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Ein kleines Büro auf der Nordseite des Gebäudes diente als Vernehmungszimmer. Ella Weeber saß mit dem Rücken zur Glastür, durch die ich sie beobachtete. Sie war mit zehn Minuten Verspätung erschienen. Bekleidet mit einer weißen Bluse, die am Rücken von Schweiß durchnässt war. Mit beiden Händen umklammerte sie das bereits leer getrunkene Wasserglas, das vor ihr auf dem Tisch stand. Ihre Schuhe hatte sie ausgezogen. Die Zehen krallte sie fest in den grünen Teppichboden.

Wir gingen zu zweit hinein: Bender und ich. Damit wollte ich dem jungen Kollegen etwas Praxis verschaffen. Außerdem war ich der Meinung, dass ihm ein wenig Abwechslung vom Büroalltag mit Vanderhagen nicht schaden konnte. Lechat zeigte sich einverstanden und schaute von draußen zu.

»Wie geht es Ihnen?«

Die Frage sollte eigentlich der Auflockerung dienen, verfehlte aber ihr Ziel.

»Es ging mir schon mal besser. Danke.«

Sie drückte ihre Wirbelsäule durch, als hätte sie jemand ermahnt, aufrecht zu sitzen.

»Gibt es einen besonderen Grund, warum es Ihnen derzeit nicht gut geht?«

Sie zögerte mit der Antwort.

»Es ist, es ist nicht einfach …«, sie machte eine Pause, »… konfrontiert zu werden mit dem, was passiert ist.«

Mit so vielen Emotionen gleich zu Beginn hatte ich nicht gerechnet. Ich versuchte, sie zu beruhigen.

»Das ist ganz normal. Lassen Sie sich ruhig Zeit.«

Nach ein paar Sekunden schien sie sich gefangen zu haben.

»Wir haben den Schülerkalender von Felix Riegen gefunden.«

An ihrem langsamen Nicken erkannte ich, dass ihr der Name noch ein Begriff war.

»Am Tag von Felix’ Verschwinden ist etwas vermerkt.« Ich zeigte ihr den Schülerkalender und den Eintrag. Sie blinzelte dreimal, dann verzog sich ihr Gesicht, als wollte sie zu weinen anfangen. Doch ihr gelang es, die Tränen zurückzuhalten.

»Es ist derselbe Tag –«

»Ich weiß.«

Ich versuchte, soweit es ging zu vermeiden, sie mit den Geschehnissen zu konfrontieren, die ihre Familie betrafen. Allerdings sah ich mich auch in der Verantwortung, die Ermittlungen sorgfältig zu führen.

»Was möchten Sie wissen?«, fragte sie.

Kurz und schmerzlos. Sie wollte die Sache offensichtlich schnell hinter sich bringen.

»Können Sie uns schildern, wie Sie den Tag damals erlebt haben?« Meine Stimme war leise und fast ohne Intonation.

»Es war der letzte Schultag. Wir hatten morgens unsere Zeugnisse erhalten. Meins war gut, auch wenn ich kaum gelernt hatte.« Sie lächelte verlegen. Dann wurde sie wieder ernst. »Ich war im Wetzlarbad mit einigen Freundinnen schwimmen. Wir kamen früher zurück als geplant, da es irgendwann zu regnen begonnen hatte. Als ich in der Stadt aus dem Bus stieg, hat Wilma Ersfeld auf uns gewartet. Sie kam auf mich zu, und ich … ich hab sofort geahnt, dass was passiert sein musste. Wir setzten uns auf die überdachte Bank, da, wo heute der Petanque-Platz ist. Dann sagte sie mir …«

Der Druck war zu stark, eine Träne trat aus ihrem rechten Auge. Ella Weeber stützte ihren Kopf auf die linke Hand. Schluchzend fuhr sie fort.

»An danach kann ich mich kaum noch erinnern. Ich wusste nur, dass ich von Raaffburg wegwollte.«

Ich reichte ihr ein Taschentuch. Sie setzte ihre Brille ab und tupfte sich das Gesicht trocken.

