Читать книгу Einführung in die Dramen-Analyse - Stefan Scherer - Страница 12
II. Forschungsbericht
ОглавлениеForschungen zum Drama gibt es seit dem 4. Jahrhundert v. Chr., v.a. in Form von textkritisch kommentierenden Auseinandersetzungen: Abschriften, fortlaufende philologische Bearbeitungen und Neueditionen dramatischer Texte garantieren die Überlieferung der griechischen und lateinischen Komödien und Tragödien (Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes – Plautus, Terenz, Seneca). Erst aber in der italienischen Renaissance werden diese Dramatiker wiederentdeckt. Im Prozess dieser Bearbeitungsgeschichte richtet man die Dramen in der heute gewohnten typographischen Gestaltung mit Sprecherbezeichnungen und Hinweisen zur Darstellung auf der Bühne ein. In griechischen und lateinischen Dramen sind Haupt- und Nebentext dagegen kaum voneinander geschieden. Nebentexte bestehen meist nur aus Personenzuordnungen, Bühnenanweisungen liegen nicht vor.
Poetiken von der Antike bis zum Ende der Goethezeit
Für die terminologische Sicherung der neueren Forschung spielt die Übersetzung und Kommentierung der Poetik von Aristoteles seit dem 16. Jahrhundert die maßgebende Rolle. Aristoteles begründet die zentralen Kategorien in der Auseinandersetzung mit der Gattung: Redekriterium, Unterscheidung Tragödie/Komödie, Nachahmung und Ganzheit der Handlung, Organisationsprinzipien (Geschlossenheit), Bauformen und Wirkung. In der römischen Antike ist Horaz die prominenteste Stimme. Dessen Ars Poetica würdigt das Drama aber nur mit wenigen Versen und erfasst es im Vergleich mit Aristoteles weitaus weniger kategorial. In der Renaissance gehören Scaliger und im deutschsprachigen Bereich Martin Opitz zu den bedeutenden Stationen der Auseinandersetzung. Die Rezeption der aristotelischen Poetik verbindet sich in diesem Prozess mit frühneuzeitlichen Überschreibungen und Akzentverschiebungen, bis der französische Klassizismus Normen festschreibt. Hier stabilisiert sich die Lehre von den drei Einheiten im Abgleich mit der Wahrscheinlichkeit (vraisemblance) und Schicklichkeit (bienséance) der Darstellung zu einem System formaler Regeln. Die deutschsprachige Diskussion knüpft durch Gottsched und Lessing daran an, bis die an Aristoteles (und seit der Genieästhetik zunehmend an Shakespeare) orientierte Auseinandersetzung um 1800 zu einem gewissen Abschluss vor dem Einsatz der disziplinär begründeten Forschung kommt.
Literaturwissenschaftliche Forschung
Wissenschaftliche Zugänge, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den philologischen Disziplinen etablieren, entwickeln ihre Methoden, indem sie an die systematische Unterscheidung der literarischen Gattungen um 1800 anknüpfen. Noch im frühen 20. Jahrhundert orientiert sich die Erforschung des Dramas an den normativen Poetiken bis Ende des 18. Jahrhunderts. Erst mit der semiotisch und ritualtheoretisch begründeten Theaterwissenschaft (vor dem Hintergrund der primär auf Theatralität abzielenden Dramatik in der Moderne) verschiebt sich die Aufmerksamkeit weg vom dramatischen Text hin auf Aspekte der szenischen Realisierung. In wachsendem Maße fließen bei dieser Würdigung außerliterarischer Aspekte europäische und außereuropäische Theatertraditionen ein.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Drama orientiert sich zunächst – ganz aristotelisch gedacht – am Begriff der Handlung, zunehmend dann auch an der Frage nach der Rolle des Charakters im antagonistischen Widerstreit der Kräfte (Werling 1989; Krieger 2004, 74f.). Dieser Auffassung zufolge entsteht die dramatische Form aus einer durch Konflikt und Spannung erzeugten szenischen Konstellation. Diese primär inhaltliche Bestimmung prägt die Positionen in Hegels und Vischers ‚Ästhetiken‘ bis hin zu Freytags Technik des Dramas (1863), der die Fünfaktigkeit aus dem Konfliktmodell, den „Bau des Dramas“ aus „Spiel und Gegenspiel“ erklärt (Freytag 1992, 93ff.). In dieser berühmtesten der zahllosen wissenschaftlichen Dramentheorien aus dem 19. Jahrhundert werden elementare Regeln des Dramenaufbaus aus der empirischen Analyse gewonnen. Die wissenschaftliche Beschreibung von Fakten beansprucht überzeitliche Gültigkeit, obwohl sie ihre Befunde zur Geschlossenheit und Strenge deutlich an klassizistischen Auffassungen orientiert. Die dramatische Praxis seit Lenz kommt damit ebenso wenig in den Blick wie etwa Büchners Absage an die idealistische Dramatik der ‚Kunstperiode‘.
