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Als ich wieder stehen konnte, blinzelte ich die Straße hinunter. Von der Sonne geblendet, erkannte ich nur schemenhaft in der Ferne die ersten Häuser der kleinen Stadt. Die Luft war fürchterlich heiß und drückend, aber in jedem Fall besser als der rauchige Dunst in der mickrigen Polizeikutsche. Ich folgte dem Trampelpfad, der entlang der stark befahrenen Straße verlief. Hupend zog ein Truck nach dem anderen an mir vorbei. Fußgänger waren hier offenbar unerwünscht. Meine Beine fühlten sich schwer an, und der Weg schien kein Ende zu nehmen. Nach etwa einem Kilometer erreichte ich schließlich ein einsames Bruchsteinhaus, das offenbar ein kleines Restaurant beherbergte. Neben der Eingangstür hing eine eingerahmte Speisekarte.

Endlich was trinken.

Und hoffentlich auch eine Gelegenheit, mich frisch zu machen. Angesichts der nassen Achselstellen an meinem Hemd war das dringend nötig.

Das kleine Restaurant schien beliebt zu sein, der Parkplatz war voll besetzt. Eine Frau in einem violett-weiß gestreiften Kleid ließ sich davon nicht stören. Mit ihrer Honda parkte sie direkt vor dem Eingang. Schwungvoll zog sie ihren Helm ab und warf ihre braunen Locken derart gekonnt zur Seite, als habe sie die Szene hundertfach vor dem Spiegel einstudiert. Dann hopste sie mit ihren schlanken Beinen wie ein Teenie die Holztreppe zu dem Restaurant hinauf, wo ein kräftiger, etwa einen Meter fünfundachtzig großer Mann in Hemd und Krawatte die Tür aufhielt. Sie bedankte sich mit einem breiten und strahlenden Lächeln. Der gut aussehende schwarzhaarige Mann, dessen Unterarme stark behaart waren, brachte jedoch nur ein knappes »Gern geschehen« hervor.

Ich folgte den beiden und nahm zur Kenntnis, dass sich die Toiletten vornean in der überschaubaren Eingangshalle befanden. Ich musste mich also nicht erst quer durch das Restaurant drängeln, um etwas gegen den Geruch zu tun, der von mir ausging. Schnell spülte ich mir am Waschbecken den Mund mit kaltem Wasser aus. Anschließend wusch ich Gesicht und Arme. Danach fühlte ich mich erfrischt und bekam langsam Appetit. Ich hatte ja heute noch nichts gegessen.

Beim Betreten des Restaurants entdeckte ich eine Menschenschlange, die sich vor der Theke gebildet hatte. Dort konnte man das Essen bestellen und mitnehmen, um es dann an einem der Tische im dahinterliegenden Raum zu verzehren. Ich stellte mich an und betrachtete mit Bewunderung den aufwendig restaurierten Innenraum des alten Gebäudes, das vermutlich einst als Bauernhof genutzt worden war. Die Wände bestanden aus blauem Bruchstein, hier und da waren alte Holzstützen verbaut, die das Obergeschoss und die Decken trugen. Das Tageslicht, das in das Bistro fiel, wurde ergänzt durch eine behagliche Beleuchtung. Außerdem war es angenehm kühl.

Die Karte, die ich auf der aufgehängten Tafel erkennen konnte, bot eine kleine Auswahl an warmen Speisen, darunter auch landestypische wie Steak mit Pfeffersoße und Chicorée, Vol-au-Vent oder Miesmuscheln. Das Ganze natürlich mit Fritten als Beilage. Obschon die rausgehenden Teller verlockend aussahen, wollte ich lieber auf mein angeschlagenes Immunsystem hören und etwas Vitaminreiches essen.

Ich hatte gerade die Salate auf der Karte entdeckt, als ich hinter mir eine weibliche, leicht kratzige Stimme vernahm.

»Habe ich etwas verbrochen, oder was zieht Sie von Brüssel hierher?«

Ich drehte mich um und erkannte die attraktive Brünette von eben wieder. Unverhohlen hielt sie meinen Polizeiausweis in den Händen.

Wie ist sie daran gekommen?

»Unschuldig sehen Sie jedenfalls nicht aus. Aber danke für den Ausweis«, konterte ich. Ich ging bewusst nicht auf ihre Frage ein und nahm die plastifizierte Karte entgegen.

»Bitte sehr, Herr Kommissar. Er lag vor den Toiletten. Sie müssen ihn dort verloren haben.«

Ich musterte sie scharf.

»Was gibt es denn für spannende Fälle auf dem Land?«, ließ die etwa dreißigjährige Frau nicht locker.