»Wohin sind Sie dann mit Ihrem Vater gegangen?«

»Mein Vater hatte sich zwei Jahre vorher nach Las Vegas abgesetzt.«

»Sie waren also plötzlich allein?«

»Ich bin nach Trier gegangen«, antwortete sie nüchtern.

»Allein?«, wiederholte ich verwundert.

»Zu einer Pflegefamilie.« Sie klang bekümmert. Das Taschentuch wanderte von einem Auge zum anderen.

Dass sie als Belgierin bei einer Familie in Deutschland untergekommen war, überraschte mich nicht. Ich hatte davon gelesen, dass der deutschsprachige Osten Belgiens aufgrund der landesinternen Sprachbarriere verschiedene Kooperationen im Pflege- und Gesundheitsbereich mit den angrenzenden Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz unterhielt.

»Beschreiben Sie bitte Felix Riegen«, brachte Bender plötzlich in einer Stimmlage hervor, die klang wie eine Gitarrensaite kurz vorm Zerreißen.

Die Frage kam für meinen Geschmack zu früh, lieber hätte ich sie gegen Ende des Gesprächs gestellt.

Ella Weeber setzte die Brille wieder auf und blickte den jungen Kollegen an, als habe sie ihn gerade erst wahrgenommen.

»Felix war ein Freund meines Bruders. Früher, als sie noch Fußball gespielt haben, enger als später. Ich habe nicht immer alles mitbekommen … war ja jünger als die beiden.«

Sie kratzte sich fahrig am Ellbogen. »Er war schludrig und ungepflegt. Ich hab ihn meist nur gesehen, wenn er bei meiner Mutter Klavier gespielt hat. Ab und zu vertickte er auch Drogen.«

»Was für Drogen?«, fragte ich.

»Nichts Schlimmes. Hauptsächlich Hasch. Später wurde er ein bisschen seriöser. Hat für irgendwas gespart, das sagte er zumindest.« Ella Weeber machte ein ratloses Gesicht.

»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

»Ich weiß es nicht. Hatte nicht viel mit ihm zu tun.«

»Und Ihren Bruder?«

Meine Frage klang barscher als beabsichtigt. Ella Weeber stockte und blieb einige Sekunden lang stumm.

»Am Abend vorher«, antwortete sie schließlich. »Allerdings nur kurz. Er ist mit Freunden was trinken gegangen.«

»Trank er öfter?«

»Ja … nein. Eigentlich nein. Es fing alles mit diesem Kurzgeschichtenwettbewerb an. Gregory war immer sehr ehrgeizig. Er wollte mehr von der Welt sehen als nur Raaffburg. Sein ganzes Zimmer war voller Poster von Reisezielen.«

Sie gestikulierte wild, ohne zu merken, wie wirr sie antwortete.

Ich wurde hellhörig. »Was für ein Wettbewerb war das genau?«

»Wie ich schon sagte, Kurzgeschichten. Organisiert durch die Schule. Der Sieger durfte für zwei Monate im Schulaustausch nach Madagaskar.«

Madagaskar also.

»Und der Sieger stand schon vorher fest«, schlussfolgerte ich.

Sie nickte. »Keiner konnte so gut schreiben wie Gregory.«

»Aber er hat nicht gewonnen?«

Sie schluckte laut. »Nein. Felix war der Sieger.«

»Was hat Ihr Bruder dann gemacht?«

»Er war enttäuscht. Saß tagelang in seinem Zimmer, fing an zu trinken. Und dann … war er tot.« Ihr Gesicht verzerrte sich, und es kullerten erneut Tränen aus den müden blauen Augen.

Bender schien diesen Umstand nicht bemerkt zu haben. »Wann war das?«, fragte er, etwas mutiger als eben.

Ich merkte, dass Ella Weeber nicht genau wusste, was Bender meinte. »Der Wettbewerb«, konkretisierte ich.

