Читать книгу Der König von Asien - Steffen Unger - Страница 7
ОглавлениеSpeergewonnenes Land
Die Seeleute von Sestos resignieren. Sie wissen, dass es sinnlos ist, gegen den makedonischen Offizier aufzubegehren, der ihnen befohlen hat, alle Fahrten und Hafenarbeiten einzustellen. In Kürze soll hier, an der schmalsten Stelle des Hellespont, kein Durchkommen mehr möglich sein. Die Meldung, die seit Längerem kursiert, bewahrheitet sich: Die Meerenge zwischen Europa und Asien wird wieder einmal Schauplatz eines gigantischen Heereszuges. Der junge Makedonierkönig Alexander zieht in den Krieg gegen das Perserreich! Wird die Überfahrt glücken, oder erstickt die mächtige persische Flotte den riskanten Feldzug im Keim?
Wutentbrannt befiehlt der Kommandant des Kriegsschiffs den Ruderern, schnellstmöglich abzudrehen. Der Steuermann setzt seine jahrelange Erfahrung ein, um die Ruder entsprechend zu bedienen, doch vergebens – der Raum zum Manövrieren ist zu klein, ein Zusammenprall unvermeidlich: Ein zu weit abgedriftetes makedonisches Transportschiff – eins der wenigen, die an dieser Stelle des Hellespont manövrieren – touchiert den Bug der athenischen Triere. Planken über dem mit nach vorn starrenden Augen bemalten, verbeulten Rammsporn bersten, Säcke, Waffenbündel und Rüstungsteile fliegen über das schmale Deck. Die zehn Pferde an Bord sind nur schwer in Zaum zu halten, eins stürzt fast in die Ruderbänke. Ihre thrakischen Besitzer haben alle Mühe, die Tiere zu beruhigen, und auch deren vierzig Landsmänner, allesamt Speerwerfer, sind voller Sorge: Der Dreiruderer droht zu sinken.
Glücklicherweise ist das Ziel, der Ort Abydos, nur wenige Stadien von Sestos entfernt. Man kann vom einen Ufer aus das andere sehen. Ein Grund mehr für den Befehlshaber, sich in seinem Zorn über den ärgerlichen Unfall die Haare zu raufen. Er drängt die Besatzung zur Eile, bittet Poseidon, Nereus und Thetis um Unterstützung und wirft unbewusst einen Blick zurück, um nach einem möglichen Zeichen von Alexander oder dessen Stellvertreter Parmenion zu sehen. Doch erkennen kann er nichts außer einem Meer von Schiffen und einem gigantischen Heerlager, das auf das Übersetzen wartet.
Skeptisch beobachten zwei makedonische Soldaten die Szenerie von Sestos aus. Sie gehören zu den dreitausend sogenannten Schildträgern, den Hypaspisten, die bei Sturmangriffen und verschiedenen Sonderaufgaben gefragt sind. Der aus der Hauptstadt Pella stammende Abreas kann es nicht fassen: „ War das eins von unseren? Das wird dem König nicht gefallen.“ Sein Kamerad Polemon, dessen Eltern einst in die von Alexanders Vater Philipp eroberte Stadt Amphipolis übergesiedelt waren, winkt ab: „Mit irgendeiner Havarie hat Alexander sicherlich gerechnet. Kein Wunder, bei wie vielen Schiffen – zweihundert? Und dann diese heftige Strömung … Aber wir machen es zweifellos besser als Xerxes. Ich denke nicht, dass Alexander Grund haben wird, das Wasser wie der Großkönig damals auspeitschen zu lassen.“ In diesem Moment hören die beiden Soldaten schon einen Kameraden ihrer Einheit euphorisch rufen: „ Krateros kommt!“ Polemon schlägt Abreas gegen die Schulter und zeigt zur Straße.