Die bei Freytag erkennbare Orientierung besteht noch in Robert Petschs systematischer Darstellung Wesen und Formen des Dramas. Allgemeine Dramaturgie (1945) und in Wolfgangs Kaysers Das sprachliche Kunstwerk (1948) fort, ein Buch, das die Diskussion nach 1945 prägte. Im Kern trägt sie sogar noch Peter Szondis Theorie des modernen Dramas (1956), weil auch hier der Dialog aus dem ‚zwischenmenschlichen Bezug‘ abgeleitet wird (Szondi 1963, 14). Andererseits gehört Szondis Dissertation zu den einflussreichsten Arbeiten über die ‚Krise‘ des Dramas in der Moderne: zum einen, weil sich die allgemeine Dramentheorie an ihrer kategorialen Grundlegung des absoluten Dramas abgearbeitet hat; zum anderen, weil sie die gesellschaftlichen und medialen Umbrüche seit Ende des 19. Jahrhunderts an Veränderungen der dramatischen Form selbst plausibel macht. Bereits Szondi verbindet die Frage nach der Historizität der Gattung mit strukturanalytischen und sozialgeschichtlichen Überlegungen. Er bereitet damit neue Paradigmen in der Literaturwissenschaft der 1960er Jahre vor (Scherer 2000).
Die neu akzentuierte wirkungsästhetische Begründung durch Brecht und die literarhistorische Erschließung nicht-aristotelischer Dramenformen nach dem Vorbild Shakespeares von Lenz über Büchner und Grabbe bis zum Naturalismus ergänzen das bis dahin zugrundegelegte Modell der „in sich geschlossenen Handlung“ (Aristoteles 1982, Kap. 6, 19). Volker Klotz’ Buch Geschlossene und offene Form im Drama (1960) leitet daraus zwei gegenläufige Strukturprinzipien ab, die sich als Idealtypen historisch entfalten. In diesem Rahmen interessiert dann auch die Frage nach der dramatischen Spannung in der szenischen Organisation von Zeit (Pütz 1970).
Tendenzen seit den 1980er Jahren
Die neuere Forschung bemüht sich um eine Formalisierung des Handlungsbegriffs, insoweit die Handlung im Drama intentional begründet sei (Pikulik 1982). Zunehmend spielen semiotische Kategorien (Pfister 1988, 1. Aufl. 1977; Andreotti 1996) und soziologische Handlungstheorien u.a. in Bezug auf Parsons und Goffman eine Rolle (Schwanitz 1977). Damit verschiebt sich die Aufmerksamkeit vom ‚literarischen Textsubstrat‘ (Pfister 1988, 34–41) auf die ‚Performance‘ (Krieger 2004, 76–84). Zugleich untersucht man nun verstärkt den Dialog bzw. die Figurenrede, um Formprinzipien des dramatischen Texts im Blick auf seine Mitteilungsqualitäten über die psychische Verfasstheit von Figuren in einer Szene zu ermitteln (Schmid 1976, Zimmer 1982, Greiner 1982, Hasler 1982). Hübler (1973) beschreibt das Drama mit Bezug auf Szondi als Vermittlung von Form (Sprache), Inhalt (Handlung) und pragmatischen Aspekten der Aufführung (Szene). Kiel (1992) sieht es im Zusammenhang durch Dialog und Handlung begründet.
