Читать книгу Belgische Finsternis - Stephan Haas - Страница 15
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ОглавлениеLechats Golf Variant wirkte trotz seines respektablen Alters gut in Schuss. Im Wageninneren roch es nach frischem Lavendel, was wunderbar zu den blaugrauen Sitzen passte, die sich in einwandfreiem Zustand befanden. Die Klimaanlage brummte auf der höchsten Stufe und blies mir kalte Luft in Augen und Nase. Ich machte die Lüftungsklappen halb zu, um dem Schnupfen, der heute Morgen angeklopft hatte, den Riegel vorzuschieben.
»Wenn es Ihnen zu kalt ist, sagen Sie einfach Bescheid«, sagte Lechat, während er sich den Gurt umlegte. Ich staunte über die Umsicht meines neuen Kollegen.
»Danke, ein bisschen kühle Luft tut ganz gut nach der Aufregung«, sagte ich, während ich mich zwang, nicht an Elise und ihren neuen Lover zu denken. Wer auch immer dieser war.
Ich richtete meinen Blick nach draußen, auf grüne Wiesen und Apfelbaumplantagen, die den Großteil der Landschaft prägten. Auf einem Holzschild las ich: »Hier wird Sirop de Liège hergestellt«. Die Delikatesse der Region, eine Art Apfelkraut, das gern zu Käse gegessen wird, war mir aus Brüssel bestens bekannt. Wenn wir nicht gerade erst losgefahren wären, hätte ich mich für einen kurzen Stopp eingesetzt. So aber fuhren wir weiter, entlang der Buchen- und Dornenhecken, die das flache Grün in Abschnitte unterteilten und den grasenden Kühen aufzeigten, zu welchem Bauern sie gehörten. Hier und da stand eine wuchtige Eiche oder eine dicke Buche, in deren Schatten ein paar der Tiere dösten. Hinter den