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Kapitel 4

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„Ich weiß auch nicht woran es liegt. Die Karten verraten mir nichts über deine Mutter. Ich bekomme immer wieder nur unsinnige Kombinationen, die keinen Sinn ergeben“, sagt Naomi mit enttäuschter Miene, als ich ins Haus zurückkehre. „Sowas habe ich noch nie erlebt.“

Ich blicke über die Tarotkarten, die den halben Esstisch einnehmen. Der Gehängte, der Magier, Rad des Schicksals, König der Stäbe. All das sagt mir nichts. „Ist schon okay. Du hast es versucht, danke dafür.“

Sie seufzt, zuckt mit den Schultern und schiebt die Karten zusammen. „Aber ich nehme sie mit, falls wir unterwegs nochmal draufschauen wollen.“

„Wir sollten uns beeilen, meine Wächter sagen mir, dass die ersten Druiden schon ganz in der Nähe sind“, ruft Kitty uns aus der Küche zu und hievt die volle Reisetasche mit Snacks auf die Kücheninsel. „Wenn wir noch vor ihrer Ankunft von hier wegwollen, dann müssen wir in den nächsten fünfzehn Minuten los.“

Ich nicke ihr zu und spurte nach oben zu Chris ins Schlafzimmer. Auf dem Bett liegt ein offener Koffer, in den mehrere Jeans, Hemden, Socken und ein Stapel Unterwäsche ordentlich hineingepackt wurden. Chris steht vor dem offenen Kleiderschrank und blickt suchend hinein.

„Wir müssen uns beeilen. Die Druiden sind bald da“, lasse ich ihn wissen und husche an ihm vorbei zu meinem eigenen Schrank. „Stell dir vor, ich habe es tatsächlich geschafft, Darius diese magische Kraft zu verleihen, Chris! Es war eigentlich ganz einfach. Ich brauchte nur etwas Druidikum und dann habe ich seine Seele berührt.“

Während ich rede, werfe ich ein paar T-Shirts, zwei Strickjacken und zwei Hosen aufs Bett, wo Chris sie nun etwas hastiger und weniger ordentlich in den Koffer packt.

„Ich konnte seine Seele richtig sehen, Chris! Sie sieht aus, wie ein vernarbter Nebel mit dunklen Klecksen und Tupfen! Das kannst du dir nicht vorstellen, seine ganze Persönlichkeit war in diesem Seelennebel zu erkennen: Seine Neutralität, sein Mitgefühl und auch sein Ehrgeiz. Es war unglaublich!“

Ich renne an ihm vorbei ins Bad, hole eine Kosmetiktasche aus dem Unterschrank und stopfe nur das Nötigste hinein: Zahnbürste und Zahncreme, Mascara und Kajal, einen Lippenpflegestift und Waschzeug.

„Und als ich fertig war, sollte er diesen Schutzkreis aus Lianen machen. So einen, wie Randolf ihn auch gemacht hat. Aber zuerst waren da nur Blätter und Äste, keine Magie, weißt du?“, rufe ich zu ihm ins Schlafzimmer herüber und ziehe ein paar Handtücher für uns beide aus dem Regal. „Doch dann hab´ ich zu ihm gesagt, dass er an die Elemente denken soll. Und dann kam da plötzlich dieses magische Leuchten.“

Ich halte inne und warte auf eine Reaktion von Chris, doch er bleibt stumm, also gehe ich mit unseren Utensilien beladen zurück ins Schlafzimmer. Er steht mit dem Rücken zu mir gewandt am Bett und wickelt ein Ladekabel auf, um es in einem Seitenfach des Koffers zu verstauen.

„Hast du gehört?“, frage ich und komme an seine Seite.

„Hmm-Hmm“, murmelt er und ich bemerke seinen mürrischen Gesichtsausdruck.

