Читать книгу Tatort Hölderlinplatz - Stefanie Wider-Groth - Страница 9

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Die nebligen Vorboten des Novembers hatten sich über die Stadt gelegt, doch es hing noch genug Laub in den Bäumen, um das Licht der wenigen Lampen zu verdüstern, die eigentlich den schmalen, verwunschenen Steig zwischen Zeppelinstraße und Honoldweg erhellen sollten. Eleonore Schloms schritt kräftig aus und verschwendete keinen Gedanken an ihre Unversehrtheit. Stuttgart, im Allgemeinen, war eine sichere Stadt, zumindest in dieser Gegend passierte nie etwas, ein Fußweg wurde nicht zu einem Hort der Gefahr, nur weil es dunkel war. Sie erreichte ihr Ziel, ein schönes, altes Natursteinhaus, stieg noch einige Treppen empor bis zur Haustür und klingelte. Ihre Kundin erwartete sie.

„Madame Mercure“, grüßte sie mit gedämpfter Stimme. „Kommen Sie herein. Der Tod ist doch immer ein Zeichen.“

„Jedem Ende wohnt ein Anfang inne“, bestätigte Eleonore so platitüdenhaft wie salbungsvoll und betrat die großzügige Fünfzimmerwohnung, in der es nach Räucherstäbchen und Knoblauch roch.

„Ich habe uns eine leichte Mahlzeit zubereitet“, sagte die Gastgeberin und rückte ein Paar übergroße Filzpuschen in Eleonores Blickfeld. „Nicht zu viel, wir wollen ja auf unser Gewicht achten.“

Du vielleicht, dachte Eleonore, während sie aus ihren Schuhen schlüpfte. Wie stets bei diesen Terminen verdrängte sie den Gedanken an die schweißigen Füße anderer Besucher, die bereits in den Puschen gesteckt haben mochten und schlug den Weg ins Esszimmer ein. Sie wusste, was sie dort erwartete. Feine, kleine Fischigkeiten, rohe Gemüsestreifen, Weißbrot und verschiedene Dips. Nichts, wovon man satt werden konnte, aber sie kam schließlich nicht wegen des Essens her. Nach Beendigung der leichten Mahlzeit gönnte sich die Hausherrin zwei Gläschen Sauerkirsch, um das notwendige spirituelle Rüstzeug zu erlangen, dann holte Eleonore Karten und Pendel hervor. Sie beherrschte auch die Kunst des Runenlesens, doch davon wollte ihre Kundin nichts wissen. Runen strahlten ihrer Ansicht nach etwas Negatives aus, verunreinigt durch die Schwingungen des Dritten Reiches, die sich – ähnlich der kosmischen Hintergrundstrahlung – auch heute noch manifestieren konnten.

„Zuerst die Tageskarte“, sagte Eleonore und präsentierte das aufgefächerte Tarotdeck. Die Dame des Hauses zog eine Karte.

„Wie passend. Es ist der Tod.“

„Sie hatten schon immer einen besonders offenen Kanal für die Engel “, schmeichelte Eleonore. „Das kommt Ihnen heute zugute. Wollen wir fortfahren?“

Ihre Kundin räkelte sich selbstgefällig in ihrem weinroten, samtenen Nickianzug.

„Nein, meine Liebe. Heute wünsche ich keine Lesung wie gewöhnlich. Heute möchte ich etwas mit Ihnen besprechen. Sie können also getrost von Ihren löblichen Prinzipien abweichen und ein Glas Wein mit mir trinken.“

Eleonore unterdrückte ein Seufzen. Sie erteilte ihren Kunden allerlei mögliche und unmögliche Ratschläge, doch sie verschanzte sich dabei stets hinter ihren Karten und ließ persönliche Ansichten aus dem Spiel. Persönliche Ansichten waren schlecht fürs Geschäft, Distanz zum Kunden ihr oberstes Gebot. In diesem Fall jedoch würde sie eine Ausnahme machen müssen. Sie verschränkte die Arme über der Brust, um ihre Zurückhaltung zu unterstreichen, und fragte sachlich:

„Worum geht es, Frau Winkler?“

„Ich habe einen Mann kennengelernt. Einen sehr interessanten Mann. Ich möchte, dass Sie sich ein Bild von ihm machen.“

„Gerade dann wäre es besser, wenn Sie auf Ihren Bauch hören würden und darauf, was die Karten sagen.“

Christine Winkler entkorkte sorgfältig eine Flasche Cabernet Sauvignon und schenkte den Wein in zwei hochstielige Gläser.

