Читать книгу Eine zugige Existenz - Stephan Franke - Страница 5

Meine verkorkste Kindheit oder wie mir schon früh klar wurde, dass alles Übel mit dem Verfolgen von Zielen beginnt.

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Bevor ihr meine Leidenschaft für extreme Bahnreisen als Spinnerei, Ausgeburt eines bemitleidenswert heftig erkrankten Hirns verurteilt oder mir gar anbietet, einen freien Platz in einer geschlossenen Abteilung zu besorgen, mir evtl. die Adresse einer Selbsthilfegruppe für alleinstehende Bahnomanen zuschickt, lasst euch davon überzeugen, dass meine kleine Liebhaberei im Grunde ein harmloses Vergnügen ist.

Obwohl harmloses Vergnügen eigentlich doch eine falsche Banalisierung meiner Leidenschaft bedeutet. Vielleicht lässt sich meine Bahnfahrerei doch mehr als eine spezielle Form der Zenmeditation beschreiben – der Weg mit der Bahn ist das Ziel. Die Ankunft an irgendeinem Ort ist mir gleichgültig, für mich zählt nur der Weg – das Sitzen im Abteil, das Betrachten der vorbeiziehenden Landschaft und vor allem: die Beobachtung der Mitreisenden. Aber keine Angst, ich werde euch nicht mit Zen oder anderen fernöstlichen Weisheitslehren langweilen. Von Zen habe ich keine Ahnung (ich esse noch nicht mal Reis oder Bambussprossen), aber die Erwähnung einer solchen Lehre gibt jedem Bericht das gewisse Etwas und der Leser bekommt ein gutes Gefühl.

Übrigens habe ich nicht nur keine geografischen Ziele, auch sonst sind mir Ziele jeder Art höchst suspekt. Wenn ich näher darüber nachdenke, hatte ich schon immer den Hang zur Zielabstinenz. Von frühester Kindheit an hatte ich keine Ziele. Im Gegensatz zu anderen Kleinkindern hatte ich nie das Ziel, Laufen zu lernen. Die Fahrten im Kinderwagen begeisterten mich viel mehr, dieses anstrengungslose Dahingleiten und Durchdieweltgeschobenwerden, ohne selbst das Ziel des Weges bestimmen zu können oder gar zu müssen – oder auch nur zu wissen, wohin es geht. Durch die ständige Fortbewegung im Kinderwagen wurde ohne Zweifel der Keim für meine spätere Bahnfahrleidenschaft gelegt.

Irgendwann jedoch konnte ich mich der ständigen Aufmunterungen meiner Eltern, Onkel und Tanten, mich für die Kunst des Gehens zu erwärmen, nicht mehr erwehren. Zumal ich spürte, dass es für mich auch wiederum kein Ziel war, das Gehen aktiv nicht zu erlernen. Leidenschaftslos machte ich also im Alter von drei Jahren meine ersten Schritte. Ich merkte direkt: ist nichts für mich, nicht mein Ding. Aber jetzt war es zu spät. Tante Elisabeth, die einzige Zeugin dieses Entwicklungsschrittes, freute sich so sehr über diese Großtat, dass sie mich zur Belohnung sofort in den Kinderwagen setzte und zu meinen Eltern fuhr. Dort sollte ich für meine Erzeuger direkt nochmal einen Beweis meiner neu erlernten Mobilität abliefern.

Auf Tante Elisabeths blödsinnig gezwitscherte Aufforderung: „Nun mach mal schön lauf-lauf. Zeig dem Papa und der Mama, wie schön du lauf-lauf machen kannst,“ ließ ich mich erstmal mit dem Po auf den Boden klatschen und zeigt auf den Kinderwagen. Erst als meine Mutter diesen so nah an mich heranschob, dass ich ihn mit nur einem Schritt erreichen konnte, ließ ich mich dazu herab, eine sehr sparsame Kostprobe der mir schon jetzt verleideten Fortbewegungskunst abzuliefern. Ich machte also genau einen Schritt in Richtung des geliebten Transportmittels und wurde prompt zur Belohnung wieder in Selbiges gesetzt. Ich lernte: Wenn Bewegung mittels der eigenen Körperkraft überhaupt irgendeinen Sinn machen sollte, so den, möglichst schnell und umstandslos einen fahrbaren Untersatz zu erreichen.

Wie schon erwähnt, waren mir Ziele jeder Art von jeher und ausnahmslos suspekt. In der Schule war es eigentlich auch nie mein Ziel, die nächsthöhere Klasse zu erreichen. Ich vertrat schon ab der ersten Klasse die feste Überzeugung, dass es wenig Sinn macht, erst mühsam den Stoff des jeweiligen Schuljahres zu erlernen, nur um sich dann nach der Versetzung in die nächste Klassenstufe wieder mit neuem Stoff herumzuschlagen. Viel näherliegend schien es mir, den einmal erlernten Stoff in Deutsch oder Mathematik oder irgendeinem anderen Fach nach den großen Ferien nochmal durchzunehmen und sich daran zu freuen, dass man alles schon weiß.

Ich muss euch sicher nicht erklären, dass ich speziell das Fach Sport nicht anders als absurd bezeichnen konnte. Dieser irrwitzige Bewegungsunsinn, der nur einem kranken Hirn entsprungen sein konnte, das sich darin verstieg, Menschen zu animieren, unsinnige Wege in unnötig großem Tempo zurückzulegen. Oder Hindernisse aufzubauen, die allein dazu da waren, Menschen zu nötigen, dieselben mit merkwürdigen Bewegungen zu bewältigen. Oder sogenannte Mannschaften in einen blödsinnigen Streit um einen Ball zu verwickeln usw. usw.

Schon früh wurde mir klar, dass das Umlaufen eines Sportplatzes nur einfältige Gemüter begeistern konnte. Solche, denen nicht klar war, dass das ruhige Stehenbleiben auf der Start- und Ziellinie doch immer zum gleichen Ergebnis führt wie das ein- oder mehrmalige Rundenlaufen, das doch auch immer wieder unweigerlich auf dieser Linie endet.

Und wieso muss man unter großer Anstrengung und Verletzungsgefahr über ein sogenanntes Pferd (das nebenbei bemerkt nur Mitschüler mit einer Fünf in Biologie für ein Pferd halten konnten) springen, wo es doch für ein halbwegs aufgewecktes Kind viel näher liegt, um diesen kopflosen Pferdetorso in einem eleganten Bogen herumzuspazieren?

Über den Schwachsinn von Mannschaftssportarten will ich mich hier gar nicht weiter auslassen. Schon als Schulkind begriff ich, dass viel unnötige Bewegung und menschliche Zwietracht zu vermeiden wären, wenn jeder Spieler seinen eigenen Ball bekommen würde und diesen, wenn es ihn denn aus mir unerfindlichen Gründen glücklich macht, so oft er möchte in Tore und Körbe oder über Seile und Netze schubsen kann.

Aber ich möchte euch nicht mit den erlebten Unsinnigkeiten meiner Schulzeit langweilen. Nur soviel sei hier noch zu meinem schulischen Werdegang gesagt: entgegen meiner eigenen Überzeugung erreichte ich leider doch in jedem Schuljahr das sogenannte Klassenziel (das nie das meine war!) und wurde in die nächste Klasse versetzt.

Eine zugige Existenz

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