach nicht genug, um sich satt zu essen oder ordentlich anzuziehen. Und für Spielsachen ist dann erst recht nicht genug Geld da. Und ‚Kinder - Unsere Zukunft’ ist eine Organisation - also so eine Gruppe von Menschen - die sich darum kümmern, dass es den Kindern besser geht. Sie sorgen dafür, dass alle Kinder genug zu Essen haben, genug zum Anziehen und vielleicht auch mal in den Urlaub fahren können.“

„Aha“, sagt Florian zögerlich, scheint aber nicht so richtig zu verstehen. Da hakt Ulrike ein:

„Bei euch in der Schule bekommen doch einige Kinder mittags was zu essen?“

„Ja!“

„Siehst du, und das Essen machen die von ‚Kinder - Unsere Zukunft’.“

Ich sollte Ulrike so was immer gleich erklären lassen. Damit scheint mir die Sache erledigt, aber weit gefehlt:

„Aber das Essen schmeckt nicht!“

„Woher weißt du das?“, frage ich irritiert.

„Basti sagt, da gibt es immer nur Kohlsuppe oder Milchreis. Nie mal irgendwas mit Fleisch. “

„Basti geht in Florians Klasse. Sein Vater ist seit zwei Jahren arbeitslos“, versucht Ulrike meine offensichtlich nicht zu übersehende Wissenslücken zu schließen.

„Und Basti war auch noch nie im Urlaub, hat er gesagt.“

„Weißt du, ‚Kinder - Unsere Zukunft’ versucht allen Kindern zu helfen, aber sie haben nicht genug Geld, um jeden Tag für alle Kinder Fleisch zu kaufen, oder allen Kindern jedes Jahr einen Urlaub zu bezahlen.“

Florian schaut mich enttäuscht an:

„Aber dann hätten die doch das viele Geld wirklich gebrauchen können. Wieso hast du denn gesagt, sie sollen das nicht kriegen?“

Es ist wirklich nicht einfach, den Kleinen das klar zu machen. Aber ich fange einfach noch einmal von vorne an. Hoffentlich verstehen sie mich diesmal besser.

Irgendwie macht es mir Angst, dass meine Kinder glauben, ich würde ‚Kinder - Unsere Zukunft’ das Geld wegnehmen. Wenn die beiden das von mir glauben, was glauben dann erst Menschen, die mich nicht kennen. Was habe ich da nur angerichtet. Hoffentlich ist der ganze Spuk bald vergessen.


In dem Moment, in dem ich zurück in mein Arbeitzimmer komme, klingelt mein Handy. Perfektes Timing. Zum Glück hat vorher niemand angerufen, sonst hätten wir den Kindern das Ganze immer noch nicht erklären können. Ich schließe die Tür und gehe ran. Es ist Berger. Er braucht Hilfe. Klar helfe ich ihm wo ich kann. Aber irgendwie ist die Verbindung gestört. Ich bitte ihn über das Festnetz anzurufen. Dann kann ich auch das bessere Headset benutzen. Nach dem Auflegen schalte ich das Handy aus.

Fünf Minuten warte ich auf Bergers Rückruf. Dann erst prüfe ich das Telefon. Tod. Was hab ich da denn wieder falsch gemacht? Klar, ich habe alle Telefon auf meines gelegt. Aber meines habe ich sonst immer, und eben auch jetzt, auf das im Wohnzimmer gelegt. Deswegen konnte auch den ganzen Tag keiner anrufen. Der Fehler ist schnell behoben und sofort klingelt das Telefon. Es ist Berger. Er mault ein wenig rum, dass er mich nicht gleich erreichen konnte. Ich erspare uns einen Erklärungsversuch.

Für die Projektliste brauchen wir etwas länger. Der Berger ist ein intelligenter Kerl, aber viel Erfahrung hat er noch nicht. Für ihn ist es sicherlich kein Klacks, alle meine Projekte zu übernehmen. Wir brauchen über drei Stunden. Aber er macht sich gut. Er sieht das für sich als Chance, sagt er. Soll er ruhig. Dann gibt er sich jedenfalls Mühe. Wir verabreden täglich miteinander zu telefonieren. Das wird schon werden.

Nach dem Auflegen dauert es keine zwei Minuten und das Telefon klingelt erneut. Thomas ist dran.

