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Mama ist in freudiger Erwartung. Das erzählten Papa und sie seit fast neun Monaten jedem, den sie kennen. Die meisten freuten sich bei dieser Nachricht für meine Eltern und umarmten sie. Andere grinsten schief und meinten nur: »Da habt ihr wohl nicht aufgepasst, was?« Je länger es dauerte, desto seltener wurden diese komischen Kommentare. Naja, egal. Das mit dem Familienzuwachs errieten seit einiger Zeit bei Mamas Anblick die meisten auch von selbst. Ihr Bauch wurde schließlich dicker und dicker. Dass sie sich darüber so freut, wundert mich etwas. Die Schwangerschaft ist nämlich nicht so einfach, sagt ihr Arzt. In einem Kurs lernt sie, richtig zu atmen, und ihre Beckenbodenmuskeln zu trainieren. Seltsam, was? Ich erkläre mir das so, dass sie ja für mein Brüderchen mitschnaufen muss. Aber was die Muskeln damit zu tun haben, weiß ich echt nicht. Vielleicht ist das ähnlich wie bei Bauchrednern, vielleicht auch nicht. Die müssen ja auch kräftig üben, bis sie was drauf haben. Mama antwortete jedenfalls auf meine Frage, ob das mit meinem Bruder im Bauch sehr schlimm sei, mit »Nein, das ist das Schönste auf der Welt«.

Jetzt habe ich es verraten, neben Mama, meiner sechzehnjährigen Schwester Paula und mir sinkt die Frauenquote wieder und Papa ist bald nicht mehr der einzige Mann in unserer Familie. Und ich, Wanda Sperber, bin mit meinen zwölf Jahren nicht mehr das Nesthäkchen. Anfangs dachten wir noch, mein Geschwisterchen würde ein Mädchen werden. Was habe ich da alles geplant, lauter Listen gemacht, was ich ihr zeigen und beibringen würde. Und dann kam es ganz anders. Ein kleiner Bruder! Daran musste ich mich erst gewöhnen, das hat bis vor Kurzem gedauert. Bei Jungs muss man nämlich sehr vorsichtig sein. Das sagt sogar Papa. Und zwar fast jedes Mal, wenn Paula abends ausgehen will. Recht hat er! Die in meiner Klasse sind auch mit Vorsicht zu genießen. Bis auf Yannick Freitag, der ist zwei Jahre älter und voll süß.

Anfangs, als Mama schwanger war, dachte ich noch, das wäre etwas Lustiges. Immerhin haben fast alle herzlich gelacht, als sie davon hörten. Opa meinte dazu: »Aller guten Dinge sind drei.« Tante Mareike, die Schwester meiner Mutter, wiederum war die einzige Verwandte, die die Frage mit dem »wohl nicht aufgepasst« stellte. Meine Eltern schmunzelten, antworteten aber nicht. Warum reagierten sie bei Mareike ganz anders, wunderte ich mich. Die Frage klärte sich später, als meine Tante wieder weg war: Mama und Papa sagten nämlich, dass Mareike sich erst mal an die eigene Nase fassen soll. Wie das gemeint war? Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass sie selbst die stolze Zahl von fünf Kindern hat. Der Einzige, der auf die Nachricht mit der Schwangerschaft ganz anders reagiert haben muss, war Papa. Wie Mama erzählte, waren ihm Tränen über die Wangen gelaufen. Seltsame Reaktion, oder? Ich habe ihn nämlich noch nie weinen sehen. Außer damals, als Hertha BSC aus der Bundesliga abgestiegen ist.

Papa jedenfalls lässt seither keine Gelegenheit aus, Mama über den Bauch zu streicheln oder daran zu horchen. Ganz besonders fasziniert ist er, wenn mein Brüderchen tritt. Das ist echt schwer zu verstehen. Mir haben beide immer gepredigt, niemandem wehzutun. Und wenn das Kind das macht, finden sie das toll. Da soll sich einer auskennen, was? Papa strahlt dann immer sogar und sagt: »Jetzt habe ich es auch gespürt.« Meist küssen sie sich daraufhin und grinsen breit. Gerade so, als könnten sie sich ihr Verhalten selbst kaum erklären. Eltern! Wie soll man nur schlau aus ihnen werden?