„Was ist los? Ist alles okay?“ Ich lege die Sachen ab, umfasse seine Schultern und zwinge ihn, sich mir zuzuwenden. „Was hast du?“

Aus schmalen Augen sieht er mich an, eine tiefe Zornesfalte thront über seiner Nasenwurzel. „Ich habe mich verwandelt, um durch den Wald in den Nachbarort zu rennen. Aber es war anders.“

Verwirrt blinzle ich ihn an. „Wie meinst du das? Was war anders?“

Er spannt die Muskeln seiner Arme an und formt die Hände zu Fäusten. „Ich hatte Pfoten, richtige Pranken! Wie ein typischer Werwolf, Scarlett!“

Ich sauge scharf die Luft ein. „Was? Nein, das kann nicht sein! Deine Familie hat seit Generationen keine Pfoten mehr!“

Er zieht eine Augenbraue hoch. „Das weiß ich selbst!“, sagt er und beginnt mit dem Kopf zu schütteln. „Wir Belgers haben keine Pfoten, keine spitzen Ohren, keine Schnauze und keine Rute mehr! Und das seit vielen Generationen. Doch nun habe ich plötzlich wieder Pfoten!“

Ich nehme seine wild gestikulierenden Hände in meine und halte sie fest. „Wie ist das möglich?“

„Keine Ahnung! Meine Vorfahren haben seit Jahrhunderten Dämonen im Auftrag des Vatikans getötet, um den Werwolffluch loszuwerden. Wir sind Mannwölfe, doch nun habe ich Pranken wie ein Werwolf, wenn ich mich verwandle!“

Mein Blick gleitet auf seine riesigen Hände in meinen und ich kann mir gar nicht vorstellen, dass diese Hände zu Pfoten werden könnten. Wenn er sich verwandelt, sind sie von kurzem, weichen Fell bedeckt, mehr aber auch nicht. Ich weiß wieviel ihm, seiner Schwester Bianca und seinen verstorbenen Eltern daran lag, den Werwolffluch loszuwerden. Daher ja auch der Pakt mit dem Vatikan und die lange Geschichte der Belger-Dämonologen. Chris führt die Arbeit seiner Eltern fort, damit seine Nichte Riva und alle ihre Nachkommen noch weniger unter dem Fluch zu leiden haben. Und nun soll das, wofür ein Mannwolf ein ganzes Leben lang Dämonen getötet hat, umsonst gewesen sein?

„Ich verstehe das nicht“, gebe ich zu und schüttle den Kopf.

Chris nimmt seine Hände aus meinen, dreht sich mit einem Schnauben zum Bett und wirft den Deckel des Koffers zu. „Ich auch nicht!“, knurrt er. „Am liebsten würde ich sofort mit dem obersten Exorzisten des Vatikans sprechen und ihn fragen, was er dazu zu sagen hat!“

„Das sollten wir tun, auf jeden Fall“, stimme ich ihm zu und gehe schon im Kopf die Route durch. Von der Küste nach Frankreich und danach zum Vatikan. „Du könntest auch mit Roberta sprechen. Vielleicht weiß sie etwas? Außerdem stellt sich die Frage, ob es nur dir, der ganzen Belger-Familie oder gar allen Mannwölfen so geht wie dir.“

Seine Augen werden größer. „Bianca! Ich muss mit Bianca sprechen. Ich muss wissen, ob es ihr auch so ergeht.“

Ich nicke und blicke auf meine Uhr. „Laut Kitty müssen wir in zehn Minuten verschwinden, wenn wir noch vor den ankommen Druiden weg sein wollen.“

Chris zieht sein Handy aus seiner Hosentasche, geht auf die Fensterfront mit Blick auf den See zu und wählt Biancas Nummer. Ich werfe unsere restlichen Sachen in eine Reisetasche und gehe zurück ins Erdgeschoss, um Chris die Ruhe für das Gespräch zu gönnen, die er braucht.

Am Fuß der Treppe angekommen, begegne ich Dahlia und Falk, die von ihrem Spaziergang zurück sind und gerade zur Haustür hereinkommen. Verwirrt und ein wenig verlegen zugleich schauen sie sich in diesem Chaos um, während Kitty mit wallenden Gewändern und bis unter die Arme beladen an ihnen vorbeirauscht.