„Hallo Schwager, was machst du denn um diese Zeit zu Hause?“

„Home Office“, antworte ich knapp. Hätte ich doch bloß nicht abgenommen. In meinem Arbeitszimmer-Telefon habe ich kaum Nummern der Familie abgespeichert. Darum wurde auch nur die Nummer angezeigt und die kenne ich natürlich nicht auswendig. Sonst hätte ich sicher nicht abgenommen.

„Wenigstens arbeitest du überhaupt noch.“

Er lacht überlegen und legt auch sofort los:

„Mit der Fernsehkarriere wird es nun ja wohl doch nichts.“

Das wird sicherlich kein langes Telefonat. Ich stehe vom Stuhl auf und gehe schon mal Ulrike suchen.

„Da hat der Berghaim dir ganz schön einen reingewürgt, hm?“

Ulrike steht in der Küche und bereitet das Abendbrot vor.

„Hab’ ich dir doch gleich gesagt, dass du dem nicht das Wasser reichen kannst. Du kannst doch so einen Typen nicht in der Öffentlichkeit ans Bein … na, du weißt schon.“

Er lacht. Über sich selbst.

„Ist doch klar, dass du da den Kürzeren ziehst.“

„Du wolltest bestimmt mit deiner Schwester sprechen?“, unterbreche ich ihn und rede auch sofort weiter, ohne eine Antwort anzuwarten, „ich geb’ sie dir mal.“

Ulrike rollt mit den Augen, greift aber direkt nach dem Telefonhörer. Ich gehe hinaus. Ich will sicherlich nicht hören, was die zu besprechen haben. Zurück im Arbeitszimmer lehne ich mich zurück. Thomas dieser Idiot. Der hat doch überhaupt keine Ahnung was passiert ist. Der hat grundsätzlich keine Ahnung.

Hoffentlich setzt er jetzt nicht auch noch Ulrike zu. Zuzutrauen wär’s ihm. Rücksicht und Einfühlungsvermögen zählen leider nicht zu seinen Stärken. Vielleicht hat er ja Recht. Aber das hätte ich doch alles so nicht kommen sehen können. Hätte ich wissen müssen, dass die das senden, dass Berghaim das sieht, dass Berghaim darauf so reagiert, dass einer der Sponsoren unser Kunde ist, dass alle, selbst die Klassenkammeraden meiner Kinder, darüber sprechen? Hätte ich das alles vorhersehen können?

Vor meinen Augen taucht eine Hand mit einem Telefonhörer auf.

„Wo bist du denn?“, fragt Ulrike, die das Telefon zurückbringt.

„Hab’ nur geträumt. Gab ‘s noch was Neues?“

„Nein, er wollte nur wissen, was wir mit Mutters Geburtstag machen wollen. Sie wird immerhin 70 dieses Jahr.“

Na, da hat mein Schwager richtig wichtige Themen gehabt. Oder den richtigen Vorwand. Wahrscheinlich versucht er schon den ganzen Tag anzurufen. Egal, Hauptsache er hat Ulrike nicht wegen des Interviews genervt.

Ich bekomme noch einen Kuss von meiner Frau, beginne gerade ihn zu genießen, da klingelt das Telefon schon wieder. Sie lächelt mich an und geht zurück in die Küche.

„Holstmann.“

„Susanne Häusler, guten Tag Herr Holstmann. Erinnern Sie sich noch an mich.“

„Aber sicher, wie könnte ich die Redakteurin des einzigen Fernsehinterviews vergessen, das ich je gegeben habe.“

Sie lacht.

„Und je geben werde!“

„Wenigstens haben Sie Ihren Humor noch.“

„Viel mehr bleibt mir ja auch bald nicht mehr.“

„Berghaims Reaktion hat ihnen ganz schön zugesetzt, hm?“

„Nicht nur das.“

„Wieso?“

Ich erzähle ihr von meinem Morgen im Büro, vom Home Office, davon, dass das Telefon permanent klingelt und davon, dass selbst meine Kinder zeitweise glauben, ich würde ‚Kinder - Unsere Zukunft’ das Geld wegnehmen.

„Das tut mir leid.“

„Sie können ja nichts dafür.“

„Ein wenig schon. Schließlich habe ich auch dafür gestimmt, dass Ihr Interview gesendet wird.“

„Danke.“

Ich sage das leicht gereizt, meine es aber nicht so.

