Читать книгу Tatort Hölderlinplatz - Stefanie Wider-Groth - Страница 8
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Eleonore Schloms drückte leise die Tür zu, durch deren Spalt sie bis gerade eben die Geschehnisse im Treppenhaus verfolgt hatte. Natürlich war auch ihr der unangenehme, süßliche Geruch nicht entgangen, der seit einem oder zwei Tagen aus Frau Diebolds Wohnung drang und sie hatte die entsprechenden Schlüsse gezogen, doch schien es ihr zweckmäßiger zu sein, nicht selbst aktiv zu werden. Eleonore, die auf einem dezent am Haus angebrachten Schild als „Madame Mercure“ firmierte, legte keinen besonderen Wert auf Kontakt mit den Vertretern der staatlichen Gewalt. Die beiden jungen Beamten, die ihre Personalien aufgenommen und sie nach ihrem Verhältnis zu Gertrud Diebold befragt hatten, waren harmlos und taten ihre Pflicht, ohne dabei eine unangebrachte Fantasie zu entwickeln. Einem erfahreneren Auge aber wäre wohl die exquisite Qualität ihrer Teppiche oder der Wert des einen oder anderen Kunstgegenstandes in ihrer sonst bewusst schlicht gehaltenen Wohnung aufgefallen. Im Schlafzimmer, dessen Tür stets offen stand, um Besuchern den Eindruck zu vermitteln, dass ein solches vorhanden war, gab es nur einfache Möbel von Ikea. Die Einrichtung des Wohnzimmers mit schwarzem Ledersofa, gläsernem Couchtisch, Bücherregal, Grünpflanzen und Fernseher war sorgfältig darauf bedacht, ein etwas kleinbürgerliches Ambiente auszustrahlen. Salzlampen, Duftkerzen, Tücher aus Indien und Holzfiguren aus Afrika wiesen auf Madame Mercures mystisch-esoterische Begabungen hin, die sie nur ausgesuchten Klienten zuteil werden ließ. Natürlich nicht gegen Geld. Für Madame Mercures Dienste revanchierte man sich mit einem „Geschenk“, über dessen Höhe der Klient selbst bestimmen durfte und für dessen Aufnahme ein Weidenkörbchen mit einem Deckel darauf bereitstand.
„Geben Sie mir, was Sie entbehren können und was ich Ihnen wert bin“, pflegte Madame Mercure am Ende einer Sitzung zu sagen. „Und vergessen Sie dabei nicht die kosmischen Regeln.“ An schlechten Tagen nahm Eleonore zwei- oder dreihundert Euro aus ihrem Körbchen, gute Tage dagegen brachten tausend Euro oder mehr. Das dritte Zimmer diente als sogenannter Vorbereitungsraum. Hier lag nur eine quadratische, flache Matratze am Boden, gedämpftes Licht und ebensolche Musik ermöglichten es dem Klienten, eine angemessene Zeit alleine zu meditieren, denn auch Eleonore benötigte Zeit für die profanen Dinge des Lebens, die Buchhaltung zum Beispiel oder das Erstellen eines Einkaufszettels. Sie tat nichts Illegales, keine Gewerbeordnung verbot es, Menschen die Karten zu legen oder die Bedeutung eines Schicksalsschlag mit einem Pendel zu erforschen, und dennoch befürchtete sie, auf dünnes Eis zu geraten. Sie hatte daher zugestimmt, einen gewissen Kommissar Emmerich am folgenden Tag um zehn Uhr in seinem Büro aufzusuchen und eine Aussage zu machen. Für heute hatte sie genug gehört, sie löschte die Kerzen, schaltete die Musik aus und machte sich auf den Weg zum Hausbesuch bei einer späten Kundin.
***
„Ich heiße übrigens Gitti“, sagte Hauptkommissarin Kerner, während sie flotten Tempos in Richtung Wilhelma preschte.