Falk sucht meinen Blick. „Wir wollen nicht stören, es scheint, als habt ihr alle Hände voll zu tun.“

Auch wenn ich mich eigentlich beeilen muss, nehme ich mir ein paar Minuten Zeit, um mit den beiden zu besprechen, wie es nun weitergehen soll. Mit wenigen Worten kläre ich sie darüber auf, dass Heerscharen von Druiden hierher unterwegs sind, damit ich sie ebenfalls zu Druidenhexen mache, und das wir deswegen schnell wegmüssen, da mir die Suche nach meiner verschwundenen Mutter momentan wichtiger ist.

„Wenn ihr wollt, könnt ihr hierbleiben“, sage ich und zucke mit den Schultern. „Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs sein werden und was ihr so vorhabt, nun da ihr in Freiheit seid. Aber bevor ihr draußen oder auf der Straße schlaft, könnt ihr stattdessen gerne weiter unser Gästezimmer benutzen.“

Falk schüttelt mit dem Kopf. „Danke, ich weiß deine Gastfreundschaft wirklich zu schätzen, Scarlett, aber du hast schon genug für uns getan.“ Er blickt über seine Schulter zu Dahlia. „Wir haben viel zu bereden, da ihre Erinnerungen an die Libelle nicht mit meinen übereinstimmen. Außerdem wollen wir nach unseren Freunden von früher sehen, die sich damals nicht der Libelle angeschlossen haben.“

Da ich so kurz angebunden bin, kläre ich sie nicht darüber auf, dass ich die Vergangenheit mithilfe des Dschinns verändert habe und Dahlia deshalb wahrscheinlich andere Erinnerungen an ihre Zeit innerhalb der Libelle hat. Stattdessen nicke ich verständnisvoll und ziehe eine meiner Visitenkarten aus meiner hinteren Hosentasche. „Okay. Hier ist meine Nummer. Ruf an, wenn irgendwas ist, okay?“

Falk nimmt sie mir ab und lächelt. Dann breitet er die Arme aus und zieht mich zu sich. „Ich danke dir für alles, Scarlett“, sagt er und klopft auf meinen Rücken.

„Los, los! Wir haben keine Zeit für Sentimentalitäten!“, unterbricht Kitty unsere Umarmung. „Chris, bist du soweit? Wir müssen los! Naomi, hast du alles?“

„Lasst euch so viel Zeit, wie ihr braucht. Und wenn ihr geht, zieht ihr einfach die Haustür hinter euch zu, okay?“

Falk nickt und Dahlia lächelt mir hinter seiner Schulter zu. „Passt auf euch auf“, sagt er noch, dann verschwinden die beiden nach oben.

Wenige Minuten später sitzen wir im vollbeladenen Bulli und verabschieden uns von Darius. Er steht vor dem heruntergelassenen Beifahrerfenster und stützt den Arm auf seinem Druidenstab ab.

„Bleib nicht so lange weg, Scarlett. Sie werden nach all den Jahren des Wartens ungeduldig sein“, rät er mir und schnuppert in der Luft als könne er Seinesgleichen schon ganz in der Nähe riechen.

„Wenn sie Jahre gewartet haben, dann werden ein paar Tage mehr wohl nichts mehr ausmachen“, sage ich und hoffe, dass es stimmt.

„Nun fahr los, Chris!“, ruft Kitty von der Rücksitzbank aus und klopft auf die Lehne des Fahrersitzes.

Darius tritt einen Schritt zurück und senkt den Kopf zum Abschied. Ein schwaches schwarzes Leuchten ist auf seiner sternförmigen Skalpnarbe zu sehen und ich schaue rasch zu Chris, um mich zu vergewissern, dass er es auch gesehen hat. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hat er das dunkle Leuchten ebenfalls gesehen. Er zieht die Augenbrauen hoch und sieht mich fragend an, doch ich kann nur mit den Schultern zucken.

