Читать книгу Hexenseele - Stefanie Purle - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеDie Hand der jüngsten Hexe wird mir entrissen und sie ist verschwunden, bevor ich sie noch ein letztes Mal anschauen kann. Ich taumle durch tiefdunkle Schwärze und dann befinde ich mich wieder in meinem menschlichen Körper. Meine Augen sind geschlossen, die Hände liegen gefaltet auf meinem Bauch. Ich schnappe nach Luft, sauge den Sauerstoff in meine Lungen wie ein Ertrinkender. Hustend reiße ich die Augen auf und sehe nichts als Dunkelheit.
Von Panik ergriffen reiße ich die Arme hoch und taste meine Umgebung ab. Weicher Stoff umgibt mich, unter meinem Kopf ist ein Kissen und mein Körper liegt auf einem harten Untergrund. Ich will schreien, doch es kommt kein Ton aus meiner Kehle.
Mein schlimmster Albtraum ist wahr geworden: Ich wurde lebendig begraben!
Meine Finger tasten die Decke ab, sie ist ebenfalls mit Stoff bezogen und ich suche verzweifelt nach einem Hebel oder einem Riegel, auch wenn ich bezweifle, dass Särge innen mit Öffnungsmechanismen ausgestattet sind. Panisch trommle ich mit den Beinen, strample um mich, in dem Versuch, irgendwie dieser Kiste zu entkommen. Vom lauten Pochen meines Herzschlages erkenne ich zuerst meinen eigenen Schrei gar nicht, doch als er endlich an mein Ohr dringt, verstumme ich und zwinge mich zur Ruhe.
Ich muss hier raus, ich muss schnell hier raus!
Die Vorstellung von meterdicken Erdschichten über mir raubt mir die Luft zum Atmen.
Dann endlich besinne ich mich meiner Magie und durch die Panik befeuert rauschen die Elemente zu mir, wie von einem Magneten angezogen. Wind rauscht durch die kleine Kammer über meinen liegenden Körper hinweg, ich spüre den Strom des Grundwassers unter meinem Rücken und kleine Feuerfunken beleuchten nun den Innenraum.
Ich liege tatsächlich in einem Sarg!
Nicht durchdrehen, Scarlett, dreh jetzt nicht durch! Immer wieder rede ich mir selbst gut zu und überlege, wie ich hier rauskommen kann. Ich lasse Blitze an meiner rechten Hand entstehen und feuere, ohne groß zu überlegen, gegen den Deckel über mir. Ein lauter Knall ertönt, Holz bricht und die Hälfte des Sargdeckels springt offen. Ich mache mich für die Erdmassen bereit, die nun auf mich herabfallen müssten, doch es passiert nichts. Stattdessen blicke ich nun auf eine von schwachem Lichtschein beschienene Zimmerdecke.
Ich richte meinen Oberkörper auf uns linse über den Rand des Sarges. Man hat mich noch nicht beerdigt, ich stehe in einer kleinen Kapelle und neben meinem Sarg steht noch ein weiterer.
„Chris!“, schreie ich und klettere aus dem gesprengten Loch im Sargdeckel hinaus. Der Sarg kippt und ich lande mit einem lauten Krachen, samt Sarg, auf dem Boden. „Chris!“
Immer wieder rufe ich seinen Namen, während ich den Sarg von meinen Beinen streife, wie einen hölzernen Reifrock. Der Duft von Rosen und angesengtem Holz steigt in meine Nase, während ich mich keuchend aufrapple und um den zweiten Sarg herumgehe. Meine Finger tasten über das polierte Kiefernholz und fingern nach der losen Verriegelung. Als ich sie endlich gelöst bekomme und den Deckel aufschiebe, reißt mir Chris´ Anblick den Boden unter den Füßen weg. Aus meinem Mund kommt ein Schrei, der dem Kreischen eines verwundeten Tieres ähnelt.
Ich lege die Hände um sein wachsartiges Gesicht, streiche über die Bartstoppeln an seinem Kinn und klopfe sacht gegen seine Wange. „Chris… Bitte, komm zurück! Chris, ich flehe dich an!“
Mein Kopf sackt nach hinten und ich schluchze gen Himmel, bevor mein Oberkörper über seinem offenen Sarg zusammensackt. Meine Knie geben nach, der Schmerz ist einfach zu viel, dies ist mehr als ich ertragen kann.
Meine Finger krallen sich an seinem hellblauen Hemdskragen fest und ich beginne an seinem Körper zu rütteln, doch er reagiert nicht. Er öffnet die Augen nicht. Mein Gefährte wirkt wie ein Crash-Test-Dummy, eine leblose Puppe, ohne Körperspannung und ohne ein einziges Lebenszeichen.
