Читать книгу Nach vorne! - Stefan Reusch - Страница 8

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Die trügerische Leichtigkeit des viel zu langen Sommers ist vorbei. Dichte Wolkenbänder formieren sich über dem Kemnader See und verleihen diesem Oktobertag eine tröstliche Durchschnittlichkeit.

Auf einer kleinen Mauer sitzend beobachte ich, wie sich graue Wolken vor noch grauere schieben. In meinem Blickfeld liegt die Universität wie eine kläglich havarierte Raumstation aus einem Low-Budget-Science-Fiction-Film. So also hatte sich ein Architekt in den Sechzigern die Zukunft vorgestellt. Junge Menschen bevölkern den gigantischen Komplex, laufen scheinbar ziellos durcheinander, auf zahllosen Wegen irgendwohin. Ins Seminar, zur Mensa, in den Fachschaftsraum und zum Asta-Büro. Junge Mädchen auf der Suche nach kaum weniger jungen Dozenten, die Zettel mit kryptischen Formeln wie GB 5/ U3/ 144 in den Händen halten. Wer sein Campus-Bild entromantisieren wollte, musste nur nach Bochum kommen.

Seit gestern bin ich Schwede. Um genauer zu sein, bin ich es bereits seit dem späten Abend des 10. Juli, doch gestern habe ich es zum ersten Mal laut ausgesprochen.

In diesen Tagen hinterließ die bloße Erwähnung, man studiere in Bochum, ein großes Fragezeichen auf der Stirn des Empfängers. Die Reaktion umfasste in der Regel zwei Worte und mitleidiges Grinsen. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit der Begriffspaare „Mount Everest – höchster Berg der Welt“ oder „Pelé – bester Fußballer aller Zeiten“ stand der Superlativ „Uni Bochum – höchste Selbstmordrate“ wie in farblosen Waschbeton gemeißelt. Ästhetik und Ambiente – hin oder her. Aber aus trister Umgebung auf das eigene triste Leben zu schließen – das war nicht meine Sache. Und überhaupt: Selbst, wer einen solch tragischen Schluss zieht, der müsste sich doch eigentlich für den Moment seines inszenierten Todes einen netteren Ort suchen. Nein. Selbstmord durch Sturz von GB 4 Strich 13. Das hatte definitiv keine Spur von Glamour. Sterben in Bochum kam also nicht in Frage – leben aber irgendwie auch nicht.

Fast täglich pendelte ich 70 Kilometer entlang der A 40. Zu Hause hatte ich ein funktionierendes Kleinstadt-Umfeld. Ein zentrales Café, eine gute Verkehrsanbindung zum Bökelberg und drei Ex-Freundinnen. Zwar hatte ich mir ein paar WG-Zimmer in Bochum angesehen, zu einem Umzug konnte ich mich aber nie wirklich durchringen. Wurde es in Bochum später, und das wurde es des Öfteren, dann konnte ich in der Regel bei Gianfranco oder Björn übernachten. Am liebsten hätte ich natürlich bei Saskia übernachtet. Aber das stand auf einem anderen Blatt.


Anderes Blatt.

Das Wichtigste ist, dass man weiß, wann es Zeit ist, aufzuhören.

Es war keine Eleganz in seinen Bewegungen, er verfügte über kein atemberaubendes Spielverständnis, seine Pässe atmeten nicht, und wenn doch, dann keinen Geist von irgendwas. Wenn er mal welche schlug, dann waren sie schlicht und kurzatmig. Er wurde wegen einer einfachen, aber konsequent vorgetragenen Tugend verehrt: Wann immer ihn ein Stürmer schwindelig zu spielen drohte, immer dann, wenn seine Arme und Beine durch den eigenen Strafraum flatterten, wie heutzutage ein Querschläger Jeff Strassers, dann konnte man sich einer Tatsache sicher sein: Vogts’ Zähne blieben fest verankert im Schienbein des Gegners. Vielleicht würde man ihn noch heute als Terrier verehren, hätte er den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören nicht verpasst.