„Später vielleicht. Es geht hier weniger um die emotionalen und spirituellen Ebenen. Noch nicht. Zum Wohl.“

„Prost.“ Eleonore nahm einen winzigen Schluck und stellte ihr Glas wieder ab. „Worum dann?“

„Geld“, entgegnete Frau Winkler schlicht.

„Ich bin keine Vermögensberaterin.“

„Das weiß ich doch, meine Liebe. Nein, Sie sollen mich zu einem Empfang begleiten und mir sagen, was Sie von ihm halten. Und dann ist da noch eine Sache, um die ich Sie bitten möchte. Es geht um einen jungen Mann, der seit einigen Wochen bei Ihnen im Haus wohnt.“

Bevor Eleonore ihr eine ablehnende Antwort erteilen konnte, hob Christine Winkler die Hand.

„Einen Moment, Frau Schloms, bitte unterbrechen Sie mich jetzt nicht. Madame Mercure und das Spirituelle sind nur eine Seite der Medaille. Ich schätze unsere wöchentlichen Sitzungen sehr, doch wir leben in einer materiellen Welt. Wenn ich Ihnen nun sage, dass ich schon lange weiß, dass Sie nicht am Hölderlinplatz wohnen, sondern ein hübsches Appartement in Halbhöhenlage Ihr Eigen nennen, dann unterhalten wir uns sicherlich auf Augenhöhe.“

Eleonore sank zurück in die Tiefen des dick gepolsterten Lederfauteuils. Frau Winkler war die einzige Kundin, die ihren richtigen Namen kannte, sie war bedauerlicherweise eben auch ihre Vermieterin. Kaum anzunehmen, dass sie wusste, welchen Anteil ihrer Einnahmen Eleonore dem Finanzamt verschwieg, doch wenn sie das Appartement kannte, zog sie zumindest die richtigen Schlüsse.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte sie lahm.

„Noch etwas Wein? Sie trinken ja gar nichts.“

„Nein, danke.“

Christine Winkler schenkte sich nach. „Wie ich schon sagte, es geht um einen jungen Mann, der bei Ihnen im Haus wohnt. Ich möchte, dass Sie ihn für mich ein wenig im Auge behalten.“

„Sie meinen, ich soll ihm hinterherspionieren? Warum?“

„Weil es mich interessiert, was er macht. Von wem er Besuch bekommt. Wann er ein- und ausgeht.“

„Sie haben ihm doch die Wohnung vermietet. Haben Sie sich da nicht über ihn informiert?“

„Ich war wohl ein wenig... zu oberflächlich.“

„Also gut.“ Eleonore erhob sich. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Und jetzt würde ich gerne...“

„Warten Sie.“ Christine Winkler stand ebenfalls auf und nahm ein cremeweißes Büttenpapier aus einer teuer aussehenden Schale. „Das ist die Einladung für den Empfang. Ich verlasse mich auf Sie.“