Ihr versteht jetzt bestimmt, warum mir bei Mamas Schwangerschaft so manches seltsam vorkommt. Was nicht heißt, dass ich mich nicht auf meinen kleinen Bruder freuen würde. Selbst wenn ich in den letzten Wochen und Monaten etwas kurz gekommen bin. Von früh bis spät ist schließlich er das Thema. Auf meine Eltern kommt nämlich jetzt so einiges zu, wie ich mitbekommen habe. Wie sie stets betonen, kann man nicht rechtzeitig genug mit der Zukunftsplanung anfangen. Damit quasseln sie sich ständig die Ohren voll. »Mutterschutz« und »Elternzeit« sind die Hauptthemen, mit den Begriffen kann ich nur wenig anfangen. Mit »Kinderkrippe«, »Kindergarten« und »Schulbildung« hingegen schon. Um all dies und viel mehr müssen sich beide so schnell wie möglich kümmern, höre ich ständig. Weil diese Dinge wichtig sind für den Kleinen. Ob sie sich darüber auch bei Paula und mir solche Gedanken gemacht haben? Wahrscheinlich schon. Möglicherweise liegt ihnen deshalb so viel daran, dass wir Mädchen uns in der Schule so viel Mühe geben. Könnte zumindest sein.

Verflixt noch mal! Ich mache mir echt viel zu viele Gedanken um meine Eltern und den Kleinen. Das muss bald ein Ende haben. Aus lauter Ungeduld schaue ich schon als Erstes am Morgen, ob Mamas Bauch noch da ist. Kaum sind alle aus dem Bett, ist mein Brüderchen wieder Thema Nummer eins. Wie lange würde das noch so weitergehen? Papa sagte gestern, spätestens nächste Woche wäre er da. Aber woher weiß er das so genau?

Am Donnerstag in der ersten Woche der Herbstferien hatte Mama am Frühstückstisch wieder großen Appetit. Sie isst, seit sie schwanger ist, viel mehr als sonst. Papa, Paula und ich standen deshalb schon früher auf als sonst. So kriegen wir auch was ab.

»Wie geht es dir heute, Schatz?«, fragt Papa auf einmal.

Ein Lächeln ziert Mamas Gesicht, wie ich bemerke. »Ich kann es kaum mehr erwarten, bis der Kleine da ist.«

Papa grinst und steht auf. Die herbstliche Morgensonne strahlt Mama warm ins Gesicht, als er die Terrassentür öffnet. Frische, milde Luft zieht durch die Küche.

»Liebling, ich auch.« Er bleibt vor ihr stehen und schaut sie verliebt an. »Du bist für mich die schönste Mama weit und breit.« Wie ich bereits vorhersah, küsst er Mama auf den Mund. Und dann … Was wohl? Er streichelt über ihren Bauch, wie gefühlte tausend Male am Tag …

»Was steht heute noch an? Gehen wir Oma besuchen?«

»Wie geht’s ihr eigentlich?«

Mama schmatzt mit ihrem Toastsandwich zwischen den Zähnen und beantwortet zuerst meine und dann Papas Frage. »Morgen schauen wir nach ihr.« Meine Großmutter lebt seit einigen Monaten in einem Heim. Ihr Gedächtnis ist nicht mehr das Beste und sie hat manchmal Schwierigkeiten, uns zu erkennen.

Mama blickt zu Papa. »Ich mache mir Sorgen. Es würde mir so viel bedeuten, wenn sie uns nach der Geburt besuchen könnte.«

Wir wohnen übrigens in einer kleinen Stadt in Brandenburg, nicht weit von Berlin. Und nahe zum nächsten Krankenhaus. Was sehr gut ist, denn Mama kreischt auf einmal mit einem Bissen belegtem Toast im Mund aus heiterem Himmel los. »Es ist so weit!«

Papa starrt sie an, sie war ganz rot im Gesicht und sah irgendwie angestrengt aus. Ob sie ihm jetzt auch so gut gefiel? Mit adrigem Hals und so lautem Geschrei, dass einem die Ohren wehtun? Papa sieht jedenfalls aus, als hätte er einen Geist gesehen. »Bist du sicher?«

»Bekomme ich das Kind oder du?«, faucht sie zurück.

»Bei unseren Mädels kamen erst nur Vorwehen, erinnerst du dich nicht?«

Mamas Gesichtsausdruck wechselt in Sekundenschnelle von Schmerz zu Wut. Papa setzt an, noch etwas zu sagen. Doch als er ihr in die Augen sieht, verlässt ihn wohl der Mut. Er spurtet ins Bad und von da aus ins Schlafzimmer, zurück in die Küche und nochmals ins Bad und packt das Nötigste in eine Tasche.

Paula und ich stützen Mama auf dem Weg zur Garage. Papa folgt gleich darauf.

»Paula und Wanda, wir bringen euch noch schnell zu Tante Mareike, beeilt euch bitte.«

Im Auto halte ich Paulas Hand auf der Rückbank fest, während die ihre Augen verdreht und grummelt. »So ein Stress am frühen Morgen.«

»Hey, es geht um unser Geschwisterchen«, flüstere ich ihr zu.