Chris schaltet in den ersten Gang, tritt aufs Gaspedal und lenkt den Bulli auf den schmalen Waldweg. Naomi, Kitty und ich schauen allesamt schweigsam aus dem Fenster und suchen den dichten Wald nach Anzeichen von Druiden ab, doch zum Glück sind sie noch nirgends zu sehen. Als wir den Wald verlassen und hinaus auf die Landstraße fahren, die zwischen unzähligen Feldern verläuft, möchte ich erst erleichtert aufatmen, doch dann sehe ich, worauf Naomi schon mit ihrem Finger zeigt: Auf dem schmalen Pfad zwischen einem Kornfeld und einem Maisfeld laufen sie. Hunderte Druiden, alle in beige-braune Leinenkutten gekleidet, die Kapuzen über die Köpfe gezogen, marschieren im Gleichschritt gen Süden, Richtung unseres Hauses. Die Schlange scheint kein Ende zu nehmen.

Chris geht vom Gas und lässt den Wagen ausrollen. Er ist genauso überwältigt von diesem Anblick, wie wir alle. Noch nie haben wir so viele Druiden auf einmal gesehen.

Doch dann besinnt Chris sich und gibt wieder Gas. Kurz bevor der anführende Druide die Straße erreicht, rauschen wir an ihnen vorbei. Kitty, Naomi und ich drehen uns um und beobachten die Schlange aus der Heckscheibe heraus. Einige Druiden heben den Kopf und blicken aus den dunklen Öffnungen ihrer Kapuzen in unsere Richtung. Mein Herz zieht sich ängstlich zusammen und leichte Übelkeit steigt in mir hoch. Wissen sie, dass ich in diesem Wagen sitze? Woher wussten sie überhaupt, wo ich wohne? Und wer hat ihnen erzählt, dass ich nun in der Lage bin, meine Magie auf sie zu übertragen?

Wie auch immer sie an ihre Informationen kommen, ich kann nur hoffen, dass sie uns nicht bis zu Elvira oder gar ganz nach Frankreich folgen!

Der Beginn der langen Fahrt wird von bedrückender Stille untermalt. Jeder von uns scheint in seine eigenen Gedanken vertieft zu sein, und Kitty lauscht wahrscheinlich ungeniert jedem gedachten Wort. Je mehr wir uns von unserem Wald entfernen, umso häufiger sehe ich dunkle Schatten am Straßenrand aufblitzen. Sie huschen über die Straße, oder lauern hinter Baumstämmen am Feldrand, um dem Bulli hinterher zu starren. Ich reibe mir die Augen und schüttle den Kopf, als könnte ich sie damit vertreiben, doch im nächsten Moment tauchen schon wieder welche auf und kriechen wie halbseits gelähmte Seelöwen über die Straße. Chris überfährt sogar einige von ihnen, zeigt jedoch keine Reaktion dabei und der Bulli ruckelt ebenfalls nicht. Seufzend lehne ich meinen Kopf zurück und betrachte die vorbeiziehenden Wolken, denn dort oben sind wenigstens keine Schatten zu sehen. Was hat es mit diesen dunklen Nebelschwaden nur auf sich? Und warum sehe ich sie und scheinbar niemand sonst?

Die seltsame, körperlose Stimme, die ich gestern Abend auf dem Friedhof gehört habe, kommt mir wieder in den Sinn: „Sei gewarnt, Hexenkind, wenn eine Seele ins Leben zurückkehrt, tut sie das nicht, ohne etwas aus dem Limbus mit hinüberzunehmen“. Nur ich konnte sie hören, Chris nicht. Sprach sie von den Schattenwesen, die ich nun überall lauern sehe? Ist es das, was ich aus dem Limbus mitgenommen habe?

Wieder schüttle ich mit dem Kopf. Diese ganze Grübelei führt zu nichts. Ich könnte natürlich Kitty fragen, was sie davon hält, dass ich nun überall diese Schatten sehe. Sie ist immerhin ein Medium, vielleicht sieht sie sie ebenfalls. Doch es gibt im Moment Wichtigeres, um das wir uns kümmern müssen. Es reicht schon, dass sie und Naomi uns bei der Suche nach meiner Mutter unterstützen, ich will sie nun nicht mit diesen Schattenkreaturen beunruhigen. Außerdem bin ich nicht die einzige, für die sich etwas verändert hat, seitdem wir von den Toten auferstanden sind!

