Читать книгу DIE SUCHE NACH DER MACHT - Stefan Sethe - Страница 10
Alexis de Tocqueville
ОглавлениеStefan Sethe - Neue Bonner Depesche; ca. Mai/Juni 1984
- Ein liberaler Theoretiker des 21. Jahrhunderts? -
Vor wenigen Wochen jährte sich zum 125. Mal der Todestag Tocquevilles. Alexis de Tocqueville (geb. 1805) war der führende liberale Theoretiker des 19. Jahrhunderts - oder sollte man besser sagen: des 21. Jahrhunderts?
Seine eindringliche Analyse der mit dem demokratischen System verbundenen Gefahren für die Freiheit hat an Aktualität nichts verloren. Im Gegenteil: täglich bestätigt sich diese Analyse aufs Neue. Wer heute glaubt, das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein der Liberalen anzweifeln zu müssen oder gar die Existenzberechtigung einer liberalen Partei in Frage stellen zu können, dem sei dringend eine Lektüre der Werke Tocquevilles anempfohlen.
Als wahrer Liberaler in Theorie und Praxis suchte er unermüdlich nach dem Mittelweg zwischen den Nivellierungs- und Egalisierungstendenzen in den Massendemokratien auf der einen und den Auswüchsen eines zügellosen Individualismus auf der anderen Seite. Was er vor 150 Jahren bereits befürchtete, ist inzwischen eingetreten und im Wachsen begriffen: Die Vereinsamung des Menschen, mangelndes Sozialgefühl, kraftlos machende Versorgungsstaaten, die „den Gebrauch des freien Willens mit jedem Tag wertloser und seltener“ machen. Das Wahlrecht vermittelt nur eine Augenblicksfreiheit: „Bei dieser Ordnung der Dinge treten die Bürger einen Augenblick aus ihrer Abhängigkeit heraus, um ihren Herrn zu bezeichnen, und kehren wieder in sie zurück.“
Tocqueville sah jedoch durchaus auch Chancen für die Entfaltung der Persönlichkeit, für die Freiheit:
Die Freiheit braucht eine Stärkung des moralischen Verantwortungsgefühls, besonders des Pflichtbewusstseins.
Es muss zur Herausbildung politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Eliten kommen.
Die Freiheit braucht eine weitgehende Dezentralisierung des politischen Lebens, eine starke Selbstverwaltung.
Die Pressefreiheit ist das „demokratische Werkzeug der Freiheit“.
Geschworenengerichte müssen eine am Einzelfall orientierte Rechtsprechung entwickeln.
Die Freiheit benötigt wenig Bürokratie und viel „Vertrauen in den gesunden Menschenverstand“.
Eine strikte Einhaltung der „Formen“ ist erforderlich, um die Ungeduld des demokratischen Zeitalters zu dämpfen.
Letztlich muss allerdings jeder von uns „unaufhörlich bereitstehen, um zu verhindern, dass die Sozialgewalt leichtfertig die Privatrechte einiger Menschen der allgemeinen Ausführung ihrer Pläne opfere.“
Heute sind die schon von Tocqueville angesprochenen Probleme des mangelhaften Ausgleichs zwischen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten immer noch nicht im Sinne der Freiheit gelöst. Das Missverhältnis von Rechtsansprüchen und Pflichtbewusstsein wächst nahezu täglich. Die „ausschließliche Liebe zur Gegenwart“ nimmt zu. „Geben wir uns also jener heilsamen Furcht vor der Zukunft hin, die uns wachen und kämpfen heißt."
Tocqueville bezeichnete sich selbst als einen „Liberalen einer neuen Art“. Es wird Zeit, dass der deutsche Liberalismus endlich konsequent diese „neue Art“ übernimmt.
In seiner aktuellen Brisanz lässt sich Alexis de Tocqueville wohl nur noch mit seinem Antipoden Karl Marx vergleichen. Grund genug für jeden Liberalen, sich intensiver mit diesem faszinierenden Analytiker zu beschäftigen.
Weit banaler, aber nicht minder von Freiheitsgefühlen beeinflusst war dieser kurze Artikel: