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Prolog – Ein Sammelgrab

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Die bunten Lebensaufzeichnungen Egons, der im Alter von dreieinhalb Jahren am Spiegelgrund seiner Wörter tauchend umkam

Stefan Wieser


Impressum

Texte: © Copyright by Stefan Wieser

Umschlag: © Copyright by Stefan Wieser

Verlag: Stefan Wieser

1230 Wien

hyakinthos@gmx.at

Druck: epubli, ein Service der

neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

Für die Sprachlosen

Ich vergesse dich niemals.

Unauslöschlich habe ich deinen Namen auf meine Handflächen geschrieben.

Es steht ein Haus am Wienfluß, das will mir nicht aus dem Sinn. Am Wegrand vor dem Haus, fünfstöckig in die freien Lüfte ragend, finden sich acht Erinnerungssteine in den Boden eingelassen, unentdeckt den achtlos Vorübergehenden, denen dieser Rand nur als der Rand von irgendetwas gilt, als der Rand des Lebensmittelmarktes, der autodröhnenden Ausfallschneise aus dem Häusermeer, als der Rand des Flusses. Den 13. März 1945, so meldet eine dem mittleren der Steine eingravierte Inschrift, wurde der aus diesem Haus stammende dreieinhalb Jahre alte Gerhard Egon S. mit Bestimmungsort Spiegelgrund deportiert.

Ein Ort, ein Name, doch mannigfache Qual.

Deshalb will Egons Haus mir nicht aus dem Sinn.

Das Haus steht also mit seinen fünf Stockwerken und acht Bronzesteinen vor seinem Haustor unweit der Einmündung der Kettenbrückengasse gebaut, der Verkehr der nach dem erwähnten Wienfluß benannten Wienzeile, einer Ausfallstraße im Häusermeer, rauscht vorüber. Fassade und Dach mit ein paar Jugendstilornamenten ragen in die frei anmutenden Lüfte.

Wir wenden uns ab von dem unter der geläufigen Bezeichnung „Stolperstein“ geführten Mahnmal, diesen hundert Bronzequadratzentimetern Name und Lebensdaten nahe der umtosten Straßenkreuzung an der geschäftigen Kettenbrücke mitten unter pittoresken Jugendstilfassaden und wenden uns einem anderen Ort zu und verschließen nicht die Augen: der „Kinderfachabteilung“: am Rand der Stadt gelegene Seitenabteilung der Hölle.

Viele Namen: Lene, Egon, Annemarie, Engelbert, Gertrude, Josef, Felix.

Unbrauchbar, vom sogenannten Volkskörper auszusondern, abseits gelegen.

Unbrauchbar für den Volkskörper, aussortiert aus diesem, eingewiesen in die Kinderfachabteilung, eingegangen in das Reich der Ohnmacht, am dritten Tage eingeschläfert, vergessen, verdrängt, aufgefahren in die Namenlosigkeit mit den Worten: Vergeßt uns nicht.

Viele der „Aussortierten“ besaßen keine Sprache, weil man sie ihnen absprach.

Die Sprachlosen hatten aber keine Mitsprache im Volkskörper.

Für sie war die „Kinderfachabteilung“ zuständig als letzte Station. Als Ziel nahm man sich vor, alle diese stummen Nebenbewohner der Welt der „Einweisung“ zuzuführen, die ansonsten unbemerkt ihr stilles Dasein am Rand der Wege, am Rande der Häuser geführt hätten, mittags gefüttert, abends bedeckt.

Am Ende stand der „Beileidsbrief“, Lungenentzündung, medizinische Todesnüchternheit auf Spitalspapier mit drei Schlußfloskeln Erlösung, endesunterzeichnet, Doktor Kerserderserkerski, Primarius.

Eines aber hatten Lene, Egon, Annemarie, Engelbert, Gertrude, Josef, Felix und all die anderen gemeinsam: In ihrer Sprachlosigkeit fanden sie doch ein System der Mitteilung. In diesem letzten Stadium der Ohnmacht gilt jedes noch so flüchtige Zeichen als ein Wink an die Nachwelt, ein Blick auf einer Fotografie, ein Heft, zurückgelassenes Spiel: Vergeßt uns nicht.

Daher hat die Phantasie des Verfassers in diesem Band unternommen, ein solches System zu erfinden und dem dreieinhalb Jahre alten Egon, dem Alter Ego Egons Buntstifte in die Hände zu legen. So werden Egons Mitteilungen in Form von Buntstiftzeichnungen zu einem Widerspruch gegen zugesprochene Sprachlosigkeit. Ein ganzes Schulheft, vollgezeichnet mit Buntstiftornamenten, beinhaltet diese Lebensaufzeichnungen seiner dreieinhalb Jahre.