Als ich den Seminarraum im UG des GB 5 betrete, sitzt Saskia schon da. Außer ihrem sind erst vier weitere Stühle besetzt. „Selbstreferentialität im jungen amerikanischen Kino“ ist entweder nicht das Topthema oder hier entlarven sich einige Erstsemester durch Unkenntnis des akademischen Viertels. Zwei Gothic-Frauen haben sich im leeren Raum die letzte Sitzreihe gesichert und drehen Kippen für später. Ein koreanischer Student mit opulenter Frisur sitzt breitbeinig Mitte/Mitte und vorn, in Saskias Nähe, beschäftigt sich ein hagerer Typ mit einem Truffaut-Buch, das er umständlich in seiner zu kleinen Aktentasche verstauen will. Er trägt eine graue Jeans und ein verwaschen-schwarzes Jackett aus irgendeiner Polyestermischung. Inszenierte Pseudo-Coolness, denke ich. Er sieht aus, als sei er beim Versuch, in eine Art Leander-Haußmann-Hülle hineinzuwachsen, ungefähr auf dem Stand von Fabian Harloff stehen geblieben. Ausgerechnet er aber durchbricht die peinliche Stille und spricht mich an. An dieser Stelle wünsche ich mir, zu den Leuten zu gehören, die bunte Band-T-Shirts tragen, denn das hätte Harloff die Chance gegeben, so etwas wie „Oh, Pavement“ oder wenigstens „Tocotronic? – interessant“ zu sagen. Stattdessen trage ich einen schwarzen Rolli, Harloff dreht sich zu mir, grinst und fragt: „Na, auch Dekonstruktivist?“ Hier rächt es sich also, dass Kleinstadt-Gymnasien nun mal keine Dekonstruktivismus-LKs anbieten. Klar, ich hatte den Namen Derrida schon mal gehört, aber ob ich einer war oder nicht, das konnte ich beim besten Willen nicht beantworten. Also stammelte ich halblaut: „Ich, ich bin Schwede!“

Harloff sieht mich verwundert an, und nach etwa drei Sekunden lacht der Koreaner laut und verächtlich auf. Ein viel zu exaltiertes, kaltes, fast krankes Lachen. Bis heute bin ich mir nicht im Klaren darüber, ob er mich oder Harloff auslacht. Ich klammere mich an die vage Chance, unbewusst einen mehrfach gebrochen Gag auf Harloffs Kosten gemacht zu haben, aber sicher bin ich mir nicht. Verschämt blicke ich zu Saskia, erkenne aber nicht mehr als ein verhaltenes Lächeln hinter ihrem diagonalen Pony, der sie noch jünger aussehen lässt, als sie sein muss. Die Gothic-Girls drehen weitere Zigaretten…


Dallas, Cotton Bowl, 27. Juni 1994

Es ist scheißheiß. Eigentlich war das Ding schon gelaufen nach drei Toren in der ersten Halbzeit. Doch dann kommen die Koreaner noch einmal zurück und verkürzen auf 2:3. Der Terrier muss absichern und bringt Helmer für Effenberg. Der verlässt den Platz. Im Publikum sitzen deutsche Fans. Oder deutsche Touristen, Deutsche jedenfalls, soviel ist sicher. Sie haben Geld bezahlt und pöbeln Effenberg an. Der lässt sich nur ungern anpöbeln, pöbelt aber nicht zurück. Effenberg hat eine Message und die lautet ungefähr: Ihr glaubt also, ihr könntet lustig aus Südhessen nach Texas fliegen, einen klimatisierten Spießer-Jeep mieten, euch mit durchgeschwitzten karierten Hemden auf die Tribüne setzen, die Welle machen und euch wie Superchefs fühlen? Das könnt ihr vergessen, verpisst euch, Freunde der Sonne!

Das Geniale an diesem Moment war, dass Effenberg keine Worte gebrauchte, sondern nicht mehr als eine kleine, dezente Geste, um all diese Gefühle präzise auf den Punkt zu bringen.


