Читать книгу Hexenseele - Stefanie Purle - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеKeine Ahnung wie lange ich gebraucht habe, um endlich mit dem panischen Kreischen und Herumrennen aufzuhören. Es ist immer noch Nacht, und das schon seit einiger Zeit. Stunden? Tage? Ich weiß es nicht.
Meine Augen brennen vom vielen Weinen, mein Hals schmerzt und mir ist übel. Wer hätte gedacht, dass man auch nach seinem Tod noch körperliche Schmerzen fühlen kann?
Ich besehe meine Hände im graublauen Mondschein, dann meine Arme, meinen Körper und meine Kleidung. Sieht so meine Seele aus? Nehmen Seelen die Form des Körpers an, die er zum Zeitpunkt des Todes hatte? Ich hatte mir etwas Mystischeres vorgestellt, eine Art Lichtkugel vielleicht, die von Wolke zu Wolke schwebt, aber nicht das!
„Chris!“, krächze ich immer wieder und laufe über die gepflasterte Landstraße, auf der Chris´ Transporter zuletzt parkte. Doch ich bekomme keine Antwort.
Wieder und wieder gehe ich die Stelle ab, an der sich alles abgespielt hat. Dort auf dem Boden lag Daphne Rudenkos Leichnam, den ich mit ihrer Stola abgedeckt habe. Um uns herum ließ meine Druidenmagie die Straße aufbrechen, als sich dicke Wurzeln an die Oberfläche kämpften und uns mit glühendem Feuer zusammen umkreisten. Jedoch sehe ich keine Spuren davon. Die Straße ist intakt, die umliegenden Bäume sind nicht von Flammen angesengt. Nichts zeugt davon, dass dieser Kampf jemals stattgefunden hat.
Der Stromkasten! Ich renne auf ihn zu und reiße die schmale Tür daran auf, die vor kurzer Zeit noch ein Portal zurück zu Ebraxas Büro war. Aber da ist kein Portal, nur ein Stromkasten mit Sicherungskästen, dicken Kabeln, einem Feuerlöscher und mehreren Schildern mit Warnhinweisen.
Verzweifelt schlage ich die Tür wieder zu und schreie aus heiserer Kehle meinen Frust und die Trauer in diese einsame Welt hinaus, bevor ich auf die Knie sacke und mein Gesicht in meinen Händen verberge.
Ich weine, bis ich keine Tränen mehr übrig habe und zum ersten Mal seit Langem nehmen meine Gefühle keinen Einfluss auf das Wetter. Der Himmel ist noch immer einfach nur bewölkt, kein Windhauch ist zu spüren und weder Regen noch Hagel prasseln auf mich nieder. Keine Blitze, kein Donner, nichts!
Irgendwann stehe ich auf und laufe schlurfend und mit gesenktem Kopf einfach die Straße hinunter. Wenn ich von nun an bis in alle Ewigkeit in dieser Kopie meiner früheren Welt gefangen bin, dann muss ich mir zwangsläufig einen Unterschlupf suchen. Ich bin zwar weder müde, noch hungrig, aber ich habe trotzdem nicht vor, für immer an diesem Bahnübergang festzusitzen. Außerdem habe ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, hier vielleicht doch noch auf eine andere Seele zu treffen. Es ist immer noch möglich, dass Chris ebenfalls an diesem Ort gefangen ist. Er starb einige Minuten vor mir, womöglich ist seine Seele auch gerade auf der Suche nach mir. Dieser Gedanke treibt mich an und ich beschleunige meine Schritte.
Je weiter ich mich vom Bahnübergang entferne, umso dunkler wird es. Es gibt hier keine Straßenlaternen und der Mond ist hinter einer halbtransparenten Wolke verschwunden, sodass nur ein Hauch seines silbrigen Lichtes den Weg erhellt. Ich versuche eine Flamme heraufzubeschwören, die mir Licht spenden kann, doch es funktioniert nicht. Es gibt hier keine Elemente, keine Magie, kein Licht. Es gibt nur mich und die Dunkelheit.
Nach gefühlten Stunden erreiche ich den Wald, der unser Haus umgibt. Ich renne, doch es ist unsagbar anstrengend. Mein schwerer Körper ist ungelenk und steif, als sei ich nur ein Mensch aus Fleisch und Blut und keine Druidenhexe mehr. Die Schwerkraft scheint verstärkt zu sein und jeder Schritt ist eine Qual!
In diesem Moment kommt mir der Gedanke, dass ich dies alles verdient habe! Ich habe den Tod mehrerer Menschen auf dem Gewissen, die nur gestorben sind, weil ich eine Ghula befreit habe.
Ich wollte Ebraxas töten, ich war sogar bereit dazu, meine eigene Tante Corvina umzubringen!
Ich bin eine Mörderin und habe diese einsame dunkle Hölle verdient.
