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I. Gattungsbegriff 1. Was ist ein Drama?

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Drama als ursprüngliche Kunst

Das Drama ist eine ursprüngliche, wenn nicht die ursprünglichste Kunst des Menschen überhaupt. Früh waren die Menschen ‚Theatermacher‘, um die Götter zu besänftigen, aber auch, um sich für die Jagd und die Schlacht zu wappnen. In gewisser Hinsicht ist auch das Familienleben eine Schule des Theaters, insofern im engeren Sozialverband Nachahmung, Beobachtung, Verhandlung und Rollenspiel nötig werden. Die leibhaftige Nähe anderer Menschen erzwingt hier soziale Reaktionen und ästhetische Einschätzungen, die zwischen Anteilnahme und Abgrenzung oszillieren. Gerade die reale Präsenz eines Menschen auf der Bühne macht das Theater so attraktiv. Aus diesem Sachverhalt erklärt sich ein elementarer Mechanismus der ästhetischen Erfahrung: Die leibhaftige Anteilnahme kann zur Veränderung menschlicher Dispositionen führen, denn das gewissermaßen körperliche Verstehen eines anderen Menschen schult die Fähigkeit, sich in dessen Lage zu versetzen.

Religionsersatz

Darüber hinaus hängt das Theater mit dem Glauben zusammen: Der religiöse Kult, die Wechselgesänge in der Liturgie der Kirche, die geistlichen Spiele zu den kirchlichen Festen im Mittelalter richten sich an den großen Zuschauer Gott im theatrum mundi. Die Geschichte des Dramas – sowohl im griechisch-antiken als auch im christlichen Bereich – ist auch eine Emanzipationsgeschichte gegenüber den Göttern, ein Ersatz für die metaphysische Obdachlosigkeit im Verdacht auf die Gottlosigkeit der Welt. Am Anfang war das Theater Gottesdienst, bei den Griechen das Fest für Dionysos, für den Sohn des Zeus, der als bocksfüßiger Gott für Rausch und Verwandlung stand, für Wein und Fruchtbarkeit. Für diesen Gott wurden seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. am Südhang der Akropolis die ersten Festspiele, die Großen Dionysien, veranstaltet.

Selbstvergewisserung, Probehandeln und Triebabfuhr in der polis

Das Drama dient in diesem Rahmen der Selbstdarstellung der polis, eines sozialen Raums also, in dem öffentliche Belange in ästhetischer Weise probeweise durchgespielt werden. Die Aufführung versetzte die Gemeinschaft der Zuschauer in einen rauschhaften Bann (griech. ékstasis) – auf eine durch die Kunst regulierte Weise, so dass der dionysische Rausch apollinisch gebannt blieb. Insofern dient das Theater der öffentlichen Kontrolle im Sinne eines gleichsam gebändigten Rauschs. Es kanalisiert den Triebhaushalt des Einzelnen in der Gemeinschaft. Daraus lässt sich zwanglos die Lehre von der Katharsis in der Poetik von Aristoteles ableiten. Das Theater ist demnach eine institutionalisierte gesellschaftliche Praxis, die der Reinigung der Affekte dient, aber auch der Reinigung von ihnen. Es kommt ihm daher die Aufgabe zu, das soziale Funktionieren der Gemeinschaft zu garantieren, indem sich der Mensch auf ästhetisch organisierte Weise seinen Körperregungen hingeben darf. So dient das Theater auch als Katalysator der problematischen Triebe im Menschen.

Die Dionysien wurden mit einer Prozession eröffnet. Daraufhin schlachtete man bis zu 300 Opfertiere, die gebraten und verzehrt wurden. Erst dann begann das Spiel auf der Bühne, die zuvor mit dem Blut der geopferten Jungtiere gereinigt wurde. Das Ensemble bestand aus dem Chor, verkleidet als Bocksherde, und professionellen Schauspielern, die dem Chor mit Masken gegenüberstanden. Der erste bekannte griechische Tragödienautor Thespis löste 534 v. Chr. einen Spieler aus dem Chor und ließ ihn als Einzelnen gegen das Kollektiv sprechen. So entstand der Dialog, die Wechselrede zwischen einzelner Person und Gruppe. Die nachfolgenden griechischen Tragiker im 5. Jahrhundert v. Chr. vermehrten daraufhin die Einzelspieler: Bei Aischylos kam der zweite, bei Sophokles schließlich der dritte Schauspieler hinzu. Jeder von ihnen konnte mehrere Rollen spielen. Aus dieser Entwicklung entstand die Regel, dass höchstens drei Personen an einem Dialog beteiligt sein sollten.

