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Kapitel 3

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Mittwoch, 26. Dezember 1990, Boston, MA:

An diesem Tag waren Edvin und Alexander die einzigen Studenten im großen Lesesaal der Wirtschaftsfakultät von Harvard. Edvin hatte beschlossen, dass es an der Zeit war, sich für die Prüfungen ins Zeug zu legen und was lag da näher, als Alex mitten in den Weihnachtsferien zu einem einsamen Wochenende mit ihm im Lesesaal der Uni zu verdonnern? Alex war gut, fleißig und schnell – und Edvin wusste das zu nutzen. Für ihn war das hohe Lernpensum schwierig, aber dafür hatte er einen festen Willen und die Fähigkeit, andere für sich einzunehmen. Hierdurch hatte er es geschafft, sich gut zu vernetzen und einen hohen Beliebtheitsgrad in ihrem Jahrgang zu erreichen. Alle wollten mit Edvin befreundet sein – das machte auch Alex irgendwie stolz auf seine Beziehung zu ihm. Vielleicht hatte es auch einige Vorteile, der Freund von Edvin zu sein. Schließlich war Alex der einzige Kommilitone, der quasi von Anfang an mit Edvin befreundet war. Inzwischen hatte daher auch Alex sich mit dem Begriff „Freund“ in Bezug auf Edvin arrangiert. Das brachte ihm nun ein wenig von der Bewunderung der anderen Studenten ein – insbesondere bei den Kommilitoninnen. Mehr als ein flüchtiges Abenteuer ließ Alex aber nicht zu – irgendwie verstand er es nicht, eine feste Bindung aufzubauen. Spätestens zu dem Zeitpunkt, wenn die jeweilige Freundin den einen oder anderen persönlichen Gegenstand in seinem Zimmer zurückließ, war es für Alex das Zeichen, die Beziehung möglichst umgehend zu beenden. Er spürte dann immer eine kalte Stelle in seinem Herzen. Diesen Ort zu wärmen, war einer ganz bestimmten Person vorbehalten – Lynn. Er konnte sie nicht vergessen und musste häufig an sie denken.

Edvin und Alex wohnten dank der Unterstützung von Alex’ Vater, der im Stiftungsrat der Universität vertreten ist, in der Villa der Studentengemeinschaft, in der auch Alex’ Vater während seines Studiums wohnte. Wenn sie abends den Luxus eines Dandy Studentendaseins genossen, sah es mit der Beliebtheit von Edvin allerdings zunächst anders aus, denn trotzdem gehörte er anfänglich noch nicht ganz dazu. Alle anderen Bewohner der Villa hatten schon vorher Familienmitglieder als Studenten dort, meist sogar über mehrere Generationen. Da stand Edvin ein wenig abseits – doch Alex war das entscheidende Bindeglied. So wurde Edvin in dieser Gesellschaft anfangs aufgrund seiner großen Beliebtheit geduldet und Stück für Stück gehörte er immer mehr schon fast dazu.

Sie machten gerade eine Pause von ihrem Lernpensum und Alex erzählte Edvin den neuesten Tratsch über Hank, den Aushilfshausmeister. Hank Nordmann arbeitete seit gut 6 Wochen in der Hausmeisterei der Uni und war offensichtlich ein wenig übereifrig. So wurde es vermutet. Bereits am ersten Tag hatte er sich zur großen Erheiterung der Studenten in der Wirtschaftsfakultät mit dem Dekan lauthals überworfen, weil dieser ohne gültige Parkmarke mit dem Auto auf dem Unigelände unterwegs war. Hank wollte den Dekan sogar samt Wagen vom Uni Campus entfernen lassen und hatte schon per Funk den Wachschutz angefordert. Glücklicherweise hatte der Dekan ein Einsehen und akzeptierte die anschließenden reumütigen Entschuldigungsbekundungen, als Hank bemerkte, wen er dort des Geländes verweisen wollte. So hatte dieser Vorfall keine ernsthaften Konsequenzen für Hank. Allerdings genoss er fortan die besondere Beobachtung durch die vollständige Studentenschaft, damit ja kein weiterer noch so kleiner Fehltritt verpasst wurde. Haarklein wurde über jedes Malheur von Hank berichtet. Diesmal soll er einen Kurzschluss im Audimax während einer Vorlesung fabriziert haben. Alle saßen mit einem Mal im Dunkeln, so wurde es erzählt. Edvin lachte gerade laut und schallend, als plötzlich das große Eingangsportal des Lesesaals geöffnet wurde. Beide schauten hinüber und Professor Samuel Peterson kam mit festem Schritt herein. Er war mit seinen jungen 45 Jahren der am meisten bestaunte Professor – unverschämt gut aussehend, mit einem immer gebräunten Teint und top gekleidet. Er fuhr einen Porsche 911 Oldtimer – allein das brachte ihm schon die ungeteilte Aufmerksamkeit der normalen Studenten ein und hob ihn von den eher biederen übrigen Professoren wohltuend ab. Allerdings hatte er auch seine eigenen Lehrmethoden und einen besonderen Vorlesungsstil. Er veranstaltete Workshops in Minigruppen, mit denen er übers Wochenende nach Las Vegas fuhr, und hielt seine berühmten interaktiven Vorlesungen. Während dieser Vorlesungen setzte er sich häufig in die letzte Reihe des meist bis auf den letzten Platz besetzten Audimax und schickte scheinbar willkürlich einen Studenten ans Pult – der sollte die Vorlesung halten. Dann konnte Petersons Show beginnen. Er löcherte diesen armen Studenten mit seinen Fragen, die er gleich brillant selbst beantwortete. Der traurige Tropf am Pult war seinem bissigen Hohn und näselnden Spott als Mitleid erregender Statist hilflos ausgeliefert. Petersons Botschaft dabei war – nichts ist sicher, alles ist möglich. Sein Spezialgebiet war das Investment Banking. Alex bewunderte ihn, doch vor allem war Edvin von Professor Peterson begeistert. Edvin hatte selbst vor einigen Wochen auf dem heißen Stuhl in einer der Vorlesungen von Peterson gesessen. Dieses Erlebnis hatte er noch gut in Erinnerung.