„Aber ich habe der Niemann auch den Schlusssatz formuliert. Sie wissen schon: ‚Na ja, das sieht dann wohl jeder etwas anders … und vielleicht hat ja auch jeder für sich, mit seiner Meinung irgendwo recht.’“

„Das waren Sie. Die Niemann sagt so was nicht einfach so?“

Sie lacht verhalten aber sichtlich amüsiert.

„Was denken Sie denn. Okay, bei uns wird Satz für Satz von der Redaktion formuliert, redigiert, noch mal redigiert und zum Schluss zwei Mal genehmigt. Dann erst darf die Niemann alles vorlesen. Das ist bis ins Detail geplant.“

Ich bin beeindruckt.

„Das ist nicht bloß alles Zufall?“

„Ganz sicher nicht.“

„Wie meinen Sie das?“

„Okay, ich erkläre ihnen das Ganze jetzt einmal. Aber kommen Sie ja nicht auf die Idee mich irgendwo zu zitieren! Haben Sie mich verstanden?“

Meine Aufmerksamkeit ist plötzlich wieder voll da.

„Aber sicher. Alles was Sie sagen bleibt unter uns.“

„Jeder in diesem Spiel weiß genau was er sagt und tut. Zumindest meistens. Jeder Prominente muss da hart dran arbeiten. Und wer sich nicht sicher ist, was er sagen oder tun soll, der lässt sich beraten. PR-Berater, Medien-Berater und Was-Weiß-Ich-Berater für die Prominenz aus Sport, Film und Entertainment. Reporter, Redakteure und Chefredakteure für die Moderatoren und alle, die in den Medien sichtbar sind. Alles ein offenes Spiel. Jeder gegen jeden. Wer einen Fehler macht ist draußen. Deswegen legt sich jeder seine Strategie zurecht. Jeder einzelne Zug ist wohl inszeniert. Eine mediale Inszenierung sozusagen.“

Ich habe das Gefühl, von einem Wisssenden in die Absurditäten einer fremden Welt eingeweiht zu werden. Frau Häusler bringt mir in meiner Unwissenheit eine Offenbarung.

„Auch bei Berghaim ist jede Aktion geplant. Jedes Lächeln, das er uns über die Kamera schenkt, jeder Satz, den er spricht, und vor allem jede Spende ist wohl geplant.“

Jetzt sitze ich senkrecht auf meinem Stuhl und hänge an jedem Wort von ihr.

„Wissen Sie, wofür Herr Berghaim Werbung macht?“

„Für Motorenöl“, sage ich voller Stolz auf mein heute neu erworbenes Wissen, muss mich aber im nächsten Moment belehren lassen.

„Nein, nein, dass sind die Sponsoren. Die zahlen im Prinzip nur an den Rennstall. Aber es gibt auch Firmen für die Berghaim direkt Werbung macht.“

Nach kurzem Nachdenken antworte ich:

„Diana Kaffee und Sahro Bonbons.“

„Stimmt, oder besser: Stimmte. Diana hat den Vertrag vor drei Monaten auslaufen lassen und Sahro verzichtet seit sechs Monaten auf seine Mitarbeit und vor allem auch auf die Ausstrahlung seiner Spots. Und wissen Sie auch warum?“

„Ich habe keine Ahnung.“

„Keine Ahnung? Das lief doch überall und stand in allen Zeitungen.“

„Den Teil der Zeitungen lese ich üblicherweise nicht.“

„Und die Sendungen, in denen so etwas vorkommt, schauen Sie auch nicht“,

sagt sie zustimmend und atmet hörbar tief durch.

„Okay, vor acht Monaten hat Berghaim zwei kleine Jungs, die Autogramme von ihm wollten, ein wenig zur Seite geschubst. Eigentlich eine Lappalie. Leider stolpert einer der Jungs und verletzt sich am Kopf. Dennoch hätte normalerweise niemand Notiz davon genommen. Da aber eine Kamera das Ganze eingefangen hat, war es für die breite Öffentlichkeit dokumentiert. Der Junge war auch noch Ausländer. Italiener. Auch nicht schlimm, aber ein zusätzlicher Aufhänger für die Medien. Am nächsten Morgen hatte die News ein Standbild von Berghaims Schubser auf der Titelseite. Dazu die Überschrift: ‚Misshandelte Berghaim diesen jungen Italiener?’ Auf Seite drei dann ganze sechzehn Standbilder von der Kameraaufzeichnung. Wie sich die Jungs vor Berghaim hinstellen, der Schubser, der Fall des Jungen, das Aufschlagen der Kopfes und so weiter und so weiter, bis zur Großaufnahme des Kratzers am Kopf. Dieser wurde in der News allerdings als offene Wunde bezeichnet. Die Bilder wahnsinnig vergrößert und daher bis zur Unkenntlichkeit unscharf, aber dadurch wirkten sie erst recht authentisch.“

Auch wenn ich die Zusammenhänge noch nicht verstehe, höre ich weiter gespannt zu.