„Das kann nicht sein… Chris, du musst leben! Du musst!“, flehe ich seinen schlaffen Körper an, während meine Finger ihn abtasten. „Wir sind Gefährten, der Zauber muss auch bei dir gewirkt haben! Werde wach! Wach endlich auf! Lauf durch den See der Tränen und komm zu mir zurück!“
Ich fasse an seinen Hinterkopf und ertaste einen Verband aus Vlies. Auf seiner Stirn klebt ein hautfarbenes Pflaster, dort wo ihn die Kugel traf. Mit einem wachsartigen Material haben sie die Wunde zugespachtelt und sein blasses Gesicht mit Puder bestäubt, um seine blutleere Blässe zu verbergen. Er trägt ein weißes Shirt und darüber ein hellblaues Hemd, das ihm viel zu formell gewesen wäre und ich niemals für ihn ausgesucht hätte. Sein Haar ist mit Gel streng nach hinten gekämmt worden und die welligen Strähnen sind mit Haarklammern am Hinterkopf über dem riesigen Pflaster befestigt.
Ich löse seine gefalteten Hände und führe seine Finger an mein Gesicht. Seine Haut ist kühl und ich drücke meine Lippen gegen seine Handinnenfläche. Er riecht nach Talkum-Puder und Desinfektionsmitteln.
„Chris, bitte…“, flüstere ich nun leiser. „Wach doch bitte auf.“
Doch er wacht nicht auf.
Verzweifelt sehe ich mich in dem kleinen Raum um. Wir befinden uns in einer Kapelle, nahe dem Friedhof. Unsere Särge stehen nebeneinander vor einem kleinen Altar, auf dem gerahmte Fotos von uns beiden zwischen Unmengen von Blumen stehen. Ich frage mich, wer die Blumen niedergelegt hat und wer alles bereits unseren Tod betrauert hat. War Carmen hier? Jason, Kitty, Naomi, Fletcher, Jo und Berny? Waren sie hier und haben uns die letzte Ehre erwiesen? Was ist mit Mama und Elvira? Arturo, Bianca und Riva? Die Gedanken an unsere Lieben schnüren mir die Kehle zu und ich fühle mich schuldig.
Wer war alles hier, wer hat unsere Leichen gesehen? Wie können wir in unser altes Leben zurück, wenn alle uns für tot halten?
Wir müssen dringend von hier weg. Auch wenn Chris gerade alles andere als lebendig aussieht, kann ich ihn nicht hierlassen. Ich kann nicht zulassen, dass man seinen Körper beerdigt! Irgendwie hole ich ihn ins Leben zurück, ich muss auf die Worte der Kräuterfrauen vertrauen! Vielleicht kann ich irgendeinen Zauber wirken, um ihn zurückzuholen! Aber erst einmal, muss er aus diesem Sarg raus!
„Du musst hier raus“, flüstere ich, drücke noch einen Kuss auf Chris´ Fingerknöchel und lege seine Hand zurück auf seinen Bauch. „Ich hole uns hier raus, warte…“
Ich gehe hinüber zur Tür und öffne sie leise. Erleichtert erkenne ich, dass finstere Nacht herrscht. Der Friedhof liegt friedlich da, vereinzelt brennen ein paar Kerzen in roten Gläsern auf einigen Gräbern. Der Wind bringt die verbliebenen Blätter in den Baumwipfeln zum Rascheln und der sichelförmige Mond spendet gräulichen Lichtschein, aus dem sich dunkle, geisterhafte Schatten erheben. Aus einigen der Gräber scheint bei näherem Hinhören ein flehendes Flüstern und Stöhnen zu kommen. Ich schüttle verwundert den Kopf und ein Schauer läuft mir über den Rücken. Aus weiter Entfernung mischt sich das Rauschen eines Automotors hinzu und übertönt für einen Moment die seltsamen Stimmen. Rasch husche ich wieder durch den Türspalt ins Innere der Kapelle und gehe zurück zu Chris, wo ich nun auch die untere Hälfte seines Sarges öffne.
Mein eigener Sarg liegt zerborsten neben seinem auf dem Boden und ich nutze meine Druidenmagie um das Kiefernholz zu reparieren. Es fällt mir erstaunlich leicht und binnen weniger Sekunden ist mein Sarg wieder ganz. Nun rufe ich das Element Luft herbei und spüre einen starken Luftstrom durch die offenstehende Tür in die Kapelle hineinwehen. Mit einem Ruck lasse ich die Luft unter den Sarg gleiten und hebe ihn somit an. Mein ausgestreckter Arm dirigiert das Element und weist es an, den Sarg zurück auf das mit Tüchern abgedeckte Podest zurückzustellen. Es rumst und die rechteckige Holzkiste steht wieder an seinem Platz.