Das Wichtigste ist, dass man weiß, wann es Zeit ist, aufzuhören:

„Und du bist echt Schwede?“, fragt Saskia.

„Nein, das war nur ein blöder Spruch, weil der Typ mich mit Dekonstruktivismus genervt hat“, denke ich und sage: „Ja, Kiruna, ganz im Norden, aber ich lebe in Deutschland, seit ich 15 bin.“

„Und wie war es da so?“, fragt sie.

„Schön“, sage ich, „und … manchmal kalt.“

Natürlich war das ein Fehler, aber man weiß ja nie. Vielleicht war Saskia irgendwie sverigophil, wenn es so etwas gibt. Vielleicht wäre das zart aufkeimende Interesse an mir sofort erloschen, hätte ich ihr die Wahrheit gesagt. Und das konnte ich natürlich nicht riskieren.

Wir saßen nun öfter gemeinsam in der Cafete. Manchmal waren wir, wie zufällig, beide schon ein halbes Stündchen früher da als notwendig. Wir sprachen über Schweden, über Filme und über zu große Mengen hässlicher Teppiche in Multiplexkinos. Sie lachte viel und manchmal sah sie mich einfach ein paar Sekunden lang an.


Der Terrier unterstrich seine hölzernen Sätze, indem er sie selbst kommentierte. Meistens positiv. An jeden Satz hängte er ein „Ja“ an. Es war, als liefe eine Reflexionsmaschine noch einmal über alles, was er von sich gab, und bestätige die Richtigkeit des Gesagten. „Ich habe das mit Egidius Braun besprochen, ja. Wir sind da einer Meinung. Stefan Effenberg fliegt nach Hause, ja.“


Als Saskia und ich den Seminarraum betreten, performt der Koreaner bereits auf Hochtouren. Wie Gianfranco uns nachher berichtet, hatte er im Rahmen einer Diskussion über Gender im Mainstreamkino beherzt das Wort ergriffen. Nun präsentiert er dem verdutzten Auditorium eine erstaunliche Theorie über die systematische Desexualisierung asiatischer Männer in westlichen Medien. Seinen Argumenten kann man dabei kaum widersprechen. „Nennt mir drei Filme, in denen Asiaten mit Amerikanerinnen, Europäerinnen oder wenigsten mit Schwarzen schlafen.“ Die Form seines Vortrags gibt Anlass zu leichter Besorgnis. „Ihr wollt uns zu Eunuchen machen, weil ihr Angst habt vor unserer wirtschaftlichen Übermacht.“ Zwischendurch lachte er ähnlich krank wie damals. Sein etwas zu großer Kopf lief dabei rot an und mehrmals schrie er: „Ihr seid noch immer alle Nazis.“ Sein Auftritt brachte ihm den politisch und geographisch nicht ganz korrekten Spitznamen „Mystery Train“ ein. Immerhin ein halbguter Cineasten-Gag.


Natürlich hatte Vogts nicht nur den Tiger, sondern das ganze Team, vielleicht sogar das ganze Land kastriert. Und das gleich auf viele Jahre hin. Es musste nicht mal ein Romario oder Baggio herhalten, um die deutsche Mannschaft nur wenige Maschinen nach Effenberg in die Heimat zu schicken. Yordan Letchkov reichte da völlig aus. Ausgerechnet ein Mann mit der Ausstrahlung des traurigen Clowns aus einem osteuropäischen Wanderzirkus.


„Komm, ich zeige dir meine Stadt“, sagte ich zu Saskia. Das Ganze klang ein bisschen seltsam vor dem Hintergrund, dass ich nicht mal hier wohnte und erst seit knapp zwei Wochen ein paar Stunden des Tages in Bochum verbrachte. Aber es störte sie nicht.

