Читать книгу Das Verhältnis des Vermögensnachteils bei der Untreue (§ 266 StGB) zum Vermögensschaden beim Betrug (§ 263 StGB) unter besonderer Berücksichtigung des Gefährdungsschadens - Steffen Evers - Страница 9
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A. Allgemeine Veränderungstendenzen im Strafrecht
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Insbesondere das Strafrecht sieht sich aktuell mehr denn je veränderten gesellschaftlichen Tatsachen gegenüber und ist gleichzeitig neuen Ansprüchen ausgesetzt. Es befindet sich im Wandel.
Nicht nur der technische Fortschritt scheint die Ursache mit rasender Geschwindigkeit entstehender Kriminalität zu sein. Neue Straftatbestände werden geschaffen, bestehende erweitert und zusätzliche Verhaltensweisen kriminalisiert. Eine Wesensveränderung ist die Folge.
Zusätzlich wird über die Zielrichtung des Strafrechts heftig gestritten. Dieses soll vorhersehbar, vergeltend und gleichzeitig aber vorbeugend, effektiv und letztlich stets gerecht sein. So steht das Strafrecht verloren im Raum, während seine Ausformung und Zweckrichtung innerhalb der Gesellschaft Gegenstand anhaltender Diskussion sind.
Teil 1 Einleitung › A. Allgemeine Veränderungstendenzen im Strafrecht › I. Rechtsgüterschutz vs. Verhaltenssteuerung der Gesellschaft
I. Rechtsgüterschutz vs. Verhaltenssteuerung der Gesellschaft
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Ursprünglich wurde das Strafrecht als Annex der anderen Rechtsgebiete verstanden. Während Zivil- und öffentliches Recht versuchten, die gesellschaftliche Realität zu erfassen, zu ordnen und abzubilden, griff das Strafrecht als Sekundärmaterie erst dann ein, wenn es zum Schutz der individuellen Rechtsgüter[1] der Bürger unbedingt notwendig war.[2] Als solche wurden das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, die Ehre genauso wie die die materielle Existenz sichernden Rechtsgüter Eigentum und Vermögen geschützt. Die Entscheidung darüber, welche Werte dem strafrechtlichen Schutz unterfallen sollten, vollzog sich außerhalb des Strafrechts. Sie war Folge eines sozialen Wertekonsenses aufgrund von individuellen Erfahrungen der Rechtsgesellschaft.[3]
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Im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung wurde eine Beschränkung des strafrechtlichen Schutzes auf die genannten Individualrechtsgüter nicht mehr für ausreichend erachtet. Die Industrialisierung, Technisierung und Virtualisierung einer immer komplexer werdenden globalen Welt schienen nach dem Schutz neuer überindividueller Rechtsgüter zu verlangen. Anerkannt werden heute die „Funktionsfähigkeit des bargeldlosen Zahlungsverkehrs“[4], das „Funktionieren der Kreditwirtschaft als solcher“[5] oder die „Institution der Subvention als wichtiges Instrument staatlicher Lenkung und die mit ihr verfolgten […] wirtschaftspolitischen […] Zielsetzungen als solche“[6]. Diese setzen nicht mehr an der Individualität des Menschen an, sondern schützen kollektive Mechanismen, die dann ihrerseits wieder mehr oder weniger dem Wohle der Menschen zu dienen bestimmt sind.
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Angestoßen und forciert wird diese Entwicklung häufig durch das Auftreten gesellschaftlicher Missstände. Beispiele sind organisierte Kriminalität, Terrorismus, Korruption, Submissionsabsprachen oder auch die aktuellen Vorkommnisse im Zuge der Entstehung der weltweiten Finanzkrise.[7] In solchen Krisensituationen ist der Gesetzgeber schnell mit der Kodifikation neuer Straftatbestände zum Schutz neuer Rechtsgüter zur Stelle. Dies schafft Zeit, signalisiert Stärke und Handlungswillen, bewirkt aber zusätzlich eine Wesensveränderung des Strafrechts.
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Strafrecht ist dann nicht mehr den gestaltenden Rechtsmaterien dienend zugeordnet, sondern soll selbstständig regeln, regulieren und Ordnung schaffen. Es befindet sich nicht mehr im ruhigen Fahrwasser der Ahndung unvertretbarer Verletzungen von Individualrechtsgütern, sondern wird von der schnellen Strömung der gesellschaftlichen Entwicklung mitgerissen, indem es sich ausbreitet und in alle gesellschaftlichen Räume hineinzwängt. Ob es dieser Strömung Herr wird und sich wirklich als das richtige Instrument zur Lenkung und Regulierung der Gesellschaft entpuppt oder ob es notwendig ist, möglichst schnell einen Anker zu werfen,[8] gilt es abzuwarten.
Teil 1 Einleitung › A. Allgemeine Veränderungstendenzen im Strafrecht › II. Rechtssicherheit vs. individuelle Gerechtigkeit
II. Rechtssicherheit vs. individuelle Gerechtigkeit
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Blendet man den Richtungsstreit zwischen Rechtsgüterschutz und Gesellschaftslenkung aus, soll das Strafrecht, wie das Recht insgesamt, zuvörderst gerecht sein. Jeder, der eine Straftat begangen hat, soll dafür eine dem Einzelfall konkret angepasste Strafe erhalten. Das ist gerecht i.S.e. individuellen Gerechtigkeit. Andererseits soll das Strafrecht vorhersehbar sein. Es ist notwendig, dass sich der Bürger vor der Begehung einer Straftat über die Strafbarkeit eines Verhaltens informieren kann. Auch das ist gerecht, hier i.S.d. Rechtssicherheit. Es stellt sich die Frage, ob sich beides realisieren lässt; ob man jedem für das konkrete Verhalten eine detailgenaue Bestrafung antragen kann, die gleichzeitig aber für jeden vorhersehbar ist.
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Begibt man sich auf die Suche nach einer Lösung, gelangt man schnell zu der Erkenntnis, dass sich beide Gerechtigkeitsvorstellungen in ihrer Extremform ausschließen. Schüfe man weite unbestimmte Straftatbestände, als Extremum einen Tatbestand, der die Verletzung von Treu und Glauben[9] oder des Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden unter Strafe stellt, könnte zwar subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen durch große Flexibilität bei der Strafzuweisung Genüge getan werden, doch würde man dem Bedürfnis der Bürger nach Vorhersehbarkeit der Strafe und damit der Rechtssicherheit nicht gerecht. Würden dagegen detailgenaue Tatbestandsformulierungen gewählt, könnte der „Vielgestaltigkeit des Lebens“[10] und damit der Einzelfallgerechtigkeit nicht hinreichend Rechnung getragen werden. Zudem könnten sich Strafrichter im Fall individuell abweichender Gerechtigkeitsempfindungen dazu veranlasst sehen, es mit dem Wortlaut der Normen nicht so genau zu nehmen, und dem Normierten ähnliche Verhaltensweisen unter die Norm zu subsumieren. Eine Beeinträchtigung der Rechtssicherheit wäre die Folge. Notwendig ist mithin eine klare Grenzziehung zwischen individueller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, die beiden Erfordernissen größtmögliche Wirkung verleiht.