„Für Berghaim begann ein wahrer Spießrutenlauf. Nach dem Artikel in der News zogen alle anderen nach. Das unscharfe Filmchen lief in allen Sendern. Die Öffentlichkeit war kaum interessiert, wurde aber immer wieder damit konfrontiert. Am Ende stand er da, als der, der einen kleinen Fan misshandelt hat. Und noch dazu einen Ausländer.“

Jetzt tut Berghaim mir fast ein bisschen leid.

„Aber er hat sich eine blendende Strategie aufgebaut: Er hat nichts dazu gesagt. Kein Wort, keinen Kommentar und schon gar keine Pressekonferenz. Seine Berater hatten offensichtlich das Gespür, genau zu wissen, dass die Öffentlichkeit weit weniger Interesse zeigte als die Medien. Daher die Entscheidung das Ganze auszusitzen. Die beiden Jungs und ihre Familien haben sich auch nie in der Öffentlichkeit gezeigt. Man munkelt, dass einer der Jungen ein fünfstelliges Schmerzensgeld erhalten hat...“

Ganz anständig für einen Kratzer am Kopf.

„… der andere sogar ein sechsstelliges …“

Oh, wie dumm von mir.

„… Berghaim Strategie ging auf. Er hat das ganz cool ausgesessen und nach und nach ließ das Interesse nach.“

Ich höre sie leise lachen.

„Leute wie Sie, haben überhaupt nichts davon mitbekommen.“

Wie witzig.

„Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht.

Aber was hat das Ganze jetzt mit mir zu tun?“

„Das will ich ihnen sagen: Der Vorfall hatte natürlich Auswirkungen auf Berghaims Werbeverträge. Wie gesagt, Diana hat den Vertrag mit Berghaim auslaufen lassen und Sahro verzichtet seit Monaten auf die Ausstrahlung seiner Spots. Da kommt für Berghaim momentan nicht viel Geld rein. Sahro hatte sicher eine Vertragsklausel, dass sie nur bei Ausstrahlung der Spots zahlen müssen, oder irgendetwas Ähnliches. Ich verstehe ja nicht viel von Werbeverträgen.“

„Und deshalb versucht er jetzt, mit der Spende an ‚Kinder - unsere Zukunft’ sein Image wieder aufzupolieren?“

„Jetzt verstehen Sie langsam. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Natürlich hilft das seinem Image. Aber das war ja, wie gesagt, gar nicht so stark beschädigt.“

„Richtig, es gab ja sogar Menschen, die das nicht einmal mitbekommen haben.“

„Eben“, wieder dieses leise Lachen, das die Frau aber noch sympathischer macht.

„Aber warum dann die Spende?“

„Damit bringt sich Berghaim einfach nur wieder ins Gespräch. Sie haben ja gesehen, dank dieser einen Pressekonferenz, in der er die fünf Millionen ankündigt hat, ist er auf allen Kanälen und in allen Blättern. Auch wir haben die Sache aufgegriffen und sie sogar zum Thema unserer Umfrage gemacht.“

„Und an der Stelle kam ich ins Spiel.“

„Genau. Alle Kommentare von der Straße waren begeistert. Einem schien es ziemlich egal.“

„Der älterer Herr mit Hut.“

„Richtig. Aber wir hatten eigentlich darauf gehofft, dass einer die Geschichte mit dem geschubsten Jungen aufgreift. Kam aber nicht. Zum Glück kamen dann Sie. Jemand, der den Berghaim einfach so kritisiert. Ohne die beiden Jungs. Mir war klar, dass wir das senden würden. Deshalb habe ich Sie auch um Ihre Daten gebeten. Üblicherweise nehmen wir die gar nicht auf.“

„Haben Sie da schon geahnt, dass das alles so laufen würde?“

„Nein, ganz sicher nicht, aber ich hatte das Gefühl, dass ich Ihre Nummer vielleicht irgendwann brauchen würde. Aber Berghaims Reaktion habe ich nicht vorhergesehen. Dabei ist sie eigentlich ganz logisch. Er zeigt wieder eine ebenso einfache wie geniale Strategie“

„Er zieht doch einfach nur die Spende zurück?“

In dem Moment wo ich es sage, wird mir klar wie blöd die Frage ist. Diese Frau weiß wovon sie spricht. So einfach wird die Sache also nicht sein. Da muss mehr dahinter stecken. Ich versuche es weiter:

„Oder meinen Sie, der will mich bewusst fertig machen, weil ich ihn angegriffen habe?“

„Nein, nein, nein. So wichtig sind Sie nun wirklich nicht.“

Sie lacht schon wieder.