Ich wedle mit der Hand und der unsichtbare Luftstrom huscht wie eine überdimensionale Schlange um Chris´ Sarg herum und verharrt hinter mir. Mit beiden Händen deute ich auf Chris´ Körper und hebe die Arme. Mit leisem Huschen gehorcht mir das Element und trägt meinen Gefährten sanft auf seinen Molekülen empor. Er schwebt aus dem Sarg hinaus – ein Anblick, der mir eine Gänsehaut beschert – und das Element wartet auf weitere Befehle von mir.
Durch die offene Tür der Kapelle dirigiere ich seinen schwebenden Körper hinaus und laufe hinterher. Es ist nicht einfach, die ganze Zeit die Konzentration zu halten, aber mein Körper steht so unter Spannung, dass ich es irgendwie schaffe. Ich blende die flehenden Geisterstimmen und ihre über die Gräber kriechenden Schatten aus und beschwöre weiter das Element Luft.
Gerade als ich mit Chris nach links über den Friedhof, die Felder und zurück zum Wald gehen will, sehe ich im Augenwinkel auf dem Parkplatz rechts von der Kapelle einen kleinen Laster stehen. Auf seiner Ladefläche liegen eine Schubkarre und diverse Gartenwerkzeuge. Ich vermute, dass es sich um den Wagen des Friedhofsgärtners handelt und halte einen Moment inne.
Dann entscheide ich mich schließlich und lenke den Luftstrom samt meines Gefährten zum Wagen. Die Chance entdeckt zu werden ist geringer, wenn ich diesen Wagen klaue und damit verschwinde, anstatt mit einem schwebenden Mann über Friedhöfe und Felder zu spazieren.
Es tut mir in der Seele weh, Chris auf der schmutzigen Ladefläche abzuladen, aber es geht leider nicht anders. Rasch lade ich die Schubkarre, die Harken und Schaufeln ab und nutze danach meine Magie um das Schloss zu knacken.
Zwar habe ich noch nie einen Motor mit meiner Magie gestartet, aber es wird schon irgendwie gehen. Ich steige in das nach abgestandenem Zigarettenrauch stinkende Führerhaus ein, presse die Handfläche auf die Zündung und lasse einen magischen Blitz los. Der Motor heult auf und ich ziehe die Hand weg, als dünne Rauchschwaden emporsteigen und sich der Geruch von verkohltem Plastik ausbreitet. Ratternd und gluckernd beruhigt sich die Mechanik langsam. Ich lege den Rückwärtsgang ein und lenke den Wagen vom Parkplatz.
Chris´ lebloser Körper kullert in jeder Kurve zur Seite und macht bei jedem Schlagloch einen Satz. Ich zucke wieder und wieder zusammen und rede ihm gut zu, auch wenn er mich wahrscheinlich eh nicht hören kann.
Als wir den Waldrand erreicht haben, fahre ich den Wagen ein Stück hinein und stelle ihn zwischen Bäumen und Büschen ab, bevor ich ihn absichtlich abwürge, damit der Motor zum Stillstand kommt. Dann springe ich aus dem Führerhaus und renne zur Ladefläche. Chris liegt mit ausgebreiteten Armen dort, den Kopf leicht schräg und zur Seite gerollt, die Lippen geöffnet. Ein elendiges Wimmern entwischt mir bei diesem Anblick, was ein paar der umliegenden Tiere hochschrecken lässt und die schlafenden Vögel in den Bäumen aufweckt. Sie stimmen mit schnatternden Warnrufen in mein Klagelied ein und fliegen davon.
Ich stelle einen Fuß auf den Hinterreifen und ziehe mich am Rand der Ladefläche hoch. „Chris, mein Liebling“, flüstere ich und lehne mich zu ihm herüber. Ich merke erst, dass ich immer noch oder schon wieder weine, als meine Tränen auf die rostige Metallfläche tropfen. „Warum wachst du nicht auf? Chris!“
Meine zitternden Finger tasten hilflos seine Brust, den Hals und sein Gesicht ab. Ich traue mich nicht, nach einem Puls zu fühlen, denn ich glaube, ich würde auseinanderfallen und innerlich zerbrechen, sollte ich keinen fühlen.
Irrt seine Seele in seinem persönlichen Limbus umher? Findet er den Ausweg nicht, weil ihm keine Geisterhexen zur Seite stehen? Oder hatten die sieben Hexen unrecht und der Unversehrtheitszauber geht doch nicht auf Gefährten über?
Auf all diese Fragen kenne ich die Antwort nicht, es gibt nur einen, der mir jetzt noch helfen kann: Roberta!
