Читать книгу Nach vorne! - Stefan Reusch - Страница 7
ОглавлениеDie Frauen, die ich liebte, hatten eins gemeinsam: Sie lernten meine Begeisterung für den Fußball zwar kennen, aber sie akzeptierten sie nur – so, wie sie meine Ignoranz gegenüber den dünnen Staubschichten auf meinem Bücherregal akzeptierten.
Dann begegnete ich Pauline. Wir waren vier Jahre lang zusammen. Unsere Liebe war eine, die man im Nachhinein zu den großen zählt. Bereits nach sechs Monaten suchten wir uns eine gemeinsame Wohnung, um zusammenzuziehen und nicht mehr auseinanderzugehen.
Der Fußball trat an einem Montagmorgen in unser Leben. Wir hatten ihm vorher kaum Beachtung geschenkt, wir beide zusammen – ich allein natürlich schon.
Ich saß am Frühstückstisch, versunken in den Sportteil des Kölner Stadt-Anzeigers, der sich mit den Fußballspielen des Wochenendes beschäftigte.
„Was liest du denn da“, fragte Pauline mich.
„Den Sportteil“, erwiderte ich in der Hoffnung, dass keine weiteren Fragen folgen würden. An diesem wie an fast jedem anderen Morgen wollte ich mit keinem Menschen auf der Welt über Fußball reden. Lesen klar, reden bitte nein.
„Fußball?“, fragte Pauline. „Nein, Dressurreiten“, wollte ich erst erwidern, doch ich ersparte mir den dämlichen Kommentar.
„Ja, über das FC-Spiel am Wochenende“, brummte ich also.
„Das Spiel hast du doch schon am Samstag in der Sportschau gesehen.“
Da tauchte es nun also auf wie ein Schiff am Horizont – das Problem, das ich vermeiden wollte. Meine Meinung war gefragt, und jetzt hätte ich eigentlich zugeben müssen, dass mich jede Information über meinen Lieblingsverein interessierte, auch wenn ich sie aus einem Mülleimer hätte herauskramen müssen. Aber dafür wären ausführliche Erklärungen notwendig gewesen. Dafür war ich viel zu faul, zu einfallslos, vielleicht gab es auch gar keine Erklärungen, denn in meinem bisherigen Leben hatte ich noch keine Erklärungen dieser Art gebraucht. Ich beschloss, es auf die harmlose und unschuldige Tour zu probieren:
„Jetzt lese ich halt noch mal einen Artikel über das Spiel.“
„Totaler Schwachsinn“, meinte Pauline seelenruhig, „was soll denn da drin stehen, was du nicht sowieso schon weißt?“
„Das Spiel wird hier analysiert. Es ist sozusagen eine Interpretation.“
„Ach so, du hast das Spiel am Samstag also noch nicht verstanden“, lachte sie.
„Doch“, knurrte ich und schüttelte den Kopf. Dann versuchte ich ihr mit einem Blick klarzumachen, dass wir die Unterhaltung gern zu irgendeinem anderen Zeitpunkt fortsetzen können – aber nicht jetzt.
Sie sagte nichts mehr, und ich fühlte mich für einen Moment als knapper Punktsieger, doch in Wahrheit hatte ich natürlich eine deutliche Niederlage erlitten. Jegliches Verständnis für das Leben eines Fußballfans war Pauline in diesem Moment verloren gegangen. Sie konnte dank meiner Mithilfe problemlos beschließen, dass es für meine, dass es für diese Art der Liebe zum Fußball keine Argumente gab. Und Pauline mochte keine Dinge, für die es keine Argumente gab.
Wenn ich nun die Sportschau guckte, diskutierte Pauline danach mit mir über einen neuen Kinofilm, wenn ich jeden Morgen zuerst den Sportteil in der Zeitung las, fragte sie ganz beiläufig nach unseren Plänen für den heutigen Abend. Oft ging ich ins Müngersdorfer Stadion, und Pauline begleitete mich nicht ein einziges Mal.
Doch eines Tages konnte ich dann doch einen „fußballerischen Erfolg“ in unserem Zusammenleben feiern. Erfolg ist vielleicht zu viel gesagt, es war wohl eher Zufall. Aber Tor ist Tor, auch wenn man nur angeschossen wird.