Alles hatte damals als kurzes, freundliches Gespräch vor der Vorlesung begonnen. Peterson hatte sich zu der Gruppe Studenten, mit denen Edvin zusammenstand, gesellt und scheinbar interessiert zugehört. Tatsächlich hatte Peterson die Gruppe aber nur aus seinem Blickwinkel analysiert und sich ein neues Opfer ausgesucht. Als es in die Vorlesung ging, hatte er Edvin fast freundschaftlich auf die Schulter geklopft und ihm dabei noch zugelächelt. Edvin hatte dies zunächst als Sympathiebekundung missver-standen und sich gefreut. Diese Freude sollte aber nicht lange andauern. Der Professor hatte sich - wie erwartet - in die letzte Reihe des Audimax gesetzt und schloss für einen Moment die Augen. Er verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Als alle Studenten Platz genommen hatten, öffnete er die Augen wieder und sagte wohlüberlegt:

„Guten Tag, Mr. Golm, was würden Sie davon halten, heute die Vorlesung vom Podium aus zu leiten?“

Edvin erschrak und zu seinem Leidwesen begannen seine Knie zu zittern. Er hatte diese Vorlesungen bereits einige Male als Zuschauer erlebt, er wusste, dass Peterson ihn nun demontieren könnte, aber er ließ sich nichts anmerken und ging trotz der weichen Knie mit festem Schritt zum Podium. Als er dort angekommen war, schaute er langsam einmal das Auditorium von rechts nach links an – und schwieg. Professor Peterson schien ungeduldig zu werden. Doch Edvin ließ sich nicht beirren, er hatte eine Idee. Die übrigen Studenten schauten Edvin an, einige blickten vorsichtig zur letzten Reihe. Professor Peterson schwieg und schien die Situation zu beobachten. Edvin schaute immer wieder über das Auditorium, er schien völlig ruhig zu sein, von Aufregung war keine Spur mehr zu erkennen, aber er sagte kein Wort. Mehr als 15 Minuten hatte das Schweigen schon gedauert, als Professor Peterson sich leicht nach vorne lehnte und fragte

„Mr. Golm, sind Sie noch da?“

Edvin schaute noch einmal von rechts nach links die Studenten an, blickte dann zum Professor in der letzten Reihe und sagte deutlich, ohne eine Spur von Nervosität in der Stimme:

„Professor Peterson, merken Sie denn nicht, dass ich bereits seit geraumer Zeit eine Vorlesung über die Stabilität von komplexen Systemen halte?“

Noch bevor Peterson antworten konnte, sprach Edvin weiter:

„Je mehr Beteiligte in einem System vertreten sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses System kollabiert. Was in diesem Fall bedeutet hätte, dass es hier im Saal unruhig wird. Die vielen unterschiedlichen Interessenlagen der Beteiligten stützen das System. Schauen Sie sich die Studenten hier an – keiner wollte mit mir tauschen, das ist das Ziel – hätte sich einer vorgewagt, wäre die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass ein anderer Student meinen Platz einnimmt. Dieses hätte zu einer großen Unruhe geführt. Das System wäre kollabiert. Der Grund, warum die Kommilitonen geschwiegen haben ist irrelevant, aber die unterschiedlichen Interessenlagen haben mein System gestützt und vor einem Zusammenbruch geschützt. Das, meine Damen und Herren, sagt uns, je komplexer ein System ist, desto stabiler ist es auch. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!“

Peterson blickte überrascht und lächelte anerkennend, dann sagte er:

„Mr. Golm, vielen Dank für Ihre Vorlesung. Gar nicht so schlecht, ganz im Gegenteil. Ich werde Sie im Auge behalten. Das ist ein Versprechen.“

Peterson ging jetzt zielstrebig durch den Lesesaal der Wirtschaftsfakultät von Harvard und als er bei Alex und Edvin angekommen war, ließ er sich auf einen Stuhl fallen, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme in seiner typischen Art.