Grundform Wechselrede

Der Dialog, den Schauspieler auf der Bühne nachahmen, genauer gesagt betreiben, spielen und als Spiel darstellen, bildet das Kernelement des Dramas, das durch die griechischen Tragödienautoren als literarische Kunstform entstand. Das Drama wird jetzt zum literarischen Text, „der neben einer Lektüre die Inszenierung auf dem Theater ermöglicht“ (Ottmers 1997, 392). Es handelt sich demnach um eine Dichtung, die auf eine Theateraufführung hin ausgerichtet, genauer vorab für die Umsetzung in einem anderen Medium mit anderen Zeichensystemen konzipiert ist. Aus diesem Grund beachtet diese Gattung bereits in der literarischen Gestaltung bestimmte Strukturvorgaben der Aufführbarkeit, mit anderen Worten bereits im Zeichensystem der Schrift die verschiedenen Zeichensysteme der Bühne. Diese Orientierung an der Bühne schließt historische Formen einer experimentellen Dramatik nicht aus, die zum Teil sogar mutwillig vom Gesichtspunkt der Inszenierung absehen. Diese sog. Lesedramatik, die auf Anforderungen der Bühne (Länge des Stücks, szenischer Aufwand und Grenzen bzw. Möglichkeiten der theatralischen Umsetzung) keine Rücksicht nimmt, stellt einen Grenzfall dar (Ottmers 2000). Aber auch hierbei greift ein Effekt, der die dramatische Rede von den beiden anderen literarischen Hauptgattungen unterscheidet: Das Drama suggeriert Unmittelbarkeit in der szenischen Darstellung fiktiver (Wechsel)-Reden, die in einer bestimmten Situation geäußert werden. In der Aufführung gewinnt diese Darstellung plastische Gestalt. Der Dramatiker ist der Plastiker unter den Dichtern (A.W. Schlegel 1967, 112), weil sein Text ohne Vermittlung (durch einen Erzähler) auf der Bühne raumgreifend anschaulich und damit sinnlich evident wird.

Theatralität

Auf der Bühne wirkt der theatralische Apparat, d.h. das ganze Arsenal von Zeichensystemen, mit denen die fünf Sinne des Menschen angesprochen werden. Neben der (Wechsel-)Rede von Figuren spielen dabei uralte Darbietungsformen hinein: das gestische Spielen und das Zeigen dieses Spiels, der Tanz und die Pantomime als körperliches Nachahmen einer Handlung. Spielen, Zeigen und Darstellen sind Grundformen der szenischen Repräsentation (Gelfert 1992, 11). Bezieht sich das Spielen auf die motorischen wie sprachlich-assoziativen Impulse, die im Spiel entstehen, meint das Zeigen die theatralische Wiedergabe einer Fiktion in Ereignissequenzen. Mit dem Darstellen kommt schließlich ins Spiel, dass ein Geschehen so simuliert wird, dass es den Zuschauer mit seiner Gegenwart berührt – indem er in den ästhetischen Schein hineingezogen, indem er illudiert wird (von lat. illudo: spielen, täuschen/betrügen). Ein Kern des Dramas als Theaterereignis besteht deshalb darin, dass es den Zuschauer in eine ästhetische Simulation als Probehandeln verstrickt – ein Konzept, das seit Aristoteles bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein gültig ist und erst mit der kritischen Verfremdung von Brecht zur Distanz gegenüber der szenischen Illusion gebrochen wird. Aber auch diese Demonstrationsdramatik baut noch auf die sinnliche Evidenz von Bühnenereignissen, die von Menschen verkörpert werden.

Haupt- und Nebentext

Ein grundlegendes Kennzeichen wahrt sogar das sog. Lesedrama, das Kriterien der Aufführung nicht vorab beachtet: Es besteht in der Kombination zweier Textsorten – genauer einer fiktiven direkten Rede als Haupttext in Verbindung mit Textpassagen, die diese Rede „arrangieren, situieren, kommentieren“ (Ottmers 1997, 392). Die Gesamtheit dieser Elemente nennt man Nebentext. Die Minimalform des Nebentexts besteht in einer Angabe für den Sprecherwechsel. Längere Nebentexte, die u.a. Hinweise auf die Inszenierung geben, können erzählerisch angelegt sein. Sie dienen dann dazu, die Figurenreden zu deuten oder das Handeln der Figur zu kommentieren (Korthals 2003, 108–129). Solcherart episierende Nebentexte kommen aber gehäuft erst im modernen Drama mit Vorläufern in der Romantik und im Vormärz vor. Wichtig zur Beurteilung eines Dramas ist auf jeden Fall das quantitative Verhältnis von Haupt- und Nebentext. Die Kombination zweier Textsorten, die funktional aufeinander bezogen sind, unterscheidet das Drama von den beiden anderen Hauptgattungen Epik und Lyrik. Im Grunde genommen ist das Drama ein Arrangement direkter Figurenreden, das als Vorlage für ein Theaterspiel dient. Darauf kann der Nebentext auch explizit hinweisen: „ODYSSEUS mit dem Heer über die Bühne ziehend“ (Kleist: Penthesilea, 12. Auftritt).

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