Aber auch in diesen Arbeiten ist noch die Folie der strukturalistischen Analyse bemerkbar (Schmid 1973). Erst in den semiotisch und ritualtheoretisch orientierten Theaterwissenschaften seit den 1980er Jahren, die auf Methoden der allgemeinen Semiotik bauen, verschiebt sich die Aufmerksamkeit weg vom dramatischen Text hin zur szenischen Realisierung (Fischer-Lichte 1983; dazu Krieger 2004, 72). Erst jetzt setzt sich die Abkehr vom bloßen Sprachkunstwerk hin zum Verhältnis von dramatischem Dialog und Alltagsdialog (Roumois-Hasler 1982) und zum ritualtheoretisch begründeten sozialen Drama (Turner 1989) durch. In diesem Rahmen entstehen Untersuchungen über die szenische Realisierung von Textvorlagen durch nichtsprachliche Zeichensysteme (Esslin 1989). In der Verbindung von Kommunikations- und Textforschung werden drameninterne Strukturen präzisiert, d.h. Aspekte der Informationsvergabe, der Kommunikation und Interaktion, indem soziologische und psychologische Erkenntnisse neue Bezugspunkte bilden. Das Rollenspiel des Menschen im Alltag dient hier als Vorgabe, um das Rollenspiel auf der Bühne nach Mustern alltäglichen Handelns zu begreifen. Das Drama ist vor diesem Horizont ein beispielhaftes, künstlerisch gestaltetes und ästhetisch produziertes Modell menschlichen Verhaltens, das im Theater genauso funktioniert wie im alltäglichen Leben. Zunehmend kommen dabei Perspektiven der Gendertheorie, etwa im Spiel mit Geschlechterrollen durch den Einsatz geschlechtsspezifischer Körperzeichen, in den Blick.
Diese Verlagerung reagiert auf Tendenzen der Theatralisierung in der dramatischen Praxis der Moderne, insofern sich seit Brecht und dem Absurden Theater die Aufmerksamkeit auf nichtsprachliche Darstellungsformen verstärkt. Die Entliterarisierung des Dramas setzt sich seit den 1980er Jahren in den Befunden zum ‚postdramatischen‘ Theater fort (Poschmann 1997, Lehmann 1999; resümierend Birkenhauer 2007). Lehmann unterscheidet das traditionelle Drama, das sich nach Aristoteles durch den Primat der Handlung auszeichnet, von prädramatischen und postdramatischen Formen, um so nicht zuletzt auch die Unabhängigkeit aktueller Theorieansätze von den bisher wirksamen Traditionsvorgaben zu demonstrieren. Neben den semiotischen Orientierungen begründet Lehmann eine Dramentheorie, in der die Rolle und Relevanz des Theaters im Rahmen konkurrierender Medien herausgehoben wird. Bereits zuvor hat Pfister erstmals systematisch das Drama als plurimediale Darstellungsform beschrieben. In jüngster Zeit häufen sich aber wieder die Befunde, die eine Rückkehr zum Handwerklichen und zum konventionell Dramatischen in der Abweisung des postdramatischen Theaters feststellen, weil man darin zunehmend Beliebigkeit und Dilettantismus identifiziert (Brincken/Englhart 2008, 104–106). Auch die Abwendung vom dramatischen Text wird mittlerweile wieder relativiert (Korthals 2003).
Systematische Forschung
Im Bereich der systematischen Forschung gibt es Untersuchungen und Anthologien zum Wechselverhältnis zwischen Drama und Theater (Platz-Waury 1978, Turk 1992, Balme 2008, Brincken/Englhart 2008), daneben zur Dramentheorie bzw. ‚Poetik des Dramas‘ (Grimm 1971, Keller 1976, Profitlich 1998/1999) und zur Rolle der Nebentexte (Detken 2009). In jüngster Zeit verstärken sich im Zeichen der Wiederkehr begrifflicher Arbeit in der analytischen Literaturwissenschaft Reflexionen über die literarischen Gattungen und deren Organisationslogik, etwa in der gattungstheoretischen Untersuchung von Ähnlichkeiten ‚zwischen Drama und Erzählung‘: „Das Drama ist eine Form der gegenwartsillusionistischen Geschehensdarstellung, die maßgeblich aus geschehenskonstituierender Rede von Geschehensteilnehmern und teichoskopischer Rede eines Geschehensvermittlers besteht, sich allerdings auch erzählender oder erzähl-analoger Mittel zu bedienen vermag“ (Korthals 2003, 470). Neuere Fragestellungen zur informationslenkenden Rolle und Logik der ästhetischen Figur in narrativen Texten (Jannidis 2004) und im Film (Eder 2008) sind von der Dramenforschung im Unterschied zur Applikation der narratologischen Kategorie des Sujets (Andronikashvili 2009) noch nicht aufgegriffen worden.
Vollständig wäre die Forschung zum Drama erst aufgeführt, wenn auch die internationale Forschung aus verschiedenen Disziplinen – von der klassischen Philologie über die Anglistik, Romanistik bis hin etwa zur Slawistik – beachtet würde. Die ausführlichste Bibliographie der älteren Forschung zum Drama in internationaler Perspektive liefert Pfister (1988, 426–449), auf einem neueren Stand Korthals (2003, 476–491) und Detken (2009, 402–434).