Diesen kleinen Triumph hatte ich einer Terminverschiebung zu verdanken – und der Tatsache, dass ich Fußball nicht nur liebte, sondern auch spielte. Bisher hatte ich mich mit meiner Hobbymannschaft immer samstags nachmittags getroffen, fast unbemerkt von Pauline, weil sie sich in dieser Zeit immer zum Shoppen in der Stadt aufhielt. Ohne dass ich noch wüsste, wie es dazu kam, legten wir unser „Training“ dann eines Tages auf den Sonntag, und auf einmal war Pauline zu Hause, wenn ich vom Fußball nach Hause kam.
Es war ein verregneter Wintersonntag, als meine Jungs und ich auf einem völlig aufgeweichten Boden dem Ball hinterherjagten. Der Schlamm setzte sich auf meinen Beinen fest, der Dreck landete zielsicher in meinem Gesicht und mein weißes Trikot sammelte Schmutzflecken wie kleine Kinder einst Panini-Bilder. Ich fühlte mich großartig, so muss Fußball sein, dachte ich. Mit müden Beinen, aber glücklich radelte ich nach Hause.
Ich hatte meinen Schlüssel vergessen und klingelte. Pauline öffnete die Tür und sah den konsequent verteilten Dreck, der an fast allen Stellen meines Körpers klebte. Sie zog die Stirn in Falten und sagte: „Ach, du Scheiße.“
Sie schaute mich dabei missbilligend, aber doch mit einer gewissen Zuneigung an, so als sei ich eine Hose, die ihr eigentlich ganz gut gefällt, die aber einfach nicht richtig sitzt. Dann forderte sie: „Schuhe, Strümpfe, alles aus!“
Für eine Sekunde fühlte ich mich wie ein fünfjähriger Junge, aber ich fühlte mich auch viel zu gut, um Widerworte zu riskieren. Ich begann also, ihre Forderungen Stück für Stück zu erfüllen, und fragte nur noch einmal nach: „Alles aus?“
„Komm schon rein“, sagte sie.
Ich tapste ins Badezimmer und ließ mir eine Wanne mit warmem Wasser ein. Wenige Minuten später gesellte sich Pauline zu mir. „Wie war’s?“, fragte sie.
Hoppla, dachte ich. Diese Frage galt doch nicht nur mir, sondern auch ganz allgemein meinem Freund Fußball. Ich lächelte zufrieden und sagte: „Gut.“
„Tore geschossen?“, hakte sie nach.
„Ja“, seufzte ich.
„Wie viele?“
„Drei“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Hm“, sagte sie und klang ein bisschen ratlos dabei.
Noch konnte und wollte sie die Zahl drei in diesem Zusammenhang nicht einschätzen, aber das sollte sich im Lauf der Zeit ändern. Sonst änderte sich nichts, denn wir hatten eins von den Ritualen erobert, die man nur zu zweit verstehen und lieben lernen kann.
Ich klingelte nun jeden Sonntagnachmittag – auch wenn ich den Schlüssel dabei hatte. Und auch wenn ich von Schmutz und Dreck verschont geblieben war, sagte Pauline jedes Mal: „Schuhe, Strümpfe, alles aus!“ Und dann konnte ich es manchmal kaum erwarten, bis sie mir im Badezimmer die entscheidende Frage stellte: „Wie viele Tore?“
Wenn ich nun kein Tor geschossen hatte, fragte Pauline ungläubig: „Was? Was war denn los?“
Ich zuckte dann nur hilflos mit den Schultern, und sie sagte: „Na, da musst du dich aber beim nächsten Mal mehr anstrengen.“ Ich nickte, fühlte mich wie ein fünfjähriger Junge und furchtbar gut dabei.
Belief sich meine Ausbeute auf einen bis drei Treffer, reagierte Pauline so wie bei unserem „ersten Mal“. „Hm“, brummte sie, allerdings klang sie nicht mehr ratlos, sondern eher resigniert. So, als sei sie enttäuscht darüber, wie durchschnittlich das Leben manchmal sein kann.