„Nehmen Sie ‘s mir nicht übel, aber um Sie geht es dabei überhaupt nicht. Sie spielen dem Berghaim höchstens einen Ball zu, den er gern aufnimmt.“

„Wieso?“

„Okay, der Berghaim wollte also sein Image aufpolieren und vor allem wollte er sich wieder in der Öffentlichkeit ins Gespräch bringen.“

Sie wartet kurz, um zu prüfen, ob ich sie soweit verstanden habe. Die hält mich langsam schon für blöd. Ich halt jetzt mal lieber die Klappe.

„Der Rückzug bringt Berghaim noch mehr Medienpräsenz als die Spende selbst. Viel mehr. Zuerst kündigt er die Spende an. Einen Tag später kommen Sie mit Ihrem Kommentar. Am nächsten Tag erwidert er mit seinem Rückzug und auch Ihr Kommentar wird wiederholt. Jeden Tag fällt in zwanzig verschiedenen Sendungen je zehn Mal der Name Uwe Berghaim. Und dann noch viel häufiger in all den Blättern mit all den großen Headlines. Berghaim, Berghaim, Berghaim, immer wieder Berghaim. Vielleicht bringt morgen noch einer einen weiteren Kommentar. Spätestens übermorgen kommen dann die Comedians. So viel hätte er mit der Spende allein nie und nimmer erreicht. Und so spart er auch noch die fünf Millionen Euro. Eine ganze Menge Geld, auch wenn er es mit der Werbung hinterher wieder reinholt. So muss er es gar nicht erst ausgeben.

Und das verdankt er ihnen. Sie haben ihm eine Steilvorlage geben, die der mit seiner Strategie voll ausnutzt. Eine Strategie, die viel bringt und nichts kostet.“

„Genau genommen bekommt er noch Geld dazu.“

„So ist es.

Der will Sie nicht fertig machen. Warum sollte er? Eigentlich sind Sie ihm völlig egal. Insgeheim ist er ihnen vielleicht sogar dankbar. Zumindest seine Berater“

Ich erwische mich dabei, dass ich sauer werde. Aber auf wen eigentlich? Bestimmt nicht auf Susanne Häusler. Sie eröffnet mir gerade völlig neue Welten. Und dabei ist sie sehr nett und charmant. Ich glaube ihr jedes Wort. Warum auch nicht?

„Aber ich muss ehrlich sein.“

Kann die Frau Gedanken lesen?

„Eigentlich habe ich nicht angerufen, um ihnen die Abgründe der Medienbranche zu erläutern.“

„Sondern?“

Sie zögert. Es fällt ihr schwer, zu sagen, was sie sagen will.

„Okay, ich rufe an, weil mein Chef gesagt hat, ich soll Sie finden. Um jeden Preis.“

„Was soll das heißen, Sie sollen mich finden. Sie haben doch meine Adresse und Telefonnummer.“

„Ja, aber dass weiß mein Chef nicht.“

„Warum nicht?“

„Auch eine Inszenierung. So habe ich die Chance, Sie zu finden. Chefs mögen so etwas.“

„Na toll.“

Wieder höre ich so ein leises Lachen.

„Nein, eigentlich wollte ich ihnen die Chance geben, nicht gefunden zu werden.“

„Bitte?“

Allmählich komme ich mir wirklich dumm vor. Verstehe ich denn überhaupt nichts.

„Okay, mein Chef will mehr Interviews mit ihnen haben. Kreuz und quer durch alle Formate des Senders. Eigentlich will mein Chef, dass ich Sie überrede.“

„Und Sie wollen nicht, dass ich noch mehr Interviews gebe?“

„Nein. Aber ich will, dass Sie sich genau überlegen, was Sie tun. Sie können sich frei entscheiden. Aber ich denke, Sie sollten sich darüber im Klaren sein, was dabei rauskommen kann.