„Reiner“, brummte Emmerich. „Das ist der falsche Weg.“
„Keineswegs“, meinte sie fröhlich. „Vielleicht ist es weiter, dafür geht es schneller. Sie kennen doch die Staus auf der Heilbronner Straße.“
Klar, dachte Emmerich, deshalb bin ich ja mit der Straßenbahn ins Büro gefahren, ich Idiot. Laut sagte er:
„Wissen wir irgendwas über Ralph Diebold?“
„Polizeilich bekannt ist er nicht“, sagte Gitti. „Ich hab ihn gegoogelt. Ist aber nichts dabei herausgekommen.“
Emmerich sagte nichts. Er war kein Freund der neuen Medien, auch wenn sie sich in vielen Fällen als praktisch erwiesen. Seinetwegen musste niemand Leute kugeln, insbesondere dann nicht, wenn nichts dabei herauskam. Er behielt sein Schweigen bei, bis sie die Rotebühlstraße erreicht hatten und nach rechts in die Schwabstraße einbogen, räusperte sich und fragte:
„Wollen Sie es ihm sagen?“
„Eigentlich nicht. Ich hab so was noch nie gemacht. Ich dachte, ich gucke mal zu und lerne von Ihnen.“
„Von mir? Was glauben Sie, dass Sie da lernen können? Einfühlungsvermögen ist doch mehr was für Frauen.“ „Finden Sie? Bei Ihrer Erfahrung...?“
Emmerich warf ihr einen indignierten Seitenblick zu. Wollte sie ihn auf den Arm nehmen? Nein, sie schien es ernst zu meinen, konzentrierte sich auf den dichten Feierabendverkehr und hielt vor einer roten Ampel.
„Ist das Ihr erster Mord?“, fragte er vorsichtig. „Sie sind neu im Dezernat, oder?“
Sie sah ihn an und lächelte. „Ja. Ich war vorher bei der Dreiern. Wirtschaftskripo.“
„Wie schön für Sie.“ Nicht dass Emmerich etwas gegen Anfänger hatte, nur warum musste man sie ihm zuteilen? Gitti bog nach links ab und zählte leise die Hausnummern der Forststraße.
„Da ist es“, sagte sie und benötigte eine gute Viertelstunde, um in einiger Entfernung des angegebenen Hauses einen Parkplatz zu finden. Ralph Diebold wohnte im dritten Stock, wie seine Mutter. Hinter den Fenstern brannte Licht. Emmerich holte Luft und drückte auf den Klingelknopf. Der Türöffner summte und sie betraten ein dunkles Treppenhaus, in dem aber sofort Licht eingeschaltet wurde.
„Ich komm runter“, rief jemand, eilige Schritte näherten sich ihnen, dann stand ein Mann, der Mitte vierzig sein musste, aber jünger wirkte, in einem Morgenmantel aus silbergrauem Satin vor ihnen.
„Herr Diebold?“, fragte Emmerich.
„Sie sind doch nicht vom Pizzaservice?“, lautete die argwöhnische Antwort.
„Kripo Stuttgart. Wir müssen mit Ihnen reden.“
„Ich hab gerade überhaupt keine Zeit.“
„Es geht um Ihre Mutter“, sagte Gitti Kerner.
„Meine Mutter? Ist ihr was passiert?“
„Äh...“, Gitti geriet ins Stocken, und Emmerich übernahm wieder das Wort:
„Vielleicht könnten wir in Ihre Wohnung gehen?“
Ralph Diebold sah nervös von einem zum anderen. „Das ist jetzt schlecht.“
Emmerich beschloss, es hinter sich zu bringen.
„Herr Diebold, es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber ihre Mutter ist tot. Wir haben sie heute Nachmittag in ihrer Wohnung gefunden.“
„Näää“, sagte Ralph in einer Art, als entdecke er kurz vor dem Essen eine Ansammlung widerlicher Substanzen auf seinem Teller.
„Doch.“ Emmerich beobachtete das Mienenspiel seines Gegenübers mit Interesse, obwohl es ihm im Halbdunkel des Treppenhauses schwerfiel, sich ein Urteil zu bilden. „Wann hatten Sie das letzte Mal mit ihr Kontakt?“
„Mit meiner Mutter?“ Langsam wich der angewiderte Gesichtsausdruck einem ungläubigen Staunen.
„Gertrud Diebold“, sagte Gitti geduldig. „Das ist doch Ihre Mutter?“
„Schon. Was haben Sie gesagt... sie ist tot?“
Die Kommissare nickten einträchtig.
„Ach du Scheiße“, entfuhr es Ralph.
„Könnten wir vielleicht jetzt in Ihre Wohnung gehen?“, fragte Emmerich.