***

Es war spät geworden, als Emmerich und Kerner in Begleitung von Ralph Diebold das Robert-Bosch-Krankenhaus verließen. Diebold wirkte weitaus weniger forsch als zuvor, der Anblick des eingeschrumpelten Körpers, der einmal seine Mutter gewesen war, hatte auf ihn gewirkt, als ließe man die Luft aus einem Ballon. Selbst das dazugehörige Geräusch, ein unbestimmbares „Pffft“, hatte nicht gefehlt, denn mehr als das hatte Ralphie nicht von sich gegeben. Gittis Angebot, ihn nach Hause zu fahren, hatte er ohne Umschweife angenommen und auch nichts dagegen gehabt, Emmerich auf dem Weg dorthin abzusetzen. Sie fuhren schweigend durch die neblige Nacht, und Emmerich fühlte sich erleichtert, als er den Wagen mit einem knappen „Bis morgen dann“ an der Neckarstraße verlassen durfte. Die kalte, feuchte Luft tat ihm gut – was ging es ihn an, dass sie mittlerweile als ernsthafte Gefahr für Leib und Leben galt. Emmerich wohnte nicht weit weg von der Stelle, die seit einigen Jahren als dreckigster Ort Deutschlands Schlagzeilen machte. Es war nicht so, dass am Neckartor Müll herumgelegen hätte, derartiges war in Stuttgart nahezu undenkbar, nein, es handelte sich um die Feinstaubwerte. Er wusste nicht genau, an wie vielen Tagen im Jahr die zulässige Höchstgrenze überschritten wurde, aber es musste wohl häufig geschehen. Im Gegensatz zum Rauchen schien das aber nicht wirklich jemanden zu kümmern. Emmerich glaubte nicht, dass in absehbarer Zeit ein Gesetz zum Schutze der Bevölkerung vor Abgasen verabschiedet werden würde. Er selbst machte sich ohnehin keine diesbezüglichen Sorgen. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft lebte eine nicht unerhebliche Menge alter und sehr alter Leute, die sich bester Gesundheit erfreuten, aber er war es gewohnt, darauf angesprochen zu werden. In seiner Wohnung zumindest lag kein Staub. Gabi hatte alles blitzblank geputzt, bevor sie sich mit Jule für eine Woche nach Kreta aufgemacht hatte. Sein Zuhause fühlte sich leer und steril an in diesem sauberen Zustand, ohne die Anwesenheit von Frau und Kind. Mohrle, der getigerte Stubenkater, dessentwegen er Seppl sicherheitshalber mit ins Büro genommen hatte, empfing ihn mit einem leisen Maunzen. Emmerich folgte den fürsorglichen Anweisungen seiner Gattin, indem er eine Tupperschüssel mit der Aufschrift „Gaisburger Marsch“ aus dem Gefrierschrank nahm. Er ließ den Eisklotz in einen Topf plumpsen und stellte ihn auf den Herd, schlüpfte in einen ausgebleichten, ehemals blauen Schlafanzug und eine nicht minder betagte Strickjacke und schaltete den Fernseher ein. Sein Abendessen gestaltete sich formlos, die Fernsehzeitschrift genügte ihm als Unterlage für den heißen Suppentopf, ein Teller erschien ihm unnötig. Während er mit halbem Ohr den Nachrichten lauschte, ließ er den Tag Revue passieren. Irgendwoher kenne ich ihn, dachte er an Ralph Diebold und fragte sich, ob auch Gitti Kerner den Zweihunderter unter der DVD bemerkt hatte. Genussvoll löffelte er den Gaisburger Marsch in sich hinein und aß ausnahmsweise auch die wenigen Karotten darin, die er sonst liegen ließ. Heute musste er den Topf selbst spülen, da konnten sich übrige Karotten als hinderlich erweisen. Nach beendeter Mahlzeit stibitzte er sich eine von Gabis Zigaretten und rauchte, was er gelegentlich und heimlich immer noch genießen konnte. Das Rauchen im Wohnzimmer verschaffte ihm darüber hinaus ein kurzes Gefühl der Anarchie, ähnlich dem Triumph eines Teenagers mit sturmfreier Bude, denn seit Jules Geburt war Rauchen nur noch auf der Veranda gestattet. Er trug den leeren Topf in die Küche und spülte ihn, wie er es früher getan hatte: heißes Wasser hinein, auswischen mit Küchenrolle, fertig. Seinen nostalgischen Anwandlungen nachgebend, nahm er ein Bier aus dem Kühlschrank, schaltete den Fernseher aus und legte stattdessen Deep Purple in Rock ein. Beim siebten Stück, Hard Lovin Man, Emmerich war schon beinahe eingenickt, wusste er es plötzlich. Ralph Diebold war Taxifahrer. Vor einem halben Jahr hatte er eines benötigt, um vom Frühlingsfest nach Hause zu kommen. Der Fahrer, der seine Geduld mit anzüglichen Witzen und zotigen Anekdoten über rallige Weiber strapaziert hatte, war Ralph Diebold gewesen. Die Welt ist klein, dachte Emmerich, bevor er die CD aus dem Player nahm und sich auf sein einsames Nachtlager begab.

Tatort Hölderlinplatz

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