Es ist noch immer dunkel, als ich den See erreiche. Ich weiß nicht, warum ich nicht zuerst im Haus nachgesehen habe, aber irgendwie hielten mich die dunklen Fenster davon ab, hineinzugehen. Der Gedanke daran, das Haus leer aufzufinden, macht mir Angst. Wenn Chris dort nicht ist, bin ich mir sicher, dass er sich gar nicht in dieser seltsam stillen Kopie der echten Welt befindet, und eigentlich wünsche ich mir sogar, dass er diesen dunklen, falschen Abklatsch unseres Hauses nicht sehen muss, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, die Ewigkeit hier allein zu verbringen.
Der See liegt vollkommen still da. Keine seichten Wellen schwappen ans Ufer, die Wasseroberfläche ist vollkommen glatt. Von unseren Kois ist nichts zu sehen, generell scheint es hier außer mir kein weiteres Lebewesen zu geben. Ich höre weder Grillen, noch Kröten oder Vögel. Auch wenn es Nacht ist, müsste ich doch irgendwas hören! Was ist mit den nachtaktiven Waldtieren, die um unser Haus herum leben? Ist wirklich nichts und niemand hier?
Schweigend lausche ich der Stille und sitze im hohen Gras, nahe des Ufers. Nichts bewegt sich, kein Grashalm, kein Blatt, noch nicht einmal eine Wolke. Ich glaube, dies ist der unheimlichste Ort, den es im ganzen Universum gibt.
Ich warte. Minuten, vielleicht sogar Stunden. Doch nichts geschieht. Absolut nichts! Es wird nicht heller, es bleibt alles gleich, als befände ich mich in einer Momentaufnahme, dem Standbild einer dunklen Welt. Und schon wieder treibt dieser Gedanke an die ewige Einsamkeit an diesem Ort mir die Tränen in die Augen. Leise schluchzend lasse ich ihnen ihren Lauf und wische nur gelegentlich mit dem Ärmel meines Pullovers über mein nasses Gesicht. Ich sollte aufstehen, mich endlich aufraffen und ins Haus gehen, auch wenn es leer ist. Es bringt nichts, hier weiter in der Kälte im Gras zu hocken und zu weinen.
Als ich gerade aufstehen will, sehe ich für einen kurzen Moment ein schwaches Leuchten an einer Uferstelle. Ich blinzle, reibe mir über die Augen und schaue erneut hin. Da ist etwas, ein gräuliches Glimmen, ganz schwach und kaum wahrnehmbar.
„Hallo? Ist da jemand?“, rufe ich in die Richtung des Schimmers und rapple mich auf.
Ich habe Angst, mit einer zu schnellen Bewegung das, was auch immer sich dort manifestieren möchte, zu verschrecken, also schleiche ich in gebückter Haltung näher heran. „Geh bitte nicht weg“, flehe ich den Lichtschimmer an.
Dann sehe ich noch mehr dieser gräulich leuchtenden Fleckchen, sie sind um den gesamten See herum verteilt. Schnell zähle ich durch und komme auf eine Anzahl von sieben schwachen Lichtern, die den See umgeben. Und in dem Moment wird mir klar, wer sich da zu manifestieren versucht, ich weiß es instinktiv: Meine Urahnen, die sieben Elstern!
„Bleibt hier, bitte“, keuche ich und knie mich neben den nächstgelegenen Lichtfleck am Boden. Mit zitternden Fingern berühre ich das schwache Glimmen und spüre eine Art Kraft von ihm aufsteigen. „Kommt zu mir, bitte lasst mich hier nicht allein!“
Je länger meine Finger über dem Licht ruhen, umso größer wird das Leuchten. Es bricht aus der Erde heraus und wächst empor. Die umliegenden restlichen sechs Lichter schweben über den See in meine Richtung und kommen immer näher.
Instinktiv versuche ich auf meine Magie zuzugreifen, um ihnen mehr Kraft zu schenken, doch ich finde keinen Zugang. Trotzdem wachsen die Lichter weiter, formen sich zu mannshohen Säulen mit gräulich leuchtenden Konturen, die mir nun langsam die Körper der längst verstorbenen Hexen und Kräuterfrauen zeigen.
Ich richte mich auf, erwidere ihr mildes Lächeln und spüre eine enorme Erleichterung in mir aufsteigen. Ich bin nicht allein in dieser Welt gefangen, meine Ahnen, die Kräuterfrauen, die vor hunderten von Jahren einst Magie an diesem Ort ausübten, sind bei mir.
Schließlich stehen sie alle Sieben um mich herum und ich besehe mir eine halbtransparente Silhouette nach der anderen. Sie sind unterschiedlichen Alters, die Jüngste ist um die zwanzig, die Älteste schätzungsweise um die siebzig Jahre alt. Sie tragen fließende Gewänder, die jüngeren mit geflochtenen Taillengürteln und Blumenranken in den hüftlangen Haaren.