Natürlich versuchte ich ihr zu erklären, dass die Anzahl meiner Tore auch in einem Zusammenhang mit der Anzahl der beteiligten Spieler stand. „Bei einem Spiel acht gegen acht sind vier Tore ganz schön viel, bei drei gegen drei eher wenig“, erläuterte ich.
Aber sie schaute mich nur an, als wollte ich eine Begründung dafür finden, dass man einen Artikel über ein Fußballspiel lesen muss, obwohl man es bereits im Fernsehen gesehen hat. Also verzichtete ich auf weitere Versuche, sie von meiner Erklärung zu überzeugen, und an den seltenen Tagen, an denen ich vier oder mehr Tore erzielt hatte, ließ ich mich feiern:
„Wie viele Tore?“, fragte Pauline.
„Fünf“, sagte ich.
„Uii“, staunte Pauline. Dann strich sie mir durchs Haar und gab mir einen Kuss.
Über Jahre hinweg pflegten wir diese Zeremonie, ohne dass wir jemals ihren Ablauf besprachen oder gar in Frage stellten.
Dann traute ich eines Tages meinen Augen nicht. Während ich mit den Jungs den Ball laufen ließ, tauchte Pauline mit ihrem Fahrrad auf unserer Wiese auf. Ich lief schnell zu ihr, ein bisschen ängstlich, weil ich fürchtete, es sei irgendetwas passiert. Doch Pauline sagte nur: „Ich wollte mal zugucken.“ Ich schaute sie verwundert an und erwiderte mit leichter Skepsis: „Ist gut.“
Zurück auf dem Spielfeld überhörte ich die unvermeidlichen Sticheleien meiner Freunde, und ganz nebenbei überkam mich ein Gefühl, als wären rund um unser Spielfeld urplötzlich mindestens 20.000 Zuschauer zu Gast.
Als ich danach mit Pauline nach Hause ging, befand ich mich zwar an ihrer Seite, aber irgendwie auch zwischen den Stühlen. Einerseits überkam mich eine kleine Trauer, weil unser Ritual zumindest an diesem Sonntag nicht mehr das sein konnte, was es sonst immer war. Zugleich spürte ich aber auch eine unbestimmte Hoffnung, dass der Fußball, Pauline und ich nun vielleicht eine ganz andere, neue Stufe der Zusammengehörigkeit erklimmen könnten.
Während ich mir über diese Dinge Gedanken machte, sagte Pauline auf einmal: „Du scheinst ja wirklich ganz gut im Fußball zu sein.“
„Früher war ich besser“, verkündete ich in aller Bescheidenheit.
Pauline nickte nur, und die Anzahl meiner Tore blieb an diesem Tag ein gut gehütetes Geheimnis von mir.
Pauline hatte keine Geheimnisse, und als wir uns abends am Küchentisch gegenübersaßen, veränderte sie mein Leben – in Sekundenschnelle und mit einem einzigen Satz.
„Ich glaube, wir müssen uns trennen. Ich habe mich in einen anderen verliebt“, sagte sie.
Ich starrte trostlos nach draußen, und wie an jenem Montagmorgen mit dem Kölner Stadt-Anzeiger vor mir fielen mir wieder keine Argumente gegen ihre ganz spezielle Logik ein. Doch diesmal wusste ich, dass kein ungünstiger Zeitpunkt, sondern die pure Hilflosigkeit der Grund für mein Schweigen war.
Pauline zog zu ihrem neuen Freund nach Berlin und mir brach in den kommenden Wochen das Herz. Am Anfang telefonierten wir noch manchmal, doch schon bald hatten wir einen Zustand völliger Funkstille erreicht.
Zwei Jahre nach unserer Trennung trudelte dann eine Mail von Pauline in meinem Postfach ein. Sie erzählte, dass sie wieder alleine lebe und dass sie sich freuen würde, wieder einmal etwas von mir zu hören, und wenn es nur die Anzahl der Tore sei, die ich beim letzten Fußballspiel geschossen hatte.
Aber ich und meine Jungs, wir spielten gar nicht mehr sonntags, und außerdem lebte ich mittlerweile in einer Wohnung, in der es keine Badewanne gab.