»Ungefähr zwei Wochen vorher.« Ella Weeber schlug ihre Hände vors Gesicht. Dann nahm sie das dünne Brillengestell von ihrer Nase und wischte sich mit einem neuen Taschentuch trocken. Ihre Trauer wirkte ehrlich.

»Erlauben Sie mir noch eine Frage, Frau Weeber?«

Ich wartete ihre Reaktion ab.

Sie nickte mit leicht bebenden Lippen.

»Können Sie sich vorstellen, was der Grund für das im Schülerkalender notierte Treffen der beiden gewesen sein könnte?«

»Nein.«

Ihre Antwort kam schnell. Ich hakte nach.

»Keine Idee?«

»Es kann alles gewesen sein. Fußball spielen, schwimmen … Ich weiß es nicht.« Sie putzte lautstark ihre triefende Nase.

»War Gregory eifersüchtig auf Felix Riegen wegen des Wettbewerbs?«, fragte ich, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war.

Ihr Gesicht erstarrte, als überlegte sie, ob sie mir tatsächlich eine Antwort auf meine Frage geben wollte. »Er war enttäuscht. Er war aber nicht aggressiv, wenn Sie das meinen.«

»Wenn er tagelang enttäuscht in seinem Zimmer saß, kann er da nicht was ausgebrütet haben?«

Sie zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« Sie legte ihre Hände vors Gesicht und brach dahinter erneut in Tränen aus.

Die Konfrontation mit den Ereignissen von damals machte ihr mehr zu schaffen, als ich im Vorfeld angenommen hatte. Ich entließ sie und bedankte mich für ihr Erscheinen. Sie sicherte mir zu, noch bis übermorgen zu bleiben, sollten bis dahin noch Fragen aufkommen. Dann verließ sie niedergeschlagen das Vernehmungszimmer und trottete auf das Großraumbüro zu, durch das sie nach draußen gelangen konnte.

Derweil schlug ich den Weg in die Küche ein. Ich war noch in Gedanken bei ihrem Schicksal, als ich von hinten Vanderhagens gehässiges Lachen hörte. Als er sich meiner Aufmerksamkeit sicher war, drehte er übertrieben seine Fäuste vor den Augenhöhlen und senkte die Mundwinkel theatralisch nach unten, als würde er heulen.

Dieser Idiot! Er muss sie durch das Fenster beobachtet haben.

Ich zwang mich zur Selbstkontrolle. »Wussten Sie von dem Kurzgeschichtenwettbewerb?«

»Ja klar. Haben wir schon ermittelt.« Eine widerliche Selbstzufriedenheit prangte in seinem Gesicht.

Bleib ruhig. Es gibt jetzt Wichtigeres!

»Wo sind die Reisetickets, die der Gewinner bekommen sollte?«

»Die Tickets wurden nie gefunden.«

»Vielleicht wurden die Tickets registriert«, wandte Bender ein.

Vanderhagen schaute ihn abfällig an. »Wurde damals schon überprüft. Die Tickets wurden nie benutzt. Da haben wir die Bestätigung der Fluggesellschaft.«

»Womit wurde der Abgleich gemacht, wenn die Tickets nicht gefunden wurden?«, prüfte ich seine Aussage. Ich wollte auf Nummer sicher gehen.

»Mit der Bestellbestätigung natürlich«, erwiderte er gereizt. »Da standen die Ticketnummern drauf.«

»Und trotzdem glauben Sie, dass Felix Riegen nach Afrika ausgewandert ist?«

Seine Augen zogen sich eng zusammen. »Denken Sie wirklich, der Junge ist so blöd und benutzt die Tickets? Der hat einfach andere gekauft.«

»Was? Auch für Madagaskar?«, fragte ich erstaunt.

»Ach«, winkte er ab. »Was weiß ich, was der Knabe gemacht hat.«

»Mit Behauptungen kommen wir hier nicht weiter. Haben Sie Belege dafür?«, fragte ich, erntete dann aber ein zähneknirschendes Kopfschütteln.

