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»Du schreibst mir, wenn ihr da seid, ja?«, fragte Ella, während sie die Zentralverriegelung deaktivierte.

»Ja, Mama. Zum dritten Mal: Ich schreibe dir!«, versprach Pierre, wirkte jedoch genervt.

Sehnsüchtig blickte er durch die Fensterscheibe zu den wartenden Jungs. Wie ungeduldig er war. Und wie verletzend.

Mit seinen blauen Augen, die beinahe unnatürlich funkelten, schaute er sie an, als würde er sie um Erlaubnis bitten. Pierres schwarze Haare, die er vorne nach oben gestylt hatte, hoben seinen schönen Teint hervor.

»Wenn irgendwas ist, melde dich. Und wenn es noch so dämlich sein mag«, sagte Ella und hielt dabei Pierres linke Hand fest.

»Wir werden schon Spaß haben«, versuchte er, sie zu beruhigen, während er auf das Handschuhfach starrte. Dann zog er seine Hand weg. »Ich geh jetzt, Mama.«

Als das blecherne Knallen der Tür ertönte, spürte Ella wieder diesen Würgegriff um den Hals. Ein Knoten, der sich nach oben drückte und immer weiter anschwoll. Er zog ihr gesamtes Gesicht nach unten. Sie mochte es nicht, wenn Pierre nicht bei ihr war. Sie fürchtete, dass ihm das Gleiche zustoßen könnte wie ihrem Bruder Gregory.

Damals.

Es ist nur ein Pfadfinderausflug. Dein Junge wird Spaß haben und in zehn Stunden wieder bei dir sein!

Sie sah ihm nach. Wie er mit seinen Freunden einschlug, als wären sie Mitglieder einer Gang in der Bronx. Wie cool er die aufgeregten Mädchen mit einem Kuss auf die Wange begrüßte und diese sich mit ihren roten Bäckchen beschämt beäugten. Wie mutig er war. Ganz anders als sie.

Charakterlich glich er viel mehr seiner Großmutter. Mama. Die starke Frau, die stets voranging, andere ermutigte und jeden Widerstand kleinzumachen wusste. Schade, dass die beiden sich nie kennengelernt hatten.

Beim Blick auf die Uhr fiel ihr auf, dass sie spät dran war.

Um zehn hatte Frau Irrlander, ihre Chefin, ein Meeting mit einem Großkunden anberaumt. Vorher musste sie noch Kopien machen. Und den Kaffee musste sie auch noch aufsetzen.

Erst kürzlich hatte sie ein Gespräch mit Frau Irrlander geführt. Die Chefin hatte zu verstehen gegeben, dass Ella sich mehr auf ihren Job konzentrieren müsse – ansonsten würden Konsequenzen drohen. Was auch immer damit gemeint war, sie hatte nicht vor, es herauszufinden. Drei Jobwechsel in zwei Jahren reichten. Da brauchte es keinen vierten.

Also drückte sie aufs Gas, nahm dem Lkw in der Spitalstraße die Vorfahrt und bretterte mit achtzig durch die Fünfzigerzone.

Was machst du nur? Am Ende gehst du drauf für die Arbeit, die du mehr hasst als dein Leben.

Es war neun Uhr siebenundfünfzig, als Ella mit ihrem Fiat Punto den Parkplatz der Heine Fahrstuhl AG anfuhr. Sie war zu spät. Aber nur ein paar Minuten. Wenn der Kunde auch ein wenig Verspätung hatte, würde es gar nicht auffallen. Sie wollte gerade aussteigen, als ihr Handy klingelte.

Mist, die Chefin!

Aber die Nummer auf dem Display war ihr nicht bekannt. Trotzdem hob sie ab.

»Frau Weeber?«, meldete sich ein Mann mit ruhiger, tiefer Stimme.

»Ja. Und wer sind Sie?«, fragte Ella, während sie mit zwei Fingern auf dem Lenkrad trommelte.

»Lechat, Polizei –«

»Ist was mit meinem Sohn?«, unterbrach Ella den Mann, dessen Namen sie schon einmal gehört zu haben glaubte.

»Ihr Sohn?«, fragte Lechat und schwieg einige Sekunden. Schließlich antwortete er mit einem knappen »Nein«.

Erleichtert atmete Ella aus.