„In meine Wohnung?“
Emmerich wollte nicht unsensibel erscheinen, aber die Art, in der Ralph Diebold jedes seiner Worte fragend wiederholte, ging ihm auf die Nerven. Auf ihn wirkte der Mann mehr gereizt als schockiert, der Grund dafür offenbarte sich im selben Moment.
„Ralphieee“, flötete eine Stimme von oben. „Wo bleibst du denn?“
Diebold resignierte. „Kommen Sie mit.“
Oben wartete, bekleidet mit einem schwarzen Nichts, eine Frau, die Emmerich auf Mitte sechzig schätzte. Sie wich erschrocken in die Wohnung zurück, als sie ihn und Kerner erblickte. Ralph flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf sie auf dem Absatz eines lächerlichen Pantöffelchens mit einem rosa Puschel darauf kehrtmachte und in einem der beiden Zimmer verschwand. Ralph führte sie in das andere.
„Ich verstehe das nicht“, sagte er stirnrunzelnd. „Meine Mutter ist doch kerngesund.“
Jetzt nicht mehr, dachte Emmerich zynisch und fragte erneut: „Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt mit ihr?“
„Weiß ich gar nicht. Vor zwei Wochen? Vielleicht sind’s auch schon drei.“
„Sie sehen sich nicht regelmäßig?“
„Nein. Warum ist sie so plötzlich gestorben?“
„Es war kein natürlicher Tod“, fand Kerner die besseren Worte.
„Was soll das heißen?“
„Ihre Mutter wurde umgebracht.“
Endlich reagierte Diebold so, wie man es erwarten konnte. Er begann, am ganzen Körper zu zittern und ließ sich unsicher auf einen Sessel in Raubtieroptik sinken. Sie ließen ihm ein paar Minuten und setzten sich auf das gegenüberliegende, nicht weniger geschmacklose Sofa. Emmerich unterzog den Raum einer kurzen, routinierten Beurteilung. Das Mobiliar entsprach, sah man von Ralphs Vorliebe für Leopardenmuster ab, dem Üblichen. Es gab kaum Bücher, dafür reichlich DVDs, mehrere Pokale in unterschiedlichen Größen und Ausfertigungen, ein gerahmtes Poster von Michael Schuhmacher im Ferrari an der Wand und Automodelle im Regal. Auf dem Couchtisch stand eine angebrochene Flasche Wein neben zwei halbvollen Gläsern, dazwischen lag eine DVD-Hülle, deren Äußeres auf Pornografie schließen ließ. Offenbar hatten Ralphie und die Dame mit den puscheligen Pantöffelchen sich bei den Vorbereitungen für ein amouröses Abenteuer befunden. Emmerich hob beiläufig die DVD-Hülle an und registrierte den darunterliegenden gelben Geldschein.
„Wenn Sie psychologische Betreuung wünschen, kann ich jemanden anfordern“, sagte Kerner in diesem Moment.
„Seh ich aus wie eine Memme?“ Ralphie hatte sein Zittern wieder unter Kontrolle. „Wieso bringt jemand meine Mutter um?“
„Das fragen wir uns natürlich auch“, mischte Emmerich sich ein. „Haben Sie eine Idee?“
„Ich bin doch kein verdammter Bu... Polizist“, brauste Ralph Diebold auf. „Was genau ist überhaupt passiert?“
„Ihre Mutter wurde erschlagen. Das muss schon ein paar Tage her sein. Trauen Sie sich trotzdem zu, sie zu identifizieren?“
„Was?“ Ralph trank eines der Gläser aus und schenkte sich nach. „Jetzt?“
„Wir können Sie gleich mitnehmen. Wollen Sie vorher noch Ihren Bruder anrufen?“
„Herbert?“, fragte Ralph, als handele es sich dabei allenfalls um einen entfernten Bekannten. „Herbert ist verreist. Wie sieht sie denn aus?“
„Es gibt Schöneres“, meinte Emmerich und dachte an das mumienhafte Wesen im fliederfarbenen Strickjäckchen vom Nachmittag. Ralph nahm einen kräftigen Schluck und stand auf.
„Ich pack das schon. Lassen Sie mich was anziehen und der Süßen Bescheid sagen, dann können wir los.“