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Egons bunte Lebensaufzeichnungen, der am Spiegelgrund seiner Wörter tauchend umkam

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Und da ging es mit uns los. Das Heftchen Egons nahm uns auf in sich. Wir spürten plötzlich eine gewaltige Kraft davon ausgehen, die uns dazu herausforderte, alle Wörter aufzulesen, die darin gesammelt lagen, die aber nur dem Sammlerauge eines Wörterhändlers, einem Auge wie dem unseren zugänglich und erkennbar waren, wo andere Augen nur ein wildes Gekrakel einer Kinderhand wahrnahmen, dem man einen Buntstift in die Hand gedrückt hat.

Mein Blick (fremd ziehe ich aus von mir, wenn ich ihn von mir ausschicke) streifte noch einmal am Titel „Am Spiegelgrund meines Lebens liegen die Wörter“. Dann tauchten wir unter. Wir gerieten gleichsam erst einmal auch mit unseren Atmungsorganen unter die Oberfläche von Egons Buntstiftlabyrinthen, gewannen rasch wieder die Orientierung, hielten uns fest. Ich glaubte feststellen zu können, im ersten Drittel des Heftchens etwa auf der achten Seite wieder an die Oberfläche getaucht zu sein. Ja, jetzt fühlte ich meinen Blick in seiner Gänze wieder sicher in mir verankert (und nur in manchen lang vergangenen Fährnissen meines Lebens, besonders in einer Nacht in einem Garten der Einsamkeit, in meiner Einsamkeit ganz allgemein, die mich immer umgibt, habe ich meinen Blick zuvor schon einige Male so völlig aus mir herausgewichen gefühlt wie hier am Spiegelgrund).

Ich klappte das Heft zu, öffnete es wieder, kehrte zurück. Jetzt aber blickte ich wie kaum je zuvor, und ich trat in Egons blaßblaues Heftchen ein. Ich ließ meinen Blick schalten. Ich vertraute ihm, mit dem ich schon, seit ich von mir weiß, Zwiesprache halte, weil er mein einziger Gefährte ist, den ich immer und immer und seit jeher in die Welt ausschicke, und dennoch immer allein gewesen bin. Daraufhin legte mein Blick sich auf eine der Buntstiftbahnen und nahm Fahrt auf. Noch während der ersten Beschleunigung (es handelte sich um eine grüne und sehr kurvenreiche Bleistiftlinie, später, nach rasch gewonnener Höhe wie auf einer Schweizer Alpenstraße, wechselte sie in ein intensives Ockergelb) tastete der Blick in die Richtung, aus der das Geräusch des sich erbrechenden Kinderkörpers zu ihm drang. Allein, da er nur das Schöne, Wahre und Gute sehen konnte und wollte, gab es da nur den im Frühlingslicht daliegenden Saal mit weit geöffneten Fenstern, als hätte ein Kerserderserkerski und eine das Apomorphin spritzende Rotkreuzschwester keine Existenzmöglichkeit in einem solchen geklärten Stadium einer Weltschöpfung. Der Blick sah also nicht direkt hin, er tastete aber nach diesem Körper, der irgendwo in diesem Frühlingssaal sich schier die Eingeweide aus seinem Inneren erbrechen wollte.

Allmählich nahmen die Linien in Egons Heftchen Formen an, sie ordneten sich wie ein Landschaftspanorama, da ein herbstliches, sonnenüberflutetes Ockergelb einer Schweizer Gebirgsalm mit einer Station des Postautobusses, dort ein Himmelsblau, das durch eine nicht ganz verschlossene Jalousie sickerte, in das der Verfasser der als bloßes Gekritzel verkannten Botschaften versank, die plötzlich so ganz gegenstandslos wurden. Mein Blick brauchte Zeit, um mich wieder an eine erkennbare blaßblaue Oberfläche zu bringen.