„Was hat Bianca eigentlich gesagt?“, frage ich an Chris gewandt und drehe mich im Sitz weiter in seine Richtung.

Seine Hände umklammern das Lenkrad noch ein wenig fester, sein Blick bleibt weiterhin starr auf die Straße gerichtet. „Bei ihr ist alles in Ordnung. Ihre Verwandlung ist wie gehabt, keine Veränderungen.“

„Das… Das ist doch gut, oder?“

Er presst die Lippen aufeinander und ich sehe schon wieder diese tiefe Zornesfalte zwischen seinen Augenbrauen. „Einerseits ja. Andererseits frage ich mich, was ich getan haben soll, um diese Bestrafung zu verdienen.“

Jede mögliche Antwort bleibt mir im Halse stecken. Er sieht es als Bestrafung an, dass er nun wieder Pfoten hat, sobald er sich verwandelt. Was, wenn es wirklich eine Strafe ist? Ich sehe diese Schatten und er wird einen Schritt in seiner Mannwolfentwicklung zurückgeschleudert. Ist das die Strafe dafür, dass wir den Tod überlistet haben?

Ein seltsames Zischen unterbricht meine Gedanken und ich drehe mich zu seinem Ursprung nach hinten um. Zwischen Naomi und Kitty erscheint schwarzer Nebel, der die Gestalt eines großgewachsenen, halbnackten Mannes mit Ziegenbart annimmt. Der Dschinn!

Naomi kreischt und weicht zur Seite, Kitty jedoch bleibt kühl und gelassen, besieht sich den riesigen Dschinn von oben bis unten. Chris blickt in den Rückspiegel und vor Schreck reißt er kurz am Lenkrad, sodass der gesamte Bulli ins Ruckeln kommt. Dann flucht er und bringt ihn wieder sicher in die Spur.

„Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Meisterin.“

„Du hast ihn mitgenommen?“, unterbricht Chris die dunkle Stimme des Dschinns und blickt finster zu mir herüber.

„Nein! Ich habe die Lampe im Haus gelassen! Ich weiß auch nicht, warum er jetzt hier ist“, verteidige ich mich und gebe den finsteren Blick an den Dschinn weiter. „Was willst du hier?“

„Du hast einen Dschinn?“, will Naomi nun wissen. Sie presst sich gegen die Schiebetür, um so viel Abstand wie nur eben möglich zwischen sich und den Dschinn zu bringen. „Davon hattest du gar nicht erzählt!“

„Sie hat ihn wohl vergessen, sie hat nämlich den ganzen Morgen noch nicht an ihn gedacht!“, meldet Kitty sich jetzt zu Wort und sieht den Dschinn an, als widere seine mattschwarze Erscheinung sie an.

Der Dschinn räuspert sich. „Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Meisterin“, wiederholt er seine Worte. „Du hast noch zwei Wünsche frei. Wünsche dir deine Mutter zurück und dass dein Gefährte seine Pfötchen loswird. Dann wären all deine Probleme gelöst und du wärst mich los.“

„Auf keinen Fall!“, zische ich wütend nach hinten. „Wie kommst du überhaupt hierher? Deine Lampe ist noch immer im Haus. Was willst du hier?“

Er kreuzt die muskulösen Arme vor der massiven Brust und verzieht einen Mundwinkel spöttisch nach oben. „Meisterin, du brauchst die Lampe nicht mit dir herumzuschleppen, um mich in deiner Nähe zu wissen. Wir sind aneinander gebunden, bis du all deine Wünsche ausgesprochen hast. Wo immer du hingehst, dort werde ich auch sein. Und meine Lampe ist nicht mehr in eurem Haus, sondern in eurem Koffer.“

„Du hast dir schon was gewünscht?“, fragt Naomi.

Ich versuche den vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme und die Enttäuschung in ihrem Blick zu ignorieren. „Es ging nicht anders“, gebe ich zu und seufze. „Das ist eine lange Geschichte, aber glaube mir, ich hätte es nicht getan, wenn es einen anderen Ausweg gegeben hätte.“

„Nenne mir deinen nächsten Wunsch“, fordert der Dschinn mich auf.