»Ist ja gut, du Nervensäge.«

Paula löst ihre Hand aus meiner, während Papa über die Straßen kurvt und Mama wie ein Hund hechelt. Meine Sorge um sie und den Kleinen ist groß. Sollte ich ihren Bauch morgen nach dem Aufstehen nochmals sehen, frage ich mich. Und wenn nicht, wer kümmert sich dann um all die Dinge, die so wichtig sind? Meine Eltern haben ja jetzt keine Zeit. Jemand muss kühlen Kopf behalten. Soll ich das sein?, denke ich etwas überfordert.

Ich schnaufe laut durch, will mir Mut machen. Meine Eltern müssen sich keine Sorgen machen, ich würde alles in die Wege leiten: Kinderkrippe, Kindergarten, Schule und so weiter. Ich! Ja, ich! Ich übernehme ab sofort die Verantwortung für die Zukunft meines Brüderchens. Aber es muss schnell gehen.

Zuerst allerdings brauche ich Sicherheit, dass ein geheimes Abkommen zwischen meiner Mutter und mir weiter besteht. Ich warte eine Pause zwischen zweimal ohrenbetäubendem Aufstöhnen von ihr ab und stelle meine Frage: »Mama, unser Versprechen gilt doch noch, oder?«

Sie scheint erst nicht zu wissen, was ich meine, und sieht mich nachdenklich an. Sollte sie es vergessen haben, frage ich mich. Es war doch eine feste Abmachung. Nach wie vor schaut sie mich an, vielleicht merkt sie, dass mir ein deutliches »Ja« als Antwort sehr wichtig ist. Keine zwei Sekunden später, grinst sie mich verschmitzt an. »Großes Mutter-Tochter-Ehrenwort.«

Ich freue mich, meine Anspannung löst sich. Na klar, denke ich, auf Mama ist Verlass. Und auf mich auch. Das werde ich allen beweisen. Nichts und niemand konnte mich davon abhalten, ganz sicher. Ein letztes Mal schnaufe ich laut durch, bereit, jederzeit loszulegen.

An einer roten Ampel auf halber Strecke zum Krankenhaus reiße ich die Hintertür auf.

»Macht euch um mich keine Sorgen!«, schreie ich gegen Mamas Klagen an. »Ich komme nach und regle inzwischen alles.«

Mama und Papa schauen sich überfordert an. Sie scheinen null Ahnung zu haben, wovon ich rede. Verstehen sie denn nicht, dass ich nun die Zukunft des Kleinen planen will, oder was? Ihren Blicken nach, als ich rüber zur Bushaltestelle und weiter zum Fahrradweg neben der Straße husche, kapieren sie nichts.

»Wanda, komm zurück ins Auto!«, höre ich sie schreien, bis ein gewaltiges Stöhnen Mamas dem Rufen ein Ende setzt.

Ich sehe Papas Verzweiflung in seinem Blick, als er das Gaspedal voll durchdrückt und das Auto mit quietschenden Reifen losbraust.

Angesichts dessen, was mir bevorstehen mochte, sehe ich ihnen lange unsicher hinterher. Als sie außer Sichtweite sind, wird mir bewusst: Von jetzt an bin ich auf mich alleine gestellt. Die Weichen für das Leben meines Brüderchens müssen gestellt werden. Aber eins nach dem anderen, zuallererst muss ich recherchieren, am besten mit Paulas Tablet, damit bin ich mobil. Mir schlottern die Knie, ich bekomme Muffensausen. Wo mich das überall hinführen soll? Und vor allem: so ganz allein?

Ich spüre eine Hand an meiner Schulter, erschrecke und drehe mich langsam um. Nicht, ohne mich auf einen kräftigen Anschiss gefasst zu machen. Sollten meine Eltern gewendet haben und zurückgefahren sein? Oder haben sie Paula geschickt, die sowieso immer von mir genervt ist? Ich muss nun Einsicht zeigen, nehme ich mir vor und schaue möglichst schuldbewusst drein, bis ich beim Anblick meines Gegenübers vor Schreck zusammenfahre.

Ich erlebe eine große Überraschung: Nicht meine Eltern stehen vor mir, nein, es ist jemand anderes. Jemand, den ich nur zu gut kenne. Auch, wenn ich ihn lange nicht gesehen habe. Es ist Lenny. Nach dem ersten Schock grüble ich kurz. Denn ich bin weniger über sein Auftauchen hier an der Bushaltestelle geschockt, sondern vielmehr darüber, dass plötzlich alles möglich ist. Meine »Mission Brüderchen« ist nun kein Ding der Unmöglichkeit mehr. Und ich muss sie nicht mehr allein in Angriff nehmen. Dessen bin ich fast sicher. Mit etwas Überredungskunst sollte es gelingen.

Mission Brüderchen

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