Читать книгу Klausurenkurs im Öffentlichen Wirtschaftsrecht - Stefan Storr - Страница 20

1. Reichweite des Art. 114 AEUV

Оглавление

11

Fraglich ist zunächst die Reichweite dieser Gesetzgebungskompetenz: Denkbar wäre, dass Art. 114 AEUV dem Unionsgesetzgeber eine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes gewährt. Das hätte zur Konsequenz, dass bereits die Existenz unterschiedlicher Vorschriften in den Mitgliedstaaten über Werbung für Süßigkeiten eine Regelung der EU rechtfertigen würde.

Dagegen spricht aber eine Zusammenschau der Art. 114 AEUV und Art. 26 AEUV: Maßnahmen gemäß Art. 114 AEUV und Art. 26 AEUV sollen die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes verbessern. Ausdrücklich ist in Art. 114 AEUV bestimmt, dass Unionsmaßnahmen der Verwirklichung der Ziele des Art. 26 AEUV dienen müssen. Gemäß Art. 26 Abs. 2 AEUV, der die erforderlichen Maßnahmen für die Verwirklichung des Binnenmarktes zum Gegenstand hat, umfasst der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist. Eine allgemeine Kompetenz widerspräche dem Wortlaut dieser Bestimmung. Nicht zuletzt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 Abs. 1 und 2 EUV) steht einer Auslegung, die allein auf die Binnenmarktrelevanz abstellt, entgegen.

Ferner folgt aus Art. 114 Abs. 1 S. 1 AEUV, dass nicht bereits die bloße Feststellung von Unterschieden zwischen den nationalen Vorschriften und die abstrakte Gefahr von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten oder daraus möglicherweise entstehenden Wettbewerbsverzerrungen die Wahl von Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage rechtfertigen kann, sondern der fragliche Rechtsakt tatsächlich den Zweck haben muss, die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zu verbessern.[1] Ausdrücklich ist die besondere Rechtsgrundlage des Art. 114 Abs. 1 S. 1 AEUV entgegen der allgemeinen Ermächtigungsklausel Art. 115 AEUV „für die Verwirklichung der Ziele des Artikels 26 AEUV“ konzipiert.[2]

Das schließt eine Anwendung des Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage nicht aus, um der Entstehung neuer Hindernisse für den Handel infolge einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorzubeugen. Das Entstehen solcher Hindernisse muss jedoch wahrscheinlich sein und die fragliche Maßnahme ihre Vermeidung bezwecken.[3]

Nicht auf Art. 114 AEUV gestützt werden können Bestimmungen über die Freizügigkeit (Art. 114 Abs. 2 AEUV). Soweit daher der freie Personenverkehr insbesondere im Bereich der Dienstleistungsfreiheit betroffen ist (zB Werbeagenturen), kann nicht Art. 114 Abs. 1 AEUV als Rechtsgrundlage herangezogen werden, wenn die betreffende Dienstleistung die Freizügigkeit betrifft. Eine Harmonisierung von Regelungen zu Dienstleistungen kommt dann nur nach Art. 53 Abs. 1 AEUV iVm Art. 62 AEUV in Betracht (s. unten V.).

12

Allerdings könnte Art. 168 Abs. 5 AEUV einer Anwendung des Art. 114 AEUV entgegenstehen, der „jegliche Harmonisierung“ von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten im Gesundheitsbereich ausschließt. Aus dem Wortlaut ergibt sich nicht eindeutig, ob diese Bestimmung dahingehend auszulegen ist, dass nur Maßnahmen unzulässig sein sollen, die primär auf den Schutz und die Förderung der menschlichen Gesundheit ausgerichtet sind. Für eine restriktive Auslegung spricht, dass Art. 114 AEUV selbst zur Verwirklichung des Binnenmarktes eine grundsätzlich umfassende Regulierung ermöglicht. Art. 114 Abs. 3 AEUV schreibt ausdrücklich vor, dass bei Harmonisierungen von einem hohen Gesundheitsschutzniveau ausgegangen wird.[4] Außerdem ergibt sich aus Art. 168 Abs. 5 AEUV nicht, dass auf der Grundlage anderer Vertragsbestimmungen erlassene Harmonisierungsmaßnahmen nicht Auswirkungen auf den Schutz der menschlichen Gesundheit haben dürften. Gerade der Ausnahmecharakter der Bestimmung spricht für ein restriktives Verständnis. Der rechtspolitische Hintergrund der beschränkten Unionszuständigkeit im Bereich des Gesundheitsschutzes ist, dass eine Nivellierung der hohen Gesundheitsstandards in einzelnen Mitgliedstaaten auf ein niedrigeres Unionsniveau ausgeschlossen sein soll; den Mitgliedstaaten soll die Option offengehalten werden, ein Optimum an Gesundheitsschutz zu ermöglichen. Das in Art. 168 Abs. 5 AEUV niedergelegte Harmonisierungsverbot kann daher nur so ausgelegt werden, dass es Harmonisierungsmaßnahmen in den Kernbereichen der Gesundheitspolitik verbietet.[5] Das schließt eine Harmonisierung selbst dann nicht aus, wenn sie im Schwerpunkt dem Gesundheitsschutz dient, solange die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes verbessert werden.[6]

Allerdings dürfen andere Artikel des AEUV nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden, um den ausdrücklichen Ausschluss jeglicher Harmonisierung gemäß Art. 168 Abs. 5 AEUV zu umgehen.[7]

Klausurenkurs im Öffentlichen Wirtschaftsrecht

Подняться наверх