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Kapitel 1
ОглавлениеMontag, 20. September 1975, Boston, MA:
Alexander van Daalen lief an diesem Morgen aufgeregt an der Hand seiner Mutter Claire die Straße zur Lincoln Elementary School hinauf und ihm war mulmig zumute. Er war zudem noch unausge-schlafen. Wieso musste er so früh aufstehen? Warum musste er denn gerade heute zur Schule? Nun ja, es war sein erster Schultag und irgendwann musste es schließlich einmal losgehen. Er war nun schon fast 7 Jahre alt und immer noch ein wenig verträumt, wie es schien – das merkte heute auch wieder seine Mutter. Alexander hatte alles andere im Kopf – nur nicht die Schule. Das ist doch völlig überflüssig. Konnte man sich nicht einfach auf das notwendigste beschränken und alles so schnell wie möglich hinter sich bringen?
Die Morgensonne schien hell auf die Kennard Road, als sie zusammen mit knapp hundert anderen Eltern und Kindern die Lincoln Elementary School betraten. Alexander dachte nur – Augen zu und durch, ich muss nicht alles verstehen, aber durchkommen werde ich, das ist ganz gewiss.
Ein leicht nervöses Gefühl machte sich bei ihm breit, er schaute seine Mutter an – sie lächelte und rief:
„Ich hab Vertrauen zu Dir mein Schatz – Geh nur in Deine Klasse dort drüben!“
Alexander winkte ihr kurz zu und sie verschwand. Dann tat er es genau so, wie sie es ihm sagte und dachte dabei – der erste Schritt ins Ungewisse ist immer der schwierigste, danach wird alles einfacher. Ihm fiel ein, was sein Vater Victor vor einigen Wochen zu ihm sagte, als er Alex dabei ertappt hatte, wie er seiner Mutter nicht so ganz die Wahrheit erzählte. Er hielt eine Dollar Note hoch, schaute ihn kritisch an und flüsterte dabei:
„Dies, mein Sohn, beruht nur auf Vertrauen – wenn es das Vertrauen nicht mehr gibt, ist dieses Papier wertlos. So ist es überall, nur wenn es Vertrauen gibt, gibt es auch Werte. Deswegen haben wir auf diese Note geschrieben – Wir vertrauen auf Gott“.
Das hatte Alexander verstanden – so ging es ihm auch jetzt. Doch wem sollte er hier eigentlich vertrauen?
Fast im selben Augenblick stellten sich ihm zwei massiv abstehende Ohren auf beiden Seiten eines Mondgesichtes in den Weg – der Junge war einen guten Kopf größer als Alexander und nahezu doppelt so breit, an ein Durchkommen war nicht mehr zu denken. Das fehlte ihm gerade noch. Probleme erscheinen häufig unverhofft. Er kannte Edvin Golm, so hieß der Riese, schon aus der Vorschule, bereits dort hatte er sich deutlich als Störenfried herauskristallisiert. Das dicke Paar Ohren rief:
„Hey Kleiner! Immer schön langsam – ich bin hier der erste und dann kommst Du! Also immer schön einen Schritt hinter mir her!“
und Alexander folgte ihm ohne Widerspruch in die Klasse, schließlich wollte er sowieso dort hin und deswegen lohnte es sich überhaupt nicht, Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Edvin wies ihm einen Platz hinter sich zu und grinste Alexander unverschämt an. Dem schwante, dass ihn dieses Grinsen noch einige Jahre begleiten würde. Dass es aber noch viel länger werden sollte, wusste er glücklicherweise noch nicht. Alexander blickte sich um – annähernd 20 Kinder hatten sich nun auf ihre Stühle gesetzt und erwarteten gespannt die weiteren Geschehnisse.
Lynn Becker nahm soeben Platz. Ihre Mutter hatte heute leider keine Zeit – seit Lynns Vater gestorben war, hatte ihre Mutter eigentlich nie Zeit. Lynn hat sich in den zwei Jahren seit seinem Tod daran gewöhnt und kam auch ganz gut damit zurecht, aber gerade heute wäre es schön gewesen, wenn auch ihre Mutter dabei wäre. Es ist schon richtig, Lynn war verantwortungsvoll und sehr selbständig, wie ihre Mutter immer mit einem gewissen Stolz in ihrer Stimme den Freundinnen und Nachbarn berichtete, aber nun wäre Lynn gerne das kleine Mädchen gewesen, das sie eigentlich war. Zierliche sechseinhalb Jahre alt, mit blonden Zöpfen und Sommersprossen um ihre blauen Augen – an ihrem ersten Schultag. Aber Lynn musste auch jetzt stark sein und diesen Tag allein beginnen. Der Junge, der neben ihr saß, war schmächtig mit strohigen blonden Haaren und schien eher ruhig zu sein. Zumindest reagierte er auf die Faxen des fülligen Jungen vor ihm überhaupt nicht, allerdings lächelte er kurz zu ihr herüber und sagte leise:
„Hallo, ich bin Alex“.
Seine stahlblauen Augen funkelten dabei. Wenigstens ein vernünftiger hier, dachte Lynn, als die Lehrerin das Klassenzimmer betrat.
Zur gleichen Zeit hatte Thomas in Bremen Dringendes vor – er raste mit seinem Rad die Hauptstraße entlang und genoss den freien Nachmittag. Zwar regnete es ein wenig, aber das störte ihn nicht und er dachte, das wird schon gleich wieder aufhören. Er hatte den ganzen Tag im miefigen Klassenraum der 2. Stufe der Bürgermeister-Smidt-Grundschule zugebracht und nun wollte er endlich seinen neuen Drachen steigen lassen. Es war eine große Überraschung, als sein Vater, der als Vice President die Bankfiliale der Handelsbank in Bremen leitete, ihn am Vormittag auf dem Pausenhof der Schule besuchte und ihm mit theatralischem Gebaren eine bunte Schachtel übergab.
„Heute ist gutes Wetter für Drachen, viel Spaß nachher!“
hatte er noch gesagt und war dann mit lautem Lachen zurück zur Arbeit gegangen. Thomas hatte große Augen gemacht, das hatte er nicht erwartet. Gleich nach der Schule ist er dann mit der Schachtel nach Hause gerannt, hat den glitzernden Drachen ausgepackt, sich dann aufs Rad geschwungen und nun stand er auch schon auf dem freien Feld am Stadtrand. Er hatte richtig vermutet – der Wind vertrieb die spärlichen Regenwolken und nun schien sogar die Sonne in ihrer herbstlichen Milde. Wirklich ein guter Tag, den Drachen steigen zu lassen, dachte Thomas und wirkte dabei etwas traurig. Dann rannte er was das Zeug hielt über das Feld, den Drachen immer an der Schnur hinter sich her ziehend. Gleich schwebte der Drachen über seinen Kopf hoch hinaus in den Himmel – die Schnur wickelte sich ab und Thomas hielt an deren Ende den Drachen unter Kontrolle. Majestätisch stand der Drachen nun am Himmel – und Thomas allein auf dem weiten Feld. Gerne hätte er mit seinem Vater den Augenblick geteilt, aber der musste ja wieder mal arbeiten. Obwohl er Thomas schon im Sommer versprochen hatte, ihm einen eigenen Drachen zu kaufen und diesen zusammen mit ihm auszuprobieren. Seit sein Vater Vice President der Handelsbank geworden war, hatte er kaum noch Zeit für Thomas. Momente wie auf dem Pausenhof gab es kaum – immer war sein Vater verbissen im Büro und musste irgendwelche blöden Konzepte durcharbeiten. Nie war er früh zuhause und stritt sich, wenn er denn mal da war, oft mit der Mutter. Meist ging es um Geld und die Arbeit in der Bank. Nicht dass nicht genügend Geld da war – davon hatte die Familie inzwischen genug –, sondern darum, dass Geld nicht alles ist.
Simon Hartmann, der Vater von Thomas, hatte emsig für seine Beförderung zum Vice President gearbeitet. Er kam aus einfachen Verhältnissen, hatte sehr früh wegen der Schwangerschaft Lydia geheiratet und verfluchte manchmal sein aus seiner Sicht schwieriges Leben. Er liebte seine Frau Lydia und auch seinen Sohn Thomas sehr, aber niemand unterstützte ihn bei seinen beruflichen Ambitionen, nicht einmal Lydia verstand ihn. Er stand ganz allein mit seinem Drang, an die Spitze zu kommen. Als dann endlich die Beförderung kam, blickte er schon auf sein nächstes Etappenziel. Er wollte ganz nach oben und zum Ausruhen hatte er keine Zeit. Weg aus der Bremer Kleinbürgerwelt und hinein in die lebhafte Finanzmetropole nach Frankfurt – das war sein Ziel. Er wollte es allen zeigen. Mit seinen 28 Jahren war er zwar noch recht jung für höhere Weihen, aber er hatte Biss. Dieser Biss ging teilweise soweit, dass er seine Familie vergaß und fast schon rücksichtslos alles seiner Karriere unterordnete. Dann packte ihn immer wieder unversehens das schlechte Gewissen und er versuchte mit Geschenken für Lydia und Thomas das Versäumte wieder gut zu machen, so wie heute morgen mit dem Drachen auf dem Schulhof – denn eigentlich machte er alles doch nur ihretwegen. So redete er es sich ein.