Ich steige wieder vom Wagen, rufe das Element Luft herbei und lasse damit Chris´ Körper ein weiteres Mal aufsteigen und schweben. Dann renne ich mit ihm durch den dunklen Wald, der kräftige Luftstrom folgt mir, samt Chris, und schiebt mich ebenfalls an. Ich renne und renne, lenke Chris zwischen Baumstämme hindurch und nähere mich dem Hünengrab von der westlichen Seite. Als wir es endlich erreicht haben, dirigiere ich den Luftstrom so, dass er Chris sanft davor ablegt. Ich flüstere ein Dankeschön und entlasse das Element, welches mit einem lauten Sausen durch die Baumwipfel entschwindet. Ich lege die Arme um Chris´ breiten Brustkorb, strecke ein Bein aus, sodass mein Fuß unter dem großen Deckstein steht und die magische Teleportation beginnt.
Wir taumeln durch Raum und Zeit und ich ziehe Chris dichter in dieser Schwerelosigkeit an mich. Dann verzieht sich die Schwärze und wir landen auf einer sattgrünen Waldlichtung. Chris´ schwerer Körper liegt auf meinen Beinen und ich habe große Mühe, seinen Oberkörper weiter aufrecht zu halten. Sein Kopf wackelt und kippt leblos zur Seite, seine Augen sind weiterhin geschlossen.
„Roberta!!!“, schreie ich so laut, dass die umstehenden Bäume erzittern. Meine Panik muss meiner Stimme einen magischen Verstärker verliehen haben, denn mein Ruf klingelt selbst in meinen eigenen Ohren noch nach.
Enten fliegen schnatternd empor, ein paar Krähen stoben aus den Baumwipfeln krächzend in die Höhe und dann ertönt ein Fingerschnippen und meine Tante erscheint vor mir im knöchelhohen Gras.
Ihre Augen werden groß und blicken von mir zu Chris und wieder zurück. „Kindchen! Was ist geschehen?“, fragt sie voller Bestürzung, sackt auf die Knie und legt eine Hand auf Chris´ Brustkorb und die andere auf meine Schulter.
Noch bevor ich antworten kann, teleportiert sie uns fort und im nächsten Augenblick befinden wir uns in einem großen Zimmer mit Wänden aus grauen Felsblöcken. Ich sitze mit Chris auf einem hochflorigen Perserteppich mit Blick auf ein altmodisches Himmelbett mit Kissen und Decken aus rotgoldenem Brokat.
Roberta richtet sich auf, breitet die Arme aus und lässt Chris sanft emporschweben. „Was ist passiert?“, fragt sie erneut, während sie mit einer Handbewegung magisch die Decken zurückschlägt und ihn auf der Matratze ablegt.
Schluchzend stehe ich auf, japse nach Luft und bekomme kein richtiges Wort heraus. „Er… Wir… Er ist tot!“ Ich gehe um das Bett herum, krabble darauf und nehme seine schlaffe Hand in meine. „Die Libelle… Ebraxas hat uns erschossen!“
Das Gesicht meiner Tante wird bleich und sie klatscht zweimal in die Hände. Ein seltsamer Ausdruck huscht über ihre Augen und ihre Stirn kräuselt sich. Dann öffnen sich zwei große Holztüren im Raum und vier junge Frauen in schwarzen Kleidern mit weißen Schürzen kommen herein.
„Untersucht ihn nach Wunden und versorgt sie“, befiehlt Roberta in scharfem Ton und zeigt auf Chris. Dann schnippst sie wieder mit ihren Fingern und sieht mich an. „Was immer mit ihm los ist, ich lasse seine Zeit stillstehen. Wir müssen herausfinden, was er hat, dann werden wir ihn behandeln.“
Aus tränenverschleiertem Blick schaue ich auf meinen Gefährten, dessen Kopf tief in den mit goldenen Fäden durchzogenem Kissen liegt. „Ebraxas hat ihn erschossen“, wimmere ich nach Luft schnappend. „In die Stirn. Sein Hinterkopf…“ Ich kann nicht weitersprechen.
Zwei der Dienstmädchen beginnen seinen Kopf, die Schultern und seinen Brustkorb abzutasten. Ich spüre die Magie aus ihren Händen fließen, es sind Heilerinnen. Die beiden übrigen Frauen beginnen seine Beine abzutasten.
„Lass sie ihre Arbeit machen, Scarlett“, höre ich die Stimme meiner Tante nun hinter mir und drehe mich zu ihr um, ohne Chris´ Hand loszulassen. „Seine Zeit steht still, sein Zustand wird sich also nicht weiter verschlimmern.“
Ich zögere und schaue auf die Fingerspitzen die über den Körper meines Gefährten tanzen.
„Sie untersuchen ihn, registrieren jede Wunde und jede Verletzung, damit wir sie anschließend heilen können. Steh ihnen nicht im Weg, Kindchen. Lass uns nach unten gehen, da kannst du mir genau erzählen, was geschehen ist.“
Ihre Stimme ist so liebevoll und geduldig, dass ich mich schließlich überreden lasse und mit ihr mitgehe.