Sie sind der Inhalt dieses Bandes. Ihm ist ein Leser beigestellt, ein zur Deutung der Aufzeichnungen Berechtigter, der Egons Buntstiftzeichnungen entschlüsseln wird, die für die meisten nichts weiter darstellen.

„Das kann doch nicht Kunst sein!“, rief der Kunstsachverständige aus.

Zwischen den bunten Girlanden seiner Buntstiftzeichnungen aber winkt Egon hervor aus alten Märchen mit weißer Hand.

Die „Kinderfachabteilung“ also: Am Spiegelgrund erscheinen den Kindern die Fenster des Krankensaales turmhoch. Hier wird getötet, erbrochen, gebrochen, gefesselt, unterkühlt und verhungert. Als Meister solcher Disziplinen schwingen die Professoren der Psychiatrie ihren Taktstock über die unter ihrem Dirigat stehenden Kinder, und sie kommen selten aus dem Takt. Das Konzert steht mit dem Titel „Volksgesundheit“ überschrieben. Im Volkskörper herrscht Hygiene! Auf die Eins wird auf den nackten Leib geschlagen, auf die Drei das Brechmittel injiziert, der Generalpause ist das Luminal vorbehalten, das, über längere Zeit verabreicht, zur Lungenentzündung führt. Wer in den Saal solcher Höllendompteure eintritt, läßt seine Hoffnungen am Tor angekettet liegen. Als nun unser Höllenwanderer Egon im Alter von dreieinhalb Jahren das Reich der Doktoren Illing und Gross und Jekelius und Kerserderserkerski und der Doktorinnen Hübsch und Mück betritt, bleiben ihm genau dreiundzwanzig Tage, in dieser Unterwelt der Hygiene seinen Kampf ums Dasein zu gewinnen. Vielleicht hätte ein dreiköpfiger Wächter am Eingang dieses Infernos aus Spitalsgeruch und Brechmittel bis zu einem gewissen Grad Empathie mit den in ihren erbrechenden, erfrierenden Körpern gefangenen Kindern bewiesen. Gewiß hätte er stumm am Eingang des Krankensaales im Pavillon XV an seiner Kette gelegen, trotz seiner drei Rachen das am wenigsten zu fürchtende Ungeheuer dieser Unterweltsabteilung. Aber jener berühmte Goldene Zweig, den es als Zahlungsmittel für den Rückweg aus der Hölle zu entrichten gilt, schaukelt in unerreichbarer Entfernung siebzig Armeslängen vor dem Fenster des Saales und wiegt mit seinen Bewegungen die eingekerkerten Kinder in einen trügerischen Schlaf.

Unser Wanderer Egon konnte seinen Kampf nicht gewinnen. Einweisung, Beobachtung, Behandlung, so hießen die drei papiernen Schlösser, die Überschriften auf den entsprechenden amtlichen Formularen, auf Spitalspapier geschrieben, die jeden Rückweg sicherer verhinderten als jener berühmte Wärter.

Mag der Geist auch willig sein, so ist das Papier mit der Überschrift „Einweisung“ stärker als die Trotzschreie seines rebellierenden Körpers. Das Papier allein bricht ihn. Gegen Papier gewinnt man nicht mit einem drei Jahre alten Geist. Ein Primarius hat ihn schließlich zur „Freigabe“ empfohlen. Mittels des Zeichens „+“ neben der Unterschrift der endesunterfertigenden Ärzte wurde „freigegeben“, durch das gegenteilige Zeichen Rückführung in den Volkskörper empfohlen. Doch letzteres kam nicht oft vor.

Links, links, links, links, rechts, links, links.

Der Spiegelgrund der Wörter: Ein Spiegelgrund flimmert immer und überall. Auch Flüsse besitzen einen Spiegelgrund. Man kann sich spiegeln in der Strömung der Flüsse, während man die ersten Wörter seines Lebens spricht. Alles fließt, und schon haben die Wörter sich zerteilt am Grund des Flusses, kaum sie sich von den Lippen losgelöst haben. Egons Spiegelgrund der Wörter lag unter der fließenden Oberfläche des Wienflusses, an dessen Ufer sein Geburtshaus steht. Er sah darin, als ihm noch gegeben war, sich zu spiegeln an einem seiner frühesten Lebenstage, zu seinem Erstaunen vom Brückengeländer aus seine ersten Wörter sich in der raschen Strömung verlieren und mit den durch sie bezeichneten Dingen eins und für sich selbst keins werden.

Dies eine hieß Haus und das andere Gold.