Lynns Mutter war heute morgen bei der Boston Bay Bank – sie versuchte, eine Hypothek für den Kauf eines Hauses in der Nähe von Boston zu bekommen. Gerne hätte sie Lynn zur Schule gebracht – schließlich war heute ihr erster Schultag. Aber es ging nun mal nicht. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie kaum Zeit für Lynn hatte. Aber zum Glück war ihre Tochter mit ihren sechseinhalb Jahren ja schon so selbständig. Das machte sie stolz. Seit ihr Mann Robert vor 2 Jahren gestorben war, hatte sich alles verändert. Nichts war mehr so, wie sie es sich vorgestellt hatte – die kleine Familie wurde auseinander gerissen. Robert war immer der Ruhepol der Familie. Er ließ sich einfach durch nichts aus der Ruhe bringen und wusste immer Rat. Sie vermisste ihn so sehr. Robert sagte immer
„Eines Tages baue ich Euch ein schönes Zuhause – mit einer Veranda und einem kleinen Garten.“
Dann träumten sie vom Glück im eigenen Heim und malten sich alles im Detail aus. Die Blumen vor dem Haus, die Schaukel im schönen Garten, bis hin zu den Tapeten an den Wänden. Nun wollte sie für Lynn diesen Traum wahr machen. Das Haus, das sie kaufen wollte, war nicht groß, aber dafür preiswert. Dies hatte ihr zumindest der Makler gesagt. Eine Gelegenheit wie keine – man dürfe sie nicht verpassen. Immer mehr ihrer Freunde waren zu Hauseigentümern geworden. Sie wusste zwar noch nicht wie, aber sie würde es schaffen, dieses Haus zu kaufen. Dann hätte sie endlich mit Lynn ein eigenes Zuhause, so wie sie es immer schon wollte. So wie es Robert für sie erträumt hatte.
Die Situation war anscheinend an diesem Septembertag im Jahre 1975 in der Tat günstig. Die Preise für Wohnimmobilien waren in den vergangenen Jahren stabil und seit 1970 deutlich gestiegen, nun war der Markt in einem Zwischentief, aber der Trend zu den eigenen vier Wänden war ungebrochen. Eigentlich konnte alles nur gut gehen. Das sagte der Makler und sie glaubte ihm. Die Hypothekenzinsen waren zwar auf einem Niveau von knapp 10 Prozent – das war für Lynns Mutter viel, aber der Makler sagte, dass es schon noch gehen würde. Wenn sie statt eines festen Zinssatzes einen variablen Zinssatz nähme, würde sie eine Menge Geld sparen, denn die variablen Zinsen wären viel günstiger als die festen Zinsen. Lynns Mutter vertraute ihm. Dann kam der für sie schwierigste Teil. Sie musste die Lebensver-sicherungssumme von Robert einsetzen. Die Boston Bay Bank gab nur eine relativ geringe Hypothek auf das Haus. Das meiste würde sie mit der Versicherungssumme als Eigenkapital aufbringen müssen. Eigentlich war das Geld für die Ausbildung von Lynn bestimmt – damit sollte später einmal ihr Studium finanziert werden und sie brauchte dieses Geld auch als finanziellen Rückhalt. Doch der Makler sagte ihr, dass die Hauspreise weiter steigen würden und wenn sie jetzt nicht kauft, dann würde sie nie ein Haus bekommen. Sie könnte doch jederzeit das Haus mit Gewinn wieder verkaufen, wenn sie denn später Geld bräuchte. Lynns Mutter überlegte lange und schließlich sagte sie
„Ja“.
Der Traum vom eigenen Heim wurde wahr. Adam McKenzey, so hieß der Makler, schenkte ihr sein liebenswürdigstes Lächeln und lobte ihre kluge Investition.