Innerlich machte ich es ihm nach. Ich konnte es nicht leiden, wenn Menschen lose Behauptungen ohne Fundament in die Welt setzten und damit nicht nur ihre, sondern auch meine Zeit vergeudeten.

»Prüfen Sie bitte bei den Behörden in Madagaskar, ob dort jemals ein Felix Riegen eingereist ist!«, sagte ich streng. Mit ernster Miene zog Vanderhagen Richtung Schreibtisch ab. Einen Augenblick danach entfernte sich auch Bender, um seinen Block mit Notizen zu füllen.

Ich nutzte die kurze Pause, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. Während ich trank, lehnte ich im Türrahmen. Meine Aufmerksamkeit fiel auf Ella Weeber, die ich durch die Scheibe im Großraumbüro sehen konnte. Zu meiner Verwunderung kauerte sie am Boden und hielt ein Blatt Papier in der Hand, das offenbar zusammen mit anderen heruntergefallen war. Ihre Augen wirkten groß und ließen vermuten, dass sie etwas Schreckliches sahen. Ich wollte zu ihr, fragen, was los war. Doch noch bevor ich die Tür erreicht hatte, lief sie hinaus in Richtung Treppenhaus.

Ich eilte ihr hinterher, doch ich kam zu spät. Ich konnte nur noch beobachten, wie ihre Beine einknickten und ihr Körper seitlich gegen die Wand prallte. Sie knallte mit den Knien auf den Boden. Ihr Mund war weit aufgerissen, brachte aber keinen Laut hervor. Ihre Arme lagen schwach in ihrem Schoß.

Dann brach sie in lautes Schluchzen aus.

»Wenn ich an ihn denke, habe ich oft dieses Bild vor Augen.«

Es war das Erste, das Ella Weeber sagte, nach mehreren Minuten, in denen ich versucht hatte, sie zu beruhigen.

Die angenehme Kühle im Treppenhaus hatte ihr offenbar gutgetan.

»Er sitzt am Küchentisch, turnt auf der Eckbank rum und isst zwischendurch Cornflakes. Die Originalen. Er liebte sie. Aber sosehr er sie geliebt hat, er ließ immer einen in der Schüssel liegen. Als wäre dieser eine kleine Cornflake zu viel. Ich musste darüber immer lachen.«

Sie unterbrach sich, weil sich eine Wespe, die sich ins Treppenhaus verirrt hatte, in ihre blonden Locken setzte. Sie zog ihre spitze Nase hoch und schlug das kleine Tier im nächsten Moment mit der Hand beiseite. Dann holte sie tief Luft und versuchte aufzustehen. Doch noch bevor sie den ersten Schritt tun konnte, sackte sie erneut zusammen. Ich fing sie auf und hielt sie fest in den Armen.

»Ich muss los«, erklärte sie dennoch überstürzt.

»Sie müssen sich jetzt erst mal erholen«, entgegnete ich.

»Pierre. Mein Sohn.«

»Was ist mit ihm?«

»Sie könnten ihn nicht abholen?«

Ihre Augen waren gerötet von den Tränen.

»Sicher. Wo ist er denn?«

Sie schluchzte, leiser als vorhin. »In Trier, am Pfadfinderheim Pater Damian. Um achtzehn Uhr.«

»Ich werde einen Kollegen schicken«, versicherte ich.

»Danke. Ich werde ihm schreiben, dass ein Polizist kommt«, sagte sie erschöpft.

Wieder war es ein paar Minuten still. Dann richtete sie sich mühsam auf. Ich stützte sie, aber nur kurz. Denn diesmal konnte sie allein stehen. Sie starrte mir in die Augen.

»Ich habe sie noch nie gesehen.«

»Wen oder was?«, fragte ich leise.

Ella Weeber schluckte laut. »Die Bilder.«

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