Ein Klappern, Rasseln und Dröhnen kündigt ein Bataillon Gefährten zu Fuß an – 1500 schwere makedonische Infanteristen. Der Zug ist dermaßen lang gestreckt, dass man den Tross aus Knechten, Pferden, Maultieren und Wagen am Ende kaum erkennen kann. So selbstsicher die Fußgefährten mit ihren Helmen, Brustpanzern, Schilden und den Lanzen, die sie in zwei Teile zerlegt tragen, auch wirken: Ihre aufgerissenen Augen, die geöffneten Münder und leises Raunen in den Reihen lassen erahnen, wie beeindruckt sie von dem geschichtsträchtigen Ort und Moment sind. Trotz der enormen Expansion unter Philipp sind die meisten der Soldaten noch nie so weit von ihrer Heimat entfernt gewesen. Seit einem knappen Monat sind sie unterwegs, und nun steht ihnen ein kleiner und zugleich riesengroßer nächster Schritt bevor – der Übergang nach Asien, auf den Boden des schier unendlich großen persischen Reichs!
Einige Reiter eilen der Truppe entgegen und geben ihrem Befehlshaber Krateros Anweisungen. Der erfahrene General sitzt auf und reitet in Richtung eines weiter östlich aufgebauten Zeltes, das alle anderen überragt. Auch Abreas ist überwältigt und murmelt vor sich hin: „Bleibt noch ein Bataillon, ansonsten einige Verbündete – Thrakier und Griechen wohl. Gut, dass alle nach und nach eintreffen.“ – „Das klingt ja so, als fürchtest du dich vor dem kleinen Abstecher nach Asien?“, stichelt Polemon, der mit dem Zeltaufbau beschäftigt ist. Abreas belässt es bei einem Stöhnen.
Dann weicht auch der Übermut Polemons einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Denkst du, der König begnügt sich wirklich damit, die Griechenstädte drüben von den Persern zu befreien? Bei den jahrelangen Vorbereitungen, Rekrutierungen und Ausgaben und bei dem Reichtum der Perser wird das wohl nicht alles sein!“ – „Ich bin Alexander oft begegnet. Er ist so ehrgeizig und froh, seinen heldenhaften Vater mit einem Kampf gegen den Erzfeind endlich übertreffen zu können … Du hast Recht, Polemon. Der König und seine Berater werden bestimmt nicht am Rand dieses riesigen Reichs kehrtmachen. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass sie bis zum Herz vorstoßen wollen! Ich meine, das ist unmöglich, oder? Dass wir vielleicht erst in ein, zwei Jahren heimkehren oder hier verrecken, oder was aus meinem Hof wird, liegt mir schwer im Magen. Doch was geschieht, wenn die persische Flotte hier aufkreuzt? Weiß Alexander überhaupt, wo die ist? Denen sind selbst die Athener nicht gewachsen. Und Dareios oder seine Statthalter werden wohl wissen, was hier im Moment vor sich geht!“ „Ich will dich ungern ängstigen, mein Freund, aber das, was ich von zwei Gefährten gehört habe, ist weitaus schlimmer!“ Abreas, der soeben in Gedanken versunken die Schärfe seiner Speerspitze prüft, stutzt. Polemon erklärt, die beiden seien ihm beim Schmied über den Weg gelaufen. „Sie haben geflüstert, aber zu laut, als dass ich es hätte überhören können. Es ging um Alexanders Staatsschatz. Er soll leer sein! Dann haben sie mich leider bemerkt. Du, die waren sogar von der königlichen Reiterei!“ Abreas schüttelt den Kopf. „ Wenn das wirklich stimmt“, schnaubt er, „dann steht der Kampf vor dem Ende, bevor auch nur ein persischer Pfeil geflogen kommt!“
„Zweifel ziemt sich nicht für unsere Krieger.“ Aus der Ruhe der Stimme, die die beiden Kameraden fast erstarren lässt, spricht die Gefahr, in der sie sich plötzlich wähnen. Ein Makedonier in Tunika und langem Mantel, ohne Rüstung, aber mit einem Dolch bewaffnet, steht hinter ihnen. „Und schon gar nicht für Sondereinheiten!“ Der Mann grinst. „Wir haben uns lange nicht gesehen, Abreasi“ Der Elitesoldat antwortet trocken: „Du hast wie immer Recht, verehrter Harpalos. Entschuldige unser Gerede. Wir wollen nur einen großen Sieg für Makedonien.“