„Guten Tag meine Herren – Sie scheinen ja besonders tüchtig zu sein. Oder wie darf ich Ihre Anwesenheit hier in den Weihnachtsferien verstehen?“

Seine braunen Augen funkelten Edvin und Alex durch seine Gaultier Brille an. Edvin grinste Peterson an und erwiderte forsch:

„Sie scheinen ja auch nichts besseres vorzuhaben“.

„Oh doch – ich bin hier um zwei Assistenten zu rekrutieren. Wie sieht es bei Ihnen aus?“.

Alex und Edvin schauten sich an, dann ging ihr fragender Blick zu Peterson. Der wartete erst gar nicht auf eine Antwort, sondern sprach gleich weiter:

„Ich möchte Sie bitten, sich am Montag um 7 Uhr bei mir im Büro einzufinden, damit wir über Ihre neue Aufgabe sprechen können“.

Alex und Edvin waren immer noch stumm.

„Und noch eines: Ich lege Wert auf Pünktlichkeit“.

Peterson stand abrupt auf und ging wieder in Richtung Ausgang des Lesesaals. Edvin rief ihm hinterher:

„Professor ... Professor Peterson, wir werden da sein. Ganz bestimmt!“

Peterson ging ohne zu reagieren weiter und sagte kaum vernehmbar, mehr zu sich selbst

„Das weiß ich, meine Herren.“

In den folgenden 5 Jahren gehörten Alex und Edvin zum festen Assistentenstab von Peterson. Der Professor entwickelte mit ihnen Strukturen und Systematiken auf dem Gebiet der angewandten Finanzmathematik, der kalkulatorischen Risikoermittlung aber insbesondere auf dem Gebiet der Entwicklung von Derivate-Produkten und der Strukturierung von Kreditfazilitäten, also der Gesamtheit der Kreditmöglichkeiten, die jemandem zur Deckung eines Kreditbedarfs bei einer oder mehreren Banken zur Verfügung stehen. Edvin faszinierten die Möglichkeiten, die Peterson ihnen bot – sie hatten Zugriff auf alle Rechner der Fakultät und der Ruhm von Peterson strahlte intensiv auf sie ab. Zudem lockten Edvin die Wochenenden mit den Minigruppen- Workshops in Las Vegas. Diese fanden zweimal im Jahr statt und waren für ihn sehr inspirierend. Alex hatte in den 5 Jahren nur einmal an einem Workshop teilgenommen – dies lag daran, dass das Programm des Professors ein geschmackloses und für ihn abstoßendes Ritual beinhaltete. Peterson hatte doch eigentlich diese kindischen Spielereien nicht nötig. Edvin bewunderte Peterson dafür umso mehr – Alex war davon irritiert. Er hatte nichts gegen Rituale – ihre Studentengemeinschaft in Harvard hatte selbst solche eigenartigen Traditionen. Doch zwischen einer symbolischen Tat, wie dem so genannten Bluttrunk der Gemeinschaft, bei dem harziger Rotwein anstatt Blut getrunken wurde, und der tatsächlichen Tat, also dem Trinken von echtem Blut, bestand für Alex ein ganz erheblicher Unterschied. Der Ekel stieg in ihm auf, als er daran dachte. Petersons makabre Vorstellung bestand darin, dass jeweils am ersten Abend in Las Vegas eine Blutkonserve in seine opulente Hotelsuite geliefert wurde und jeder Teilnehmer des Workshops trank etwas Blut aus dem goldenen „Kelch der Erfahrung“, dann waren sie nach Petersons Vorstellung bereit für eine weitere Stufe des Wissens. Im Anschluss an das Ritual, bei dem Peterson nur zelebrierte, aber nicht aktiv teilnahm, wurde exzessiv in den Casinos gespielt, um am nächsten Tag Impulse für Anlagestrategien zu besprechen. Alex wurde sein Fehlen bei den Workshops nicht angelastet – jeder der auch nur einmal daran teilgenommen hatte, gehörte dauerhaft zum Insiderzirkel der Fakultät und war quasi unantastbar.

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