Ganze freie Nachmittage verbrachte ich nun mit Saskia. Wir liefen lange nebeneinander durch Bochum und ließen die Kortumstraße unsere Champs-Elysées sein. Irgendwann nahm sie fast beiläufig meine Hand und bat mich, etwas Nettes auf Schwedisch zu sagen. Ich druckste ein bisschen herum und behauptete, dass ich mir am Tage des Attentats auf Olof Palme geschworen hatte, nie wieder ein Wort in meiner Muttersprache zu sagen. Stattdessen zeigte ich ihr viele Stellen in der Stadt, an denen die schwedischen Einwanderer in den Zwanzigern ihre Spuren hinterlassen hatten. Die skandinavischen Erker an vielen Gründerzeit-Häusern, das Zacher, das früher mal Café Malmö hieß, und ich erzählte von Göran Kortum, dessen Familie für Schweden das sei, was die Fugger für Deutschland sind. Schließlich krönte ich meinen Monolog mit der Behauptung, selbst die Bochumer U-Bahn sei nach dem schwedischen Entdecker Per Sören Bogestra benannt. Dieser letzte Satz brach mir das Genick.

Das Wichtigste ist, dass man weiß, wann es Zeit ist, aufzuhören. Saskia stieg in einen Wagen der Bochum-Gelsenkirchener-Straßenbahngesellschaft und fuhr wortlos davon.


10. Juli 1994, 23.00 Uhr MEZ.

Noch immer mehr als 30 Grad Celsius. Die Waden in einem Eimer kalten Wassers gekühlt, verfolge ich das Viertelfinale zwischen Schweden und Rumänien, nicht ahnend, dass sich mein Leben in wenigen Minuten ernsthaft ändern wird. Es wird einer der wenigen Momente sein, in dem sich hinter der Fassade Fußball für den Bruchteil einer Sekunde etwas verdichtet. Etwas, das eine Art fundamentale Welterkenntnis ermöglicht. Nach einem Foul an der rumänischen Strafraumgrenze tritt Kenneth Andersson an, einen Freistoß aus circa 18 Metern zu schießen. Als sei im letzten Moment vor der Ballberührung die geplante Flugkurvenoption (lange Ecke, oben) unmöglich geworden, schiebt Andersson den Ball mit scheinbarer Nebensächlichkeit derart platziert sechs bis acht Meter in den freien Raum, dass es für den heraneilenden Tomas Brolin ein Leichtes ist, den konsternierten rumänischen Keeper Florin Prunea zu überwinden. Die Großartigkeit dieser Szene dürften einige Fußballästheten durchaus erkannt haben. An Millionen Fernsehzuschauern ist das Besondere allerdings spurlos vorbeigezogen.


Seit mehreren Tagen warte ich ab 12.30 Uhr in der Cafete auf Saskia, aber sie taucht nicht auf. Björn holt sich einen Kaffee, Gianfranco sitzt neben mir. Wir sprechen über Borussias goldenen Oktober, der noch nicht ganz vorbei ist. Seit 1977 haben wir auf vier Siege in Serie warten müssen. Stefan Effenberg und drei Schweden sind die Leistungsträger. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie sich „Mystery Train“ eine Cola holt. Statt sie an der Kasse zu bezahlen, hält er sie der Kassiererin unter die Nase und lässt sie dann ganz langsam und provozierend fallen. Dann wird es laut. „Mystery Train“ schreit die Kassiererin an: „Das könnte dir jetzt so passen, dass der kleine Schlitzaugenmann hier putzt. Was?“ Ich versuche Gianfranco zurückzuhalten, doch dazu ist es zu spät. „Drehst du jetzt total ab, Train? Was soll die Scheiße?“ „Mystery Train“ dreht sich um und kommt langsam auf Gianfranco zu. Seine Augen leuchten. Mit fester Stimme sagt er: „Ich freue mich auf den Tag, an dem meine Brüder deinem pathetischen Volk die Grenzen aufzeigen werden.“


Wenn während einer Fußballübertragung die Klingel läutet, solltest du die Türe öffnen, denn es könnte ein Mädchen sein.

Ich zähle bis drei und öffne, sie steht vor mir und lächelt. Neben ihr eine große Sporttasche. Sie hält mir einen schwedischen Reisepass unter die Nase. Ihren Reisepass. „Komm, ich zeige dir mein Land“, flüstert sie.

Nach vorne!

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