Grundbegriffe der Interpretation von Dramen
Pütz (1980) unterscheidet zwei Weisen der Interpretation von Dramen: die Theateraufführung selbst und die theorie- und methodengeleitete Explikation der Texte. Übersetzt diese die Fiktion des dramatischen Texts in einen Diskurs, repräsentiert jene die Fiktion in konkreter Anschauung. Die Aufführung wird dabei auch zur Korrektur des Textes, sei es als Erweiterung oder gar Ersetzung.
Trotz des historischen Formenwandels zeigt das Drama im Vergleich zu den anderen Gattungen Lyrik und Epik eine relative Festigkeit. Geschuldet ist diese „bestürzend starre Systematizität des Theaters“ (Pütz 1980, 12) der Abhängigkeit des Dramas von den Bedingungen seiner Aufführbarkeit. Diese Vorgabe prägt die Gattung bis in die innerste Struktur hinein. Letztlich bleiben die drei Einheiten auch in der Moderne aus dem Zwang zur Konzentration heraus bestehen, soweit man die Aufnahmekapazität des Publikums würdigt. In lyrischen und epischen Texten spielt dieser Aspekt keine Rolle, denn hier kann die stille Lektüre jederzeit unterbrochen werden. Für das Drama hingegen diktiert das Theater „Ort und Stunde seiner Aktualisierung“ (ebd., 12), damit eben auch die Einheit von Raum und Zeit. Diese Vorgabe wirkt als Systemzwang auf den dramatischen Text zurück. Umgekehrt prägt auch die Intention auf den Zuschauer dessen Struktur: Dunkle Stellen sind für das akute Verständnis zugunsten von Transparenz, Rationalität, tektonischer und sprachlicher Kalkulation und Konzentration genauso zu vermeiden wie ausufernde Umfänge. Auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung äußert sich dieser Systemzwang in der Pointierung, daneben in der auch metrisch organisierten Bildung von Sentenzen: Mit Ausnahme von Stücken des Naturalismus und der Neuen Sachlichkeit spricht kaum eine Figur im Drama so wie im richtigen Leben. Sentenzen aus Dramen gehen deshalb als Geflügelte Worte gern in Büchmanns Citatenschatz des deutschen Volkes ein (1864, 43. Aufl. 2007).
Vor dem Hintergrund dieser Befunde unterscheidet Pütz vier Zugangsweisen der Interpretation von Dramen: (1) Die strukturanalytischen Begriffe leiten sich von Aristoteles her: Die Geschlossenheit der Handlung verweist auf die Konzentration und auf Bauprinzipien (als Wie der Darstellung und als Aktion der Figuren). Dramaturgische Grundbegriffe sind in diesem Zusammenhang Figur, Raum, Handlung und Zeit. Je nach Beobachterperspektive lassen sich daraus unterschiedliche Typologien ableiten. (2) Zu den anthropologischen Begriffen gehört die menschliche Qualifizierung der Figuren, ihre Beschaffenheit als Typus oder Charakter (gut, schlecht, ‚mittlerer‘ Charakter), ihr soziales Ansehen und ihr Pathos als stellvertretendes Leid oder ihre Komik durch Typisierung eines Fehlers; schließlich gehört dazu die Frage, in welcher Weise dramatische Figuren allgemeine Verhaltens- und Lebensweisen des Menschen repräsentieren. An diese Aspekte knüpfen Überlegungen zu Freiheit und Notwendigkeit, Schicksal, Schuld und Zufall an, die im Gegeneinander von subjektivem Ich und Welt, im Konflikt des Besonderen mit dem Allgemeinen auf szenische Weise ausgetragen werden. (3) Die wirkungsästhetischen Begriffe leiten sich von der aristotelischen Katharsis her. Sie werden von Lessing über Lenz bis Brecht und dessen Polemik gegen Aristoteles als Abkehr von der Was-Spannung zur Wie-Spannung diskutiert. (4) Schließlich untersucht die Dramenforschung mit historisch abgrenzenden Begriffen Spezifikationen im Gattungssystem wie etwa das Bürgerliche Trauerspiel, mit anderen Worten historische Neuerungen, die auf der normativen Folie einer klassizistischen Dramaturgie im Prozess der wachsenden Aufmerksamkeit gegenüber den Dramen Shakespeares im 18. Jahrhundert entstehen.