Da wurden endlich für meinen Blick Wörter erkennbar, nicht bloß geschwungene Buntstiftlinien, sondern ganze Wörter und Wörterreihen, aus den schon zuvor vereinzelt wahrgenommenen Flimmerbuchstaben plötzlich zu Einheiten zusammengesetzt, im Augenblick noch ohne Zusammenhang. Aus dem blauen Brand des Sommerhimmels, aus diesem glühend taghellen Blau also, in das der Kranke hinter der halbgeöffneten Jalousie den ganzen Tag über hineinstarrte, hoben sich Kolonnen von bunten Wörtern in allen Farben des Buntstiftkastens – Der schreibt ja über meine Wohnung! – So rief mein Blick angesichts des in Wirklichkeit doch lediglich vorgestellten Gebirgshimmels voller weißer Wolkentürme erstaunt aus, weil er sozusagen in einem Buch vorkam, von dem er bisher gar nichts gewußt hatte.

Und der Blick fing in den Botschaften Egons, die er in den geschwungenen Buntstiftlinien versteckt hatte, zu lesen an, während irgendwo das Geräusch des Erbrechens aufhörte, indes sich hinter einer heruntergelassenen Jalousie die Augen für lange Minuten schlossen, und er las, dann las er weiter, er konnte nicht mehr innehalten auf einer Wortstufe aus einem alten, übriggebliebenen Grau, er las und las –

Dann verdeckt noch die fotografierte Außenfassade ganz ohne Menschen die Szenerie des Krankensaales, aufgenommen die reine Backsteinaußenmauer des Pavillons ohne menschliche Statisten, man weiß nicht, was sich zu diesem Zeitpunkt hinter den Fenstern abspielt, welche nur den Himmel reflektieren. Hinter der nüchtern-nackten Außenwand des Spitalspavillons, drinnen im Krankensaal, den sie verdeckt, eine niemals abgelichtete Momentszene, zehn Uhr, siebzehn Minuten, dreiundzwanzig Sekunden vormittags. Keiner wird je dahinterkommen, was sich dort im Augenblick der Fotografie ereignete, eines der ungelöst bleibenden Rätsel der Welt. Anwesend und abwesend zugleich dein Blick – so mußt du dir meinen Blick vorstellen. Verstellt der Blick durch eine fotografierte Backsteinmauer. Dahinter liegt etwas, das noch nie durch ein Wort bezeichnet wurde. Ich werde es nicht bergen können, nicht herausbrechen aus dem Bergwerk der Sprache, aus dessen Seitenabteilung am Spiegelgrund, obwohl ich ein Wörterhändler bin ---

Die Buntstiftspur des ersten Absatzes der Aufzeichnungen Egons führte von ihrem Ausgangspunkt, ihrem Startpunkt gleichsam, in dunkelblau und gelb heftaufwärts, von einem Buntstift mit Zweifarbenmine gezogen. Ich bin es, wohlgemerkt, der über die Fähigkeit verfügt, in Egons bunten Aufzeichnungen den Sinn zu entschlüsseln. Ich bin es – so mein Name, den ich in mein Ausweispapier geschrieben habe. Und so lese ich, ein geduldiger Wörterhändler, in den Buntstiftbahnen Egons, die keine Wörter sind, sondern nur Bahnen aus buntem Farbenstaub. Eines Tages aber, gäbe man ihnen genügend Zeit, vielleicht zweihundert Jahre, eines Tages also würden sie zu Wörtern werden, würden schreien, würden anklagen, würden sich von Buntstiftabdrücken in Wortabdrücke verwandeln, in Wörterspuren, die zurück zu ihrem Ursprung führen. Ich bin es, so steht in meinem Reisepaß geschrieben, dessen Gültigkeit niemals endet. Eines Tages werde ich daher als verständiger Wörterhändler Egon abholen und mit ihm durch die Registrierung für die zu Entlassenden gehen, die dann hinter dem Schlagbaum der Ausfahrt des Spiegelgrundes Entlassene sind, nicht mehr zum Spiegelgrund Gehörende. Dann würden die Wörter in Egons Aufzeichnungen, die bislang nur Buntstiftbahnen auf Papier waren, zu Wörtern gereift sein. Wir müssen ihnen dafür Zeit geben. Dann aber, nach Ablauf dieser Zeit, werden sie, verwandelt und zu Sprache geworden, folgendermaßen lauten:

Die bunten Lebensaufzeichnungen Egons, der im Alter von dreieinhalb Jahren am Spiegelgrund seiner Wörter tauchend umkam

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