Gesetzt den Fall, wir überließen einem Spurensucher die Initiative: Einem Zeitwanderer, der über 200 Jahre Lebenszeit verfügt, fielen, sobald er in gegenwärtiger Zeit aus der in unmittelbarer Nähe gelegenen Station der Untergrundbahn ans Freie tritt, zunächst die Fassaden der Sezessionshäuser auf, die den unter dem Namen Linke Wienzeile bekannten Verkehrsweg säumen. Bei eingehender Betrachtung fallen ihm alsbald Namensfelder unterhalb der Dachfirste in der Höhe der vierten oder fünften Etage ins Auge, von denen eines die Bezeichnung OESER-HOF trägt. Vor dem Eingang zu diesem Wohnhaus hielte nun der Zeitwanderer im Gehen inne, um sich durch den schon erwähnten Stolperstein zu vergegenwärtigen, daß hinter seinem Haustor der Weg zur Wohnung führt, in der Egon dreieinhalb Jahre seines Lebens geatmet und gelebt hat. Der Zeitwanderer würde auf dem Boden dieses Stadtbezirkes, wenn er sich also 200 Jahre Zeit nehmen wollte, gewiß viele Fassaden in Staub sinken und neue Fassaden hinter dem Glanz der alten hervortreten sehen.

Gerhard Egon hingegen verfügte über keine 200 Jahre. Seine Uhr war mit der Verbringung nach dem Spiegelgrund abgelaufen. Denn in den wenigen vier Wochen, die er nach dem Einlieferungstag am Spiegelgrund noch am Leben blieb, ließ die Zeit, die unserem Zeitwanderer sich selbst so großzügig zumißt, ihren unaufhörlichen Sandfluß nicht länger hinter den siebenfach verriegelten Kerker in Weiß einsickern. Still ist es im Krankensaal, in dem statt der Zeit ein NICHT verrinnt. Hinter den Riegeln und Fenstern des mit der Nummer XV bezeichneten Pavillons löste Egon einen seiner Vorgänger in dessen Bett ab, als einer der Letzten in einer Reihe von über achthundert Kindern, die unter der Herrschaft von Gross und Jekelius, Illing und Kerserderserkerski ihren Tod des Tages und ihren Tod der Nacht starben, bei offenem Fenster in der Februarnacht, und später selbst noch zu einem Zeitpunkt, als bereits der Zangengriff der Roten Armee von Süden ausgehend zu seiner Umklammerung der Stadt ansetzte.

Gerhard Egon starb am 4. April des Jahres 1945, vier Monate, fünfzehn Tage vor seinem vierten Geburtstag. Ein Totenbuch verzeichnet seinen Namen unter 788 weiteren Namen – ein Name, ein Kind.

So öffnet dieser Text aus der Sicht unseres Zeitwanderers das Fenster zu Egons Leben, das 3½ Jahre offenstand und sich am 4. April 1945 wieder schloß. 789 Fenster stehen für ebenso viele Namen, die erfaßt werden konnten. Wo unter medizinischen Experimenten und unter Messern und bei nächtens geöffneten Fenstern bei eisigem Luftzug, durch Nahrungsentzug und durch Schlafmittel getötet wurde, wo ein Illing und ein Gross und ein Kerserderserkerski im Dienste der Volksgesundheit das konzentrierte Forscherauge in Gehirnschnitte eindringen ließen, die sie den „unbrauchbaren Kindern“ entnahmen, dort trifft unser Zeitwanderer heute, sobald er der Spur Egons bis herauf auf den Spiegelgrund gefolgt ist, auf einen Irrgarten von 789 illuminierten Stelen. Sie flackern jetzt in unserer Zeit bei Tage und leuchten bei Nacht, Symbole der hermetischen Verzweiflung für die an diesem „point of no return“ Eingeschlossenen.

Der hier vorliegende Text beruht nicht auf historischen Beweisen. Doch wäre es möglich gewesen, Egon diese Geschichte zu erzählen, würde er an das andere Ich geglaubt haben, in das er sich auf den Seiten dieses Buches hier verwandelt gefunden hätte. Dieser Band läßt unseren Zeitwanderer einen Blick dafür gewinnen, was möglich gewesen wäre, hätte Egons Fenster länger offen gestanden.

Der Spiegelgrund der Zeit: 200 Jahre spiegeln sich im Fluß und in den Fassaden an seiner Uferzeile. Darin eingebettet der flüchtige Gast Egon. Der Autoverkehr strömt vorüber an Haus und Gedenkstein, am Rande von irgend etwas entlang. Viele Fenster am Boden des Stadtteils um den Oeser-Hof unweit des berühmten Wiener Naschmarktes, an den der Zeitwanderer nun zurückgekehrt ist, erzählen die Geschichten von Menschen, die hinter ihnen gewohnt haben, halbfertige Geschichten, vollendete Geschichten oder solche, deren Faden sich nach ein paar wenigen Worten wieder verliert.