Prinzipiell haben Sie zwei Möglichkeiten:

Sie können abwarten bis alles irgendwann vergessen ist. Dann nehmen Sie jedenfalls keinen weiteren Schaden.“

„Mehr Schaden geht doch gar nicht mehr.“

„Seien Sie da nicht so sicher.“

Sie macht mir Angst.

„Aber wenn Sie kämpfen wollen - wenn Sie argumentieren und vor allem überzeugen, dann können Sie vielleicht etwas bewegen.

Denke ich jedenfalls.“

„Kann ich denn überzeugen?“

„Ich denke schon. Sie haben doch genau gewusst, was Sie da sagen. Das ist doch Gedankengut, das Sie schon lange mit sich herumtragen. Wir haben ihnen da doch nur ein Ventil geboten. Sie haben eine klare Haltung zu den sogenannten Prominenten. Und zu den Medien, die sich mit den Prominenten beschäftigen. Sie gehen davon aus, dass die Prominenten in einem Reichtum schwelgen, für den alle anderen, also alle Nicht-Prominenten, hart arbeiten müssen. Dabei werden die Prominenten von Medien unterstützt, die diese Unterstützung nur leisten, da auch sie daran verdienen.“

„Besser hätte ich es nicht ausdrücken können.“

„Sehen Sie: Mich haben Sie bereits überzeugt. Ich finde Ihren Standpunkt einleuchtend. Ich denke auch, dass er richtig ist. Und Sie treffen damit über kurz oder lang einen Nerv in der Gesellschaft. Das haben Sie bei mir ausgelöst, und das, obwohl ich eigentlich von der gegnerischen Seite komme. Und einen Teil meiner Redaktion haben Sie auch überzeugt. Sogar einige aus dem Team. Na ja, eigentlich nur einen, aber mein Kameramann ist ansonsten sehr erdverbunden und nicht so schnell für neue Ideen zu begeistern.

Hätten Sie das Team nicht überzeugt, wären Sie gar nicht in die Sendung gekommen.

Gut, mein Chef ist nicht Ihrer Meinung. Der will die weiteren Interviews nur, weil er glaubt, dass das Quoten bringt. Letztendlich will er mit ihnen noch mehr Geld verdienen. Quasi mit Ihrer Prominenz.

Aber genau das ist der Punkt: Sie genießen jetzt eine sehr große Aufmerksamkeit. Sie selbst sind prominent. Diese Prominenz können Sie nutzen, um Ihre Sache publik zu machen.

Da hat Berghaim ihnen den Ball hervorragend zurückgespielt. Möglicherweise ohne es zu ahnen.

Wenn Sie den Ball jetzt wieder aufnehmen - wer weiß - da kann echt ‘was draus werden. Da kann viel draus werden.

Sie merken, ich baue ihnen jetzt eine Strategie auf. Genau wie Berghaim und seine Berater das machen. Sie nutzen Berghaim, um Ihre Idee an den Mann zu bringen. Ich bin sicher, an dem was Sie sagen ist viel dran. Wie gesagt, es trifft die Gesellschaft an einem ihrer Nerven.

Aber es wird schwer sein, dass den Menschen zu vermitteln. Vor allem wenn es gegen Uwe Berghaim geht. Verdammt schwer.

Und vor allem müssen Sie wissen, dass Sie dabei ganz gehörig was abkriegen können. Ganz gehörig. Und deshalb würde ich ihnen nicht dazu raten. Es sind schon andere wegen sehr viel weniger von den Medien fertig gemacht worden. Da reicht manchmal schon ein Satz oder ein Wort, den Sven Stein dann jeden Abend wiederholt, bis sich die ganze Welt darum zu drehen scheint. Davon lebt er - und seine Sendung. Zur Not macht er noch ein Lied darüber. Sven Stein schafft alle, vom Schlagerstar, über die Werbefigur bis zum Zaunpfahl.

Jetzt haben Sie die Wahl, entweder, Sie ziehen sich zurück bis alles vorbei ist und leben Ihr Leben weiter wie bisher, oder, Sie packen die Gelegenheit beim Schopf und sagen das, was Sie schon immer sagen wollten. Und zwar allen. Aber wenn ‘s schlecht läuft, liegt Ihr Leben in Scherben. Und das werden ganz kleine Scherben sein.“

„Und meine Familie?“

„Noch mehr Scherben.“

Ich atme tief durch. Wenn Frau Häuslers Chef mich angerufen hätte, hätte ich sicherlich jedes Interview angenommen. Und mit jedem Interview hätte ich was auf die Mütze bekommen. Das meinte sie also, als sie sagte, sie wolle mir die Chance geben, nicht gefunden zu werden.