»Nur ein überregionaler Austausch unter Kollegen«, blockte ich ab, während mir beim Blick durchs Fenster ein Plakat auffiel.

Es war an einem Laternenmast befestigt und mit einer Aufschrift versehen: »Felix Riegen. Vermisst!!! So könnte er heute aussehen.« Darunter war ein eher schlecht als recht simuliertes Gesicht abgebildet, das auf Tausende Menschen zutreffen konnte und keinerlei Wiedererkennungswert aufwies. Ich musste an die Worte von Vanderhagen denken: »Er macht sich ein schönes Leben in Afrika und hält uns alle zum Narren.«

Wie kam er dazu, so etwas zu behaupten?

»Sie sind dran, Commissario!« Die Brünette stupste mich grinsend an.

Ich grinste höflich zurück. Dann wendete ich mein Gesicht der zierlichen Bedienung zu, die mich freundlich ansah.

»Welchen Salat können Sie mir empfehlen?«, fragte ich, in der Hoffnung, die Sache abzukürzen.

»Der Thunfischsalat ist gut, Monsieur. Der griechische auch, aber er ist etwas würziger«, entgegnete sie rasch. Sie war den Andrang um die Mittagszeit gewohnt, das sah man ihr an.

Ein Salat. Wird er dich satt machen?

Mein Blick glitt hinunter zu den belegten Baguettes.

Das ist schon eher was für dich.

»Ich würde gern ein Baguette mit Ardenner Schinken nehmen«, sagte ich schließlich.

»Natürlich. Das muss ich aber erst noch zubereiten«, sagte sie nickend und vergewisserte sich schnell: »Also kein Salat?«

Ich schüttelte den Kopf, während die Bedienung sich bereits auf den Weg in die Küche gemacht hatte. Gleichzeitig spürte ich die zunehmende Ungeduld in der immer länger werdenden Schlange hinter mir.

»Warum dauert das denn so lange?«

Die hart klingende Stimme gehörte einem blonden, langhaarigen Hünen, der ein paar Plätze hinter mir stand. Er blies mit geblähten Backen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Übrigens, ich bin Sina.« Die Brünette hinter mir streckte ihre schmale Hand aus.

»Schöner Name. Ich bin Piet.«

Ihr Händedruck war ungewöhnlich fest für eine Frau.

»Wenn du aus Brüssel kommst, muss der Austausch aber wichtig sein«, hakte Sina abermals nach.

Ich ließ sie auflaufen. »Bei der Polizei suchen sie noch Personal. Du hättest sicher gute Chancen.«

Ich erinnerte mich an die Worte von Karls am Telefon: »Es ist vor allem wichtig, die Presse vor Ort ruhig zu halten.« Ich nahm seine Anweisung ernst. Auch wenn mein Gegenüber harmlos erschien, wusste ich, wie schnell sich Neuigkeiten in einer Kleinstadt herumsprachen.

Sie lachte gezwungen.

Na los, wechsle das Thema!

»Was machst du eigentlich?«, fragte ich.

»Ich bin freischaffende Künstlerin«, antwortete sie prompt und verlagerte dabei ihr Körpergewicht von einem Bein auf das andere. Dabei hüpften ihre braunen Locken über ihre Schultern.

»Tatsächlich? Ich wollte schon immer mal eine freischaffende Künstlerin kennenlernen. Was schaffst du denn?«

»Ich mache hauptsächlich Fotos«, sagte sie lächelnd und kniff ihre Augen zusammen, als fokussiere sie durch ein Objektiv.

»Welche Art von –«

»Dein Baguette ist fertig.«

Sie nickte zur Bedienung hinüber, die mir das Baguette entgegenhielt. Während ich im Portemonnaie nach den passenden Münzen suchte, vernahm ich ein genervtes Stöhnen aus der Reihe hinter mir. Wahrscheinlich wieder der blonde Hüne. Ich ignorierte es und bezahlte, ehe ich wieder zu Sina schaute.

»Wir sehen uns sicher später noch«, sagte sie grinsend und zeigte dabei ihre makellosen Zähne.

Ich war überrascht, dass sie das Gespräch so plötzlich abbrach. Andererseits war ich froh, keine heiklen Fragen mehr beantworten zu müssen.

Während sie auf ihre Bestellung wartete, machte ich mich auf die Suche nach einem freien Tisch.

Der Innenraum war größer, als ich zunächst angenommen hatte, dennoch schien es auf den ersten Blick so, als seien die Tische alle besetzt. Lediglich einzelne Plätze waren noch übrig. Doch die Blicke der Leute strahlten nicht gerade ein Willkommen aus.