„Ich kenne noch nicht einmal eure Namen“, stelle ich fest und schüttle verwundert mit dem Kopf. „Wieso seid ihr hier? Wie kann das sein?“
Die älteste und kleinste Frau sieht zu mir auf und ergreift meine Hand. Ich spüre ihren Griff nur hauchzart und eisigkalt auf meiner Haut. Ihr Gesicht ist von tiefen Falten geprägt, die Augen sind schmal und voller Güte, doch ihre Farbe kann ich nicht erkennen, alles an ihr leuchtet in diesem gräulichen Schimmer.
„Wir sind schon lange miteinander verbunden, Scarlett“, sagt sie und ihre zitternde Stimme hallt von weit her. „Schon lange beobachten wir dich und die vielen anderen Versionen aus anderen Dimensionen von dir. Wir waren es, die der Scarlett aus der Zukunft damals rieten, dir unsere Grimoires zu hinterlassen.“
„Eure Grimoires?“, hake ich nach und versuche ihren kryptischen Worten einen Sinn zu verleihen.
Die alte Frau nickt lächelnd. „Es ist kompliziert, Scarlett. Als körperlose Wesen können wir zwischen den Dimensionen umherreisen. Die Dimensionen, die ihr Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit nennt, können wir alle sehen. Manchmal greifen wir ein, wenn es zum Wohle der magischen Welt von Nöten ist. So überzeugten wir eine zukünftige Version deiner Selbst, dir unsere Grimoires zu überlassen, die der schwarze König in seiner Bibliothek lagerte.“
„Okay“, antworte ich mit unüberhörbarer Verwirrung in der Stimme.
Nun wendet sich eine der jüngeren Frauen an mich. Sie legt ihre kalte Geisterhand auf meine Schulter und ich sehe in ihr hübsches Gesicht. Sie hat runde Wangen, die zu Lebzeiten mit Sommersprossen übersäht gewesen sein müssen. Ihr Haar ist geflochten und oberhalb des Ohres stecken kleine Blüten darin. „Die Grimoires ermöglichten dir, den Inviolabilem-Zauber durchzuführen, ohne den du jetzt nicht hier wärst.“
Das Lächeln, das ich ihr bislang noch erwidert hatte, fällt aus meinem Gesicht. „Ohne den Zauber wäre ich nicht hier?“ Meine Augen sind weit aufgerissen, die Worte hallen laut aus meinem Mund. Ihnen habe ich es zu verdanken, in dieser seelenleeren Hölle festzusitzen?
„Dunkle Zauber fordern Opfer, Scarlett“, sagt eine Stimme hinter mir, doch ich drehe mich noch nicht einmal zu ihr um.
Stattdessen verlasse ich ihren Kreis und versuche einen klaren Gedanken zu fassen, obwohl ich ihrer aller Blicke in meinem Rücken spüre.
„Ohne den Inviolabilem-Zauber wärst du gestorben“, sagt eine der Kräuterfrauen. „Wir haben die Zukunft dieser Dimension ohne dich gesehen, Scarlett, und dazu durfte es einfach nicht kommen.“
Mein Blick ruht auf dem bewaldeten Hang, auf dem oben das kolossale Holzhaus der Familie Belger thront – Mein Zuhause, das jetzt leer und verlassen daliegt, als sei es nur eine Attrappe, eine Requisite der Vergangenheit.
„Ich bin gestorben“, antworte ich leise. „Und Chris ebenfalls.“ Dann drehe ich mich zu ihnen um. „Und wenn mein Gefährte nicht lebt, will ich auch nicht mehr am Leben sein.“
Unsere Blicke begegnen sich und ich sehe sie nacheinander an. Die Älteren wirken missmutig, ein wenig verärgert und eine der Sieben schnauft. Die Jüngeren hingegen legen den Kopf schief und lächeln mitfühlend und von Trauer ergriffen. Vielleicht haben sie selbst einen Geliebten verloren und können meine Gefühle nachempfinden.
„Du musst leben!“, sagt die Älteste und zieht die Augenbrauen zusammen. Mit festen Schritten, die noch nicht einmal einen Grashalm krümmen, stampft ihr transparenter Körper auf mich zu. „Du schuldest es der magischen Welt! Du bist die erste Druidenhexe, der Urtypus einer neuen Art! Die Prophezeiung endet hier nicht, du hast dein Soll noch nicht erfüllt!“
Eine weitere Geisterhexe schließt zu ihr auf, ihr Gesicht wirkt ebenso unerbittlich, wie das der Ältesten. „Wir haben dich nicht umsonst zum Inviolabilem-Zauber geführt! Du musst leben, Scarlett, und sei es nur, um danach weitere sechs Male zu sterben! Das bist du uns schuldig…“
„Weitere sechs Male?“, hake ich nach. „Wieso sechs Male? Wovon sprichst du überhaupt?“
Eine der übrigen Hexen tritt vor. Sie knetet ihre Finger und blickt mit reumütigem Blick zu mir auf. „Wollen wir das nicht in Ruhe besprechen?“, fragt sie und deutet hoch zum Haus. „Lasst uns doch alle reingehen und die Angelegenheit in Ruhe klären, einverstanden?“