„Ich danke ihnen sehr, Frau Häusler. Sehr.“

„Keine Ursache. Wie gesagt, mich haben Sie überzeugt, und deswegen glaube ich, dass Sie eine Chance haben. Ich würde ihnen auch gern weiterhin dabei helfen.“

Ich glaube ihr nach wie vor jedes Wort. Wem soll ich denn sonst glauben? Es gibt momentan niemanden, der etwas von der Materie versteht und gleichzeitig vertrauenswürdig scheint.

„Ich kann verstehen, wenn Sie da jetzt nichts zu sagen wollen. Ich habe Sie da jetzt sicher ganz schön überfahren. Aber ich fürchte, Sie müssen sich für eine Strategie entscheiden. Abwarten oder Wehren.

Beides gleichzeitig wird nicht gehen. Wenn Sie dazwischen hin und her pendeln, werden Sie auf jeden Fall hinterher in Scherben daliegen. Überlegen Sie sich was Sie wollen.“

Ich werde mir das überlegen.

„Haben Sie noch meine Karte? Da ist meine Handynummer drauf. Sie können mich Tag und Nacht erreichen. Egal, wie Sie sich entscheiden oder ob Sie nur einfach noch eine Frage haben.

Ich ziehe das gerne mit ihnen zusammen durch.

Ich verspreche ihnen, ich werde meinem Chef erst dann sagen, dass ich Sie gefunden habe, wenn Sie das möchten. Aber denken Sie dran, wahrscheinlich bin ich nicht die einzige Redakteurin im Land, die Sie sucht. Also, entscheiden Sie sich bald.“


Ich sitze noch einige Zeit nach dem Telefonat einfach nur so vor meinem Schreibtisch. Ich muss mich entscheiden. Wie soll ich das denn machen. Frau Häusler will mir helfen. Kann sie das denn wirklich? Will sie das denn wirklich? Oder ist das ganze Telefonat am Ende auch nur eine Inszenierung gewesen? Eine mediale Inszenierung? Was soll ich tun? Was ist, wenn sich jetzt ein anderer Redakteur bei mir meldet?

Schnell ziehe ich den Stecker vom Telefon raus. Ich werde schon paranoid.

Irgendwann werden auch andere Sender und Zeitungen mich finden. Es gibt genug Nachbarn, Schulfreunde, Kollegen und was weiß ich, die mich im Fernsehen gesehen haben und gern damit angeben. Hat es denn irgendjemand nicht gesehen? Ich fühle mich jetzt schon wie in Scherben. Aber vielleicht geht das ganze doch irgendwie noch an mir vorbei. Aber wie?

Ich gehe hinüber ins Wohnzimmer und setze mich zu meiner Frau vor den Fernseher. Es ist spät. Ulrike hat die Kinder schon ins Bett gebracht. Schade. Ich habe zu lange mit Frau Häusler telefoniert. Oder zu lange gegrübelt.


Ulrike fragt nicht einmal mehr, wer am Telefon war. Stumm schaut sie auf den Fernseher. Ich glaube, wir wollen beide nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Normalerweise kann ich in so einer Stimmung gut vor dem Fernseher abschalten. Heute funktioniert das nicht.

Als ich noch einmal durch die Programme zappe, kommt plötzlich wieder Berghaim zum Vorschein. Ulrike will mir die Fernbedienung wegnehmen, aber ich ziehe weg. Darin habe ich Übung, so wie wohl die meisten deutschen Ehemänner. Aber normalerweise ist das lustiger. Heute ist es sehr ernst.

Sie zeigen ein neues Statement von Berghaim. Augenscheinlich schon wieder eine eigens einberufene Pressekonferenz. Alles schön hergerichtet, mit den Emblemen aller Sponsoren im Hintergrund. Auch Mooiqu ist dabei. Und wieder grinst Berghaim blöde. Und wieder diese dämliche Mütze. Aber heute gibt er sich richtig entrüstet.

„Wenn mir eine solch negative Haltung entgegenschlägt, kann ich nicht anders. Ich ziehe meine Spende ganz bewusst zurück …“

Klar machst du das ganz bewusst.