„Nein! Verschwinde in deiner Lampe und lass uns in Ruhe. Ich rufe dich schon, wenn ich dich brauchen sollte!“

Langsam schüttelt er mit dem Kopf. „So funktioniert das nicht.“

Ich rolle mit den Augen. „Ich habe jetzt noch keinen Wunsch, also lass mich in Ruhe!“

Die Augen des Dschinns werden zu schmalen Schlitzen und ein dämonisches Grollen kommt aus seiner Kehle, das sich in ein immer lauter werdendes Donnern verwandelt. Seine Konturen verschwimmen, er löst sich in Nebel auf, der den ganzen Innenraum des Wagens einnimmt, bevor ein lauter Knall ertönt und er endlich verschwindet.

„Scheiße, was war das denn?“ Naomis Stimme zittert. „Das ist aber kein netter Dschinn.“

„Dschinns sind niemals nett“, sagt Kitty und wedelt mit der Hand vor ihrem Gesicht, als wäre dort immer noch der schwarze Nebel, der uns die Luft zum Atmen nimmt. „Aber dieser hier ist wirklich extrem unsympathisch.“

Langsam drehe ich mich wieder nach vorne um. Chris sieht verstimmt aus. Mit zusammengepressten Lippen lenkt er schweigend den Wagen über die Landstraße Richtung Autobahn. „Es tut mir leid“, sage ich in dem kläglichen Versuch mit diesen vier Worten wieder alles zu bereinigen, auch wenn ich weiß, dass dadurch der Dschinn nicht für immer verschwindet und Chris auch nicht die Pfoten bei der Verwandlung wieder loswird.

Er nickt, ohne den Blick von der Straße zu nehmen und greift nach meiner Hand, die in meinem Schoß liegt. Er drückt sie an seine Lippen und gibt einen Kuss auf meine Fingerknöchel.

„Ich überlege mir was, versprochen. Irgendwie werde ich diesen verfluchten Dschinn wohl wieder los, ohne schlimme Konsequenzen. Und was deine Verwandlung betrifft…“, sage ich und drücke seine Hand. „Wir werden der Sache auf den Grund gehen, Chris. Koste es, was es wolle. Und wenn ich zum obersten Exorzisten persönlich gehen muss, um das zu regeln, dann mach ich das!“

„Ich weiß“, murmelt Chris und schenkt mir ein halbherziges Lächeln. „Konzentrieren wir uns jetzt lieber auf deine Mutter und was mit ihr geschehen sein könnte, in Ordnung?“

Ich lächle zurück und nicke, doch auch mein Lächeln ist kein ehrliches. Mit Naomi und Kitty im Nacken mag ich ihn nicht zu einem offenen Gespräch drängen, obwohl es genau das ist, was wir nun bitternötig hätten. Es ist offensichtlich, dass es ihn sehr beschäftigt, dass er bei seiner Verwandlung wieder Pfoten hatte. All die Dämonen, die er und seine Vorfahren getötet haben, haben ihn zu dem Mannwolf gemacht, der er bislang noch war. Er war immer so stolz darauf, wie weit die Belger-Wölfe schon waren und wie wenig sie noch einem echten Werwolf ähnelten. Wenn er den Rückschritt nun als Bestrafung ansieht, was glaubt er dann, was sein Vergehen war? Zu Sterben und wieder aufzuerstehen? Oder denkt er, dass er dafür bestraft wird, mit einer halbdunklen Hexe zusammen zu sein?

„Wir fahren nun also erst zu Elvira, habe ich das richtig verstanden?“, unterbricht Kitty meine Gedanken und tippt mir dabei auf die Schulter.