»Es geht um die Geschehnisse von damals. Genauer gesagt um Felix Riegen.«

Ella dachte, dass Lechat wieder nur eine Pause beim Sprechen machte, doch es schien zunächst alles gewesen zu sein, was er sagen wollte.

»Ich verstehe nicht ganz. Was wollen Sie von mir?«

Mittlerweile war es neun Uhr neunundfünfzig. Sie kam definitiv zu spät ins Meeting.

Nicht schon wieder!

»Es gibt eine neue Spur in dem Fall. Ihr Bruder hat wahrscheinlich etwas damit zu tun. Hätten Sie Zeit, nach Raaffburg zu kommen?«

Für einen kurzen Moment herrschte komplette Stille. Ella sah, wie die digitale Uhr auf 10:01 umsprang. Sie war den Tränen nah. Dieses Telefonat konnte sie ihren Job kosten.

»Ehrlich gesagt, Herr Lechat, habe ich wenig Zeit, und ich weiß auch nicht, wie ich Ihnen helfen kann«, antwortete sie ruhig und bedacht, was sie selbst überraschte.

»Frau Weeber«, sagte der Polizist, bevor er sich kurz räusperte. »Sie sind die einzige Überlebende der Familie. Und wir rechnen fest mit Ihrem Erscheinen.«

Es stimmte nicht ganz, was der Polizist sagte. Denn ihr Vater war zwar weit weg, in Las Vegas, und sie hatten keinen Kontakt mehr seit achtzehn Jahren, aber er lebte noch. Doch Ella ging etwas ganz anderes durch den Kopf. Wenn sie tatsächlich nach Raaffburg fahren musste, musste sie dann nicht dem Menschen Bescheid geben, den sie liebte? Wenn sie allerdings abends schon wieder zu Hause sein würde, könnte sie es vielleicht riskieren, ohne Benachrichtigung zu fahren.

»Es geht nur um ein paar Fragen, die Sie beantworten müssten. Aber Sie sollten sich dennoch für ein paar Tage hier einrichten, im Laufe der Ermittlungen könnten sich noch mehr Fragen ergeben. Lassen Sie sich beurlauben, wir geben Ihnen eine Bestätigung für Ihren Arbeitgeber«, ergänzte der Polizist.

Ein paar Tage? Und was machst du mit Pierre?

»Ich muss erst schauen, wo ich meinen Sohn unterbekomme. Ich melde mich später wieder bei Ihnen. Okay?«

»In Ordnung«, sagte der Polizist mit wenig Begeisterung.

Als das Gespräch beendet war, ließ Ella ihre Stirn auf das Lenkrad fallen. Sollte sie wirklich nach Raaffburg fahren? In die Kleinstadt, in der ihre Mutter und ihr Bruder ermordet worden waren? Dorthin, wo ihre Liebe lebte. Der Mensch, der ihr das Leben so verschönerte.

Und so verkomplizierte.

Was wäre, wenn sie nicht ginge? Würden die Kommissare dann nicht Verdacht schöpfen? Oder die anderen Bewohner der Stadt?

Oh nein, von uns soll niemand erfahren.

Am besten, sie verhielte sich komplett normal. So, als hätte sie nichts zu verbergen.

Was mochten die Kommissare gefunden haben?

Gregorys Hände? Seine Füße? Seinen Kopf? Den von Mama auch? Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken.

Jedenfalls musste der Hinweis wichtig sein, wenn sie dafür extra nach Raaffburg kommen sollte.

Wohin könnte sie ihren Sohn währenddessen bringen?

Vielleicht zu Brit?

Sie gehörte zu den wenigen Leuten, denen Ella vertraute. Sie war diejenige, die Ella Mut zusprach, wenn sich wieder mal alles gegen sie richtete.

Nach einem kurzen Telefonat sagte Brit zu. Pierre würde dort die Nacht verbringen.

Das wäre geschafft.

Ella schnaufte laut durch die Nase und öffnete das Handschuhfach. Sie richtete ihren Blick auf eine Mentos-Dose. Dann wählte sie die Nummer ihrer Chefin. Natürlich war diese noch im Meeting. Ella sprach ihr auf die Mailbox, dass sie krank sei und heute sowie morgen nicht zur Arbeit kommen könne. Danach griff sie nach der Mentos-Dose und schluckte drei der kleinen weißen Pillen, die sie darin versteckte.

Als die Uhr auf 10:16 sprang, legte Ella den Gang ein und fuhr los.

Belgische Finsternis

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