Solches trifft auf Egons Geschichte zu.

Der Faden entgleitet sehr bald den Händen, die ihn eine Weile hielten.

Und zuletzt: ein jeder Spiegelgrund hat einen Grund, einen trüben Grund, an dem der Taucher im Schlamm tastet, einen Goldgrund, beliebig. Ein Spiegelgrund ist auch ein Grund des Daseins. Spiegeln wir uns mit unseren Tauchermasken auf dem Seegrund des Sinnes: ein Spiegelbild wird uns allenthalben entgegenblicken. Gesichter aus den Spiegeln treiben uns am tiefsten Spiegelgrund entgegen. Versuchen wir, wenn wir Egons Gesicht begegnen, hinter sein Spiegelbild zu blicken. Dahinter verbergen sich seine ungelebten Jahre. So werden wir also am Spiegelgrund nach einem Grund und Sinn suchen, den seine Jahre hätten haben können, die ihm entzogen wurden.

Unser Zeitwanderer macht sich nun wieder auf den Weg. Überall stehen Denkmäler. Als HANNA-HOF weist eine Fassadenaufschrift der eingangs beschrieben Art das gegenüber auf der anderen Seite der Wienfluß-Überdachung stehende Wohnhaus aus, den Oeser-Hof schließen der Boulevard-Hof und der Renaissance-Hof ein. Im Blickfang und schon ein paar hundert Schritt abseits steht in seiner Jugendstilpracht der Rüdigerhof in Blau, Weiß, Gold. Und folgt unser Zeitwanderer nun dem Verlauf der hier einmündenden Kettenbrückengasse zurück in das Jahr 1828, so wird er alsbald einem anderen Wanderer begegnen, der soeben das Fenster seines Lebens schließt, über das er das Fazit zieht:

Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.

Auch hier ein Denkmal. Auch hier ein Spiegelgrund der Zeit. Auch hier ein Grabstein und eine Erinnerung. Es liegen nur wenige Gehminuten zwischen dieser letzten Wohnung des Komponisten Franz Schubert und Egons. Ersterer hat der Menschheit die Spuren von dreißig Jahren unsteten Wanderns hinterlassen. Unser Zeitwanderer mag ihnen noch ein wenig folgen bis an Pforten, die keinen Durchlaß erlauben.

Hier verliert sich die Spur unseres Wanderers.

Er taucht ab wie eine Projektion unserer Phantasie, die dorthin verschwindet, woher sie gekommen ist.

Es bleibt die Notwendigkeit, mehr als nur einer Spur Egons zum Bleiben zu verhelfen. Über Egon einen Text zu schreiben, bedeutet, sich mit jemandes Leben zu befassen, der beinahe gar nicht darin eingezogen ist. Ein paar Atemzüge, die den im Gedenkstein eingelassenen Namen im Lesen und Weitergehen für den Verfasser zu etwas Lebendigem machen, ein paar Zahlen, die er abliest, müssen seiner Phantasie reichen, diese wenigen Atemzüge zu einem Leben zu flechten. Es existiert kein Grabstein, der Egons Namen trägt. An Egons Leben zu erinnern, bedeutet, dem Fremdesten aller Fremden ein Denkmal zu setzen.

Der vorliegende Text läßt Egons Fenster daher noch einmal aufgehen, als ließe sich den wenigen Daten noch ein wenig mehr abringen als das nüchtern Vorhandene, etwas zwischen den Zahlen Befindliches. Der Verfasser hat sich daher vorgenommen, ins Dickicht der Wörter hineinzublicken, die Egon während der 3 ½ Jahre seines Lebens gesprochen hat, zum Spiegelgrund seiner Wörter zu tauchen, wo alles angefangen hat. Er spürt seinen Tagen nach, er entwirrt seine Worte und offenbart die Begegnungen seines Lebens, wie sie stattgefunden haben könnten.

Egon steht für all die anderen. Gesicht und Geschichte können noch nicht übereinstimmen, weil seine Geschichte hier erst geschrieben werden muß.

Dieser Text ist gedacht als Egons Grabmal und gerade deswegen als ein Lebensmal.

Dieser Text ist ein Sammelgrab, ein kollektives Grab für alle diejenigen, deren Namen am Spiegelgrund verzeichnet stehen und für die Egons Name hier steht.

Die bunten Lebensaufzeichnungen Egons, der im Alter von dreieinhalb Jahren am Spiegelgrund seiner Wörter tauchend umkam

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