»Entschuldigen Sie, ist dieser Platz noch frei?«, fragte ich schließlich einen Mann in einem hellblauen Pullover, der allein an einem Vierertisch saß und einen vollen Teller vor sich hatte.

»Nein, ist er nicht«, knurrte der Mann, den ich auf fünfundvierzig Jahre schätzte. Er musterte mich eindringlich, bis ich mich von ihm abwandte.

Es war sein Recht, Nein zu sagen. Ich hatte eine Frage gestellt, und er hatte ehrlich geantwortet.

Was soll’s?

Beim Blick über die verbleibenden Tische fiel mir ganz hinten in der Ecke ein Mann auf. Er winkte in meine Richtung. Ich schaute über meine Schulter, da ich mir sicher war, nicht gemeint sein zu können. Doch hinter mir stand niemand.

Ich blickte nur in ein Dutzend Augenpaare, die mich fragend musterten. Vermutlich wunderten sich die Leute, warum ich immer noch nicht Platz genommen hatte. Ich schaute wieder zu dem etwa sechzigjährigen Mann, der hinten am Tisch saß. Er winkte erneut und machte jetzt ein eindeutiges Zeichen, dass ich zu ihm kommen sollte. Als ich seinen Tisch erreichte, stand er auf und streckte mir seine Hand entgegen. Sofort fielen mir die gelb verfärbten Finger auf, die zweifellos die eine oder andere Zigarette gehalten hatten.

»Hallo! Lechat, mein Name. Sie müssen Piet Donker sein«, sagte er.

Bist du so leicht zu erkennen?

»Das ist richtig. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Wir schüttelten uns die Hand. Ich fragte mich zwar, woher er wusste, wer ich war, sprach ihn aber erst mal nicht darauf an.

In dem viel zu großen beigen Hemd und mit dem Schnauzer, der länger nicht gestutzt worden war, wirkte Lechat etwas vernachlässigt.

Gleiches könnte er auch von dir denken.

»Ich leite die Ermittlungen«, sagte er. »Zusammen mit Ihnen«, fügte er nach kurzer Pause hinzu. »Um halb drei treffen wir uns mit den anderen im Präsidium. Ich kann Sie mitnehmen, wenn Sie mögen.«

»Gern«, willigte ich ein und jubelte innerlich. Endlich stand jemand vor mir, der Ahnung hatte. Und noch dazu Manieren. Im Gegensatz zu den beiden Taxifahrern von heute Morgen hatte er schon mal etwas von Sozialkompetenz gehört. Wir setzten uns.

»Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf, Herr Donker«, begann Lechat und nahm einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse. »Halten Sie sich in den nächsten Tagen von der Presse fern.«

»Keine Sorge, ich bin nicht der Typ, der das Rampenlicht sucht«, beruhigte ich ihn.

»Das habe ich gesehen. Ich habe einen Teil Ihres Gesprächs mitbekommen.«

Er schaute demonstrativ in den Gang, wo die Künstlerin von eben ein braun glänzendes Bein vor das andere setzte.

Dabei hat er also aufgeschnappt, wer du bist.

»Vor Sina Kasper sollten Sie sich in Acht nehmen! An der haben sich schon einige Männer die Finger verbrannt. Und eine aufdringliche Journalistin ist sie obendrein.« Lechat stellte die leere Tasse zu den anderen beiden, die auf dem Tisch standen.

»Sie ist Journalistin?«, fragte ich überrascht. »Mir hat sie erzählt, sie sei Künstlerin.«

»Damit beleidigen Sie jeden Künstler. Sina hat einen Blog im Internet. Dort sind auch ein paar Fotos zu sehen, die aber für meinen Geschmack keinen künstlerischen Wert haben. In erster Linie ist sie auf der Suche nach Storys.«

»Scheiße«, sagte ich leise.

Deine Menschenkenntnis war auch schon mal besser.

Lechat tippelte mit seinen gelben Fingern auf dem Tisch.

»Sie haben ihr doch nichts erzählt, oder?«, fragte er, während er sich nach vorne lehnte und mich fixierte.

»Nein, natürlich nicht«, beruhigte ich ihn. »Aber gut, dass Sie mich warnen.«

Was für eine dreiste Frau …

Wohl oder übel musste ich mich darauf einstellen, dass in den kommenden Tagen weitere Leute versuchen würden, an Informationen zu gelangen. Ich tat gut daran, vorsichtig zu sein. Selbst ein Gerücht verbreitet sich in einer Kleinstadt wie ein Lauffeuer. Von der Wahrheit ganz zu schweigen.

»Raaffburg hat seine eigenen Gesetze«, bemerkte Lechat etwas pathetisch und lehnte sich wieder im Stuhl zurück. »Das werden Sie auch noch merken.«

Ich befürchtete, dass er recht behalten könnte.