„Dafür sorgt unser König, glaubt ihr nicht? Was hast du über die Perserflotte gesagt? Das konnte ich leider nicht genau hören.“ Abreas druckst: „Es ist nur … Sie soll so gewaltig sein, doppelt so groß wie unsere! Und wo ist sie?“ – „Das wissen wir nicht genau, vielleicht noch in Ägypten, in Tyros oder Halikarnassos. Zunächst ist wichtig, dass sie nicht hier ist, oder? Und was nach dem Übersetzen wird, das wird sich zeigen.“ – „Und wie steht es mit dem Geld, verehrter Harpalos?“, mischt sich Polemon ein. – „Wir haben alles unter Kontrolle!“, zischt der Verwalter der Kriegskasse. „Ich warne euch. Begrabt eure Zweifel! Die stecken die Truppe an. Wenn wir in Asien sind, werden wir ohnehin genug Beute machen.“ Abreas’ Augen stieren. Er stammelt: „Aber woher? Von den Griechenstädten? Welchen Eindruck soll …“ –„Wir ziehen zunächst in Richtung Daskyleion, dem Sitz des Statthalters. Da wird sich einiges finden, womit wir uns ausstatten können, ohne den Griechen auf die Füße zu treten. Überlasst derartige Fragen gefälligst uns! Der König braucht euch, aber in fester Überzeugung und nicht voller Zweifel. Verstanden?“ Die beiden Elitesoldaten sind erleichtert, dass das Gespräch in eine Richtung gegangen ist, die für sie nicht mit Arrest endet.
In diesem Moment prescht die königliche Schwadron zwischen den Truppen dahin. Das immer noch anmarschierende Bataillon sowie die bereits lagernden Einheiten jubeln Alexander zu, der mit einem auffällig gefiederten Helm an der Spitze reitet, daneben der kampferprobte Kleitos, der Befehlshaber der ranghöchsten Reitereinheit. Der König grüßt kurz mit erhobener Hand, dann verschwindet der Trupp Richtung Südwesten. Harpalos, sein Jugendfreund, erklärt, der König reite nach Elaious zum Heiligtum des Protesilaos, der als erster Grieche im Trojanischen Krieg an Land gesprungen und auch gefallen war. „Er segelt von dort aus zum Hafen, an dem unsere Vorfahren unter König Agamemnon gelandet sind, als sie gegen die Trojaner gezogen sind. Alexander wird Ilion besuchen und danach wieder zum Hauptheer stoßen. Das soll nicht mehr als ein Dorf sein. Kaum vorstellbar, dass darum der Krieg getobt haben soll … Der alte Parmenion wird inzwischen die Überfahrt überwachen. Und unsere Priester haben einen gelungenen Übergang vorausgesehen. – Wann setzt ihr überhaupt über?“ „Heute jedenfalls nicht, Harpalos. Ein Teil von uns wohl sogar zuletzt. Zur Sicherheit …“ Abreas nickt in Richtung der mehreren Tausend Mann des Korinthischen Bundes, von dem einige soeben in Abydos bei der makedonischen Vorhut landen, während die meisten noch auf thrakischer Seite kampieren.
„Ganz recht,“ murmelt Harpalos, während er argwöhnisch das griechische Heerlager observiert. „Seid wachsam, mögen sie auch unserem General Antigonos unterstehen. Immerhin schlagen wir ihren Befreiungs- und auch Rachefeldzug für Xerxes’ Schandtaten. Sie hassen sich gegenseitig, gut so, und sie sind ein wertvoller Pfand, damit ihre Landsleute in der Heimat schön handzahm bleiben und nicht wieder revoltieren. – Ich gehe nun. Wir sehen uns auf dem Boden des Großkönigs, den Alexander ihm entreißen wird. Ach ja, Polemon – so war doch dein Name, nicht wahr? Du meldest dich nach der Wiedervereinigung des Heeres bei Kleitos. Du wirst doch die zwei Reiter mit den Geldsorgen dann noch wiedererkennen?“