Ich räuspere mich und schiebe das ungute Gefühl in meiner Brust beiseite. „Ja, genau. Wir fragen bei Elvira nach, was genau geschehen ist, bevor Mama verschwand. Vielleicht erreiche ich auch mit meinem Pendel vor Ort genauere Ergebnisse. Naomi kann dort auch nochmal die Karten legen und du könntest deine Fühler ausstrecken und sehen, ob du noch irgendwelche Hinweise bekommen kannst.“

„Wir haben echt nicht viele Hinweise“, sagt Naomi, die sich offenbar von dem Schock, einen Dschinn neben sich sitzen zu haben, erholt hat. „Wenn die Karten bei Elvira wieder nichts Brauchbares liefern, haben wir beinahe nichts.“

Kitty sieht Naomi aus ihren violett schimmernden Augen streng an. „Nun mal nicht so negativ, kleine Schamanin. Wo bleibt dein Optimismus?“

Naomi zieht eine Schnute und zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht… Vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, den Dschinn um Hilfe zu bitten. Immerhin bist du ihn dann los und hättest deine Mutter wieder.“

„Das kann doch nicht dein Ernst sein. Hat man dir auf deiner Schamanenschule nicht beigebracht, wie Dschinns funktionieren?“, faucht Kitty sie an und schüttelt mit dem Kopf. „Dschinns haben nichts Gutes im Sinn! Drei Wünsche bei ihnen frei zu haben, ist ein Fluch und kein Segen! Denn jeder Wunsch geht kategorisch nach hinten los! Deshalb sollte man niemals, wirklich niemals, eine Dschinn-Lampe berühren!“

„Was hast du dir gewünscht?“, will Naomi nun wissen, scheinbar unbeeindruckt von Kittys lautstarkem Ausbruch.

Ich kann ihr nicht in die Augen sehen und blicke stattdessen auf meine Fingernägel. „Was ich mir gewünscht habe?“, wiederhole ich ihre Frage, um Zeit zu schinden.

„Ja. Wozu hast du deinen ersten Wunsch verwendet, Scarlett?“, hakt Kitty nun ebenfalls nach.

„Ich… Ich habe mir gewünscht, dass der schwarze König niemals Kontakt mit der Libelle aufgenommen hätte.“

Nun ist es raus. Mit klopfendem Herzen warte ich ihre Reaktionen ab.

„Hmm… Gar nicht mal so unklug“, sagt Kitty. „Und warum hast du dir gerade das gewünscht?“

„Ebraxas´ Soldaten hatten Chris gefangen genommen und wollten uns beide hinrichten lassen. Irgendwie ist mir dann klargeworden, dass die Libelle nur zu diesem furchtbaren Ort geworden ist, weil mein Vater seine Finger mit im Spiel hatte. Er hat Ebraxas als Kind seine Magie gestohlen, von ihm stammen all die Folterinstrumente und viele ihrer schlimmsten Dämonen haben sie von ihm bekommen. Ich dachte, wenn er vielleicht nie dort gewesen wäre, wäre Ebraxas ganz anders aufgewachsen und hätte sich nie zu dem machthungrigen Mann entwickelt, der er letztendlich war.“

„Hat es funktioniert?“, will Naomi wissen.

„Ich glaube schon“, antworte ich. „Nachdem ich meinen Wunsch ausgesprochen habe, haben die Soldaten Chris und mich losgelassen. Es war, als erwachten sie aus einer Art Hypnose, oder so ähnlich. Alles Prunkvolle verschwand aus dem Inneren der Libelle und Ebraxas Magie kehrte zu ihm zurück. Von den unterirdischen Kerkern wusste plötzlich keiner mehr was…“

Das Bild meiner am Boden hockenden Mutter überlagert meine Gedanken und lassen mich für einen Augenblick verstummen.

„Deine Mutter war in diesem Kerker?“, ruft Kitty geschockt aus.

„Was? Wie… Oh, hast du es in ihren Gedanken gesehen? Ella war im Kerker der Libelle?“ Naomi schlägt die Hand vor ihren Mund und reißt die Augen auf.

„Ja, ich habe sie gesehen, wenn auch nur kurz. Aber sie war es, da bin ich mir ganz sicher.“

Ich muss schlucken und kann meine Tränen nur mit Mühe zurückhalten.

Kitty legt ihre zarte, kühle Hand auf meine Schulter. „Wir werden sie finden, Scarlett.“

Scarlett Taylor - Mitternacht

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