Das Baguette schmeckte gut, aber leider war es zu klein für meinen Hunger. Mein Körper schrie nach Zucker. Gleichzeitig bemerkte ich, dass Lechat langsam ungeduldig wurde. Seine Finger machten jetzt wilde Sprünge auf dem Tisch.

»Möchten Sie auch noch was?«, fragte ich.

»Einen Kaffee können Sie mir noch mitbringen. Danach gehen wir aber raus an die frische Luft!«

Wenn die Tassen auf dem Tisch von ihm stammten, wäre das dann Kaffee Nummer vier.

»Wie Sie meinen«, sagte ich, auch wenn ich bezweifelte, dass die Luft draußen frisch sein würde.

In dem Bistro war sie inzwischen jedenfalls aufgeheizt. Halb Raaffburg musste hier sein. Ich stellte mich wieder hinten in die Schlange und legte mir bereits Kleingeld zurecht, um diesmal direkt bezahlen zu können, als es vorne in der Reihe plötzlich zu einer Rangelei kam. Ein blonder junger Mann in Shorts und orangefarbenen Turnschuhen wurde von dem Mann geschubst, der mir vorhin einen Platz an seinem Tisch verweigert hatte. Er trug noch immer beharrlich den hellblauen Wollpullover.

»Meinst wohl, du kannst dich hier einfach vordrängeln, was?«, bellte er in Richtung des Jungen.

»Ich wollte doch nur einen von den Kaugummis nehmen«, entgegnete der Junge mit schwacher Stimme und zeigte auf die mit Schokoriegeln und Kaugummis bestückte Vorderseite des Tresens.

Augenblicklich tauchte schon wieder der Zwei-Meter-Hüne mit den blonden Haaren auf und sprang dem Pulloverträger zur Seite.

»Du hast hier nichts zu wollen. Los, ab nach hinten!«, befahl er und versetzte dem Jungen einen Stoß in den Rücken.

Der Junge schlich sichtlich verunsichert und mit gesenktem Blick an mir vorbei Richtung Schlangenende. Währenddessen sah ihm der Hüne mürrisch hinterher und blieb schließlich an meinem Blick hängen. Feindselig starrte er mich an.

Inzwischen hatten sich einige Gäste von den Stühlen erhoben, um die Szenerie weiter verfolgen zu können. Manche schienen Gefallen daran zu finden, Gelächter machte sich breit. Doch dann, von einem Moment auf den anderen, schwenkten ihre Blicke hinüber zum Ausgang des Bistros. Dort stand ein etwa achtzigjähriger Herr im Anzug. In seinem Schatten, ein paar Zentimeter hinter ihm, erkannte ich den gut aussehenden Mann, der Sina vorhin die Tür aufgehalten hatte.

Auch die beiden Kerle, die den Jungen runtergeputzt hatten, schenkten ihre ganze Aufmerksamkeit dem Alten. Dieser schaute streng. Sein markanter Kopf, der auf einem starken Hals saß, war leicht nach vorne gebeugt. Seine Lippen wirkten angespannt und bebten leicht, bevor er zu sprechen begann. »Schluss jetzt! In diesem Haus wird gegessen. Hier ist kein Platz für Streitigkeiten.«

Die Stimme war kräftig und bestimmt. Der Hüne und der Mann im Wollpullover nickten ihm ohne Zögern zu und drehten sich im nächsten Moment demütig wie Messdiener zurück in Richtung Theke, wo ihr Essen sie erwartete. Auch die übrigen Gäste, die aufgestanden waren, setzten sich wieder.

Ich blieb als Einziger perplex zurück und beobachtete, wie der Alte gemeinsam mit dem hinter ihm stehenden Mann das Bistro verließ.

»Was ist passiert?«, fragte mich Lechat, der in der Zwischenzeit auf der Toilette gewesen war.

Nachdem ich ihm die Ereignisse geschildert hatte, sagte er: »Dupont und Lennert gehen sie am besten aus dem Weg. Das sind zwei echte Raubeine.«

Den Eindruck hatte ich auch gewonnen. Es schien nicht das erste Mal gewesen zu sein, dass die beiden Grobiane auf ihre Art und Weise in Erscheinung getreten waren. Mich beunruhigten seine Worte. Drohungen und körperliche Auseinandersetzungen gehörten hier offensichtlich zum Alltag. Und kaum jemand schien sich daran zu stören.

Lechat trank seinen Kaffee in einem Zug aus und stellte die Tasse ab.

»Danke für den Kaffee. Am besten, wir verschwinden jetzt.«

Belgische Finsternis

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