„… ich kann mit soviel Neid und Missgunst hier in Deutschland nicht umgehen. Ich kann solch eine Meinung nicht noch unterstützen ...“

Man nimmt ihm diesen Schwachsinn glatt ab, so dämlich, wie der grinst. Als ob er mich mit meiner Meinung unterstützen würde, wenn er das Geld trotzdem spendet. Die Erklärung von Susanne Häusler klang da irgendwie plausibler.

„… ich weiß schon, warum ich lieber in der Schweiz lebe ….“

Ich auch.

„ … ich habe ein Leben lang hart gearbeitet. Alles was ich besitze, habe ich selbst verdient. Ich habe nie jemanden irgendwas weggenommen! Und das brauche ich mir auch nicht vorwerfen zu lassen!“

Wenn Frau Häusler wirklich Recht hat und der eigentlich nur auf mehr Publicity aus ist und dabei noch fünf Millionen sparen will, dann inszeniert er seine Empörung wirklich gut.

„… und wenn das so weiter geht. Wenn weiterhin in der Form über mich berichtet wird, wenn weiterhin vergrämte Neider im deutschen Fernsehen über mich herziehen dürfen, werde ich über kurz oder lang Deutschland komplett den Rücken zuwenden …“

Ist das eine Drohung oder ein Versprechen?

„… fürs Erste jedenfalls weigere ich mich in Deutschland noch irgendetwas Gutes zu tun!“

Fassungslos meldet sich Ulrike:

„Der will dich doch fertig machen! Jetzt hat er es auf dich abgesehen“

„Nein. Der will was ganz anderes.“

Vergiss es. Wer sagt denn, dass die Häusler Recht hat und nicht Ulrike? Was weiß denn ich. Aber das können wir auch nachher besprechen. Jetzt erscheint schon das nächste Gesicht auf dem Bildschirm.

„Wir haben vollstes Verständnis für die Reaktion von Herrn Berghaim, auch wenn wir seine Rücknahme der Spende zutiefst bedauern…“

Friedrich Sauerbaum, Vorstandssprecher von ‚Kinder - Unsere Zukunft’, wird unter seinem Gesicht eingeblendet. Der sitzt in der gleichen Pressekonferenz? Vor all den Emblemen der Sponsoren im Hintergrund? Berghaim tritt den so vors Schienbein und deren Vorstandssprecher setzt sich da in die Pressekonferenz und stimmt Berghaim noch zu? Fällt das niemanden auf? Was für eine miese Inszenierung. Susanne Häusler hat doch Recht!

„… leider nimmt man uns mit dieser Spende unsere letzte Chance. Die Organisation ‚Kinder - Unsere Zukunft’ wird nunmehr - wenn nicht noch ein Wunder geschieht - nichts anderes übrig bleiben, als Insolvenz anzumelden ...“

Man nimmt ihm und seiner Mimik die tiefe Betroffenheit glatt ab. Aber derjenige, der ihm die Spende nimmt, sitzt doch nur zwei Plätze neben ihm, der hat ihn zu dieser Konferenz doch eingeladen.

„Soviel Neid und Missgunst, wie hier zu Tage getreten ist, ist uns fremd und beschämt uns. Wir können uns davon nur weit, weit distanzieren…“

Ich bin also Schuld? Prima. Und dann auch noch mit so viel Polemik.

Berghaim nimmt den alles wieder weg und die lassen sich dann auch noch dermaßen von ihm ausnutzen. Lassen sich voll vor Berghaims Karren spannen?

„ … ich persönlich meine, dieser Mann sollte aus dem Land geworfen werden...“

Ich spüre, wie Ulrike zusammenzuckt. Sie hat die Augen weit aufgerissen.

„… zumindest hätte diese Meinung hierzulande niemals gesendet werden dürfen!“

Plop.

Ich halte das nicht mehr aus.

Einen Moment starrt mich Ulrike noch an, dann brechen die Tränen aus ihr heraus. Ich nehme sie in den Arm und versuche sie zu trösten.

Nach und nach erkläre ich ihr, was ich selbst gerade erst verstehe. Langsam gelingt es mir die Theorie von Frau Häusler meiner Frau nahe zu bringen. Berghaims Pressekonferenz und der Auftritt des Vorstandssprechers von ‚Kinder - Unsere Zukunft’ hilft mir ungemein. Das war zu schlecht inszeniert.

Wir reden bis wir völlig erledigt ins Bett gehen. Zuvor suche ich noch die Karte von Susanne Häusler und lege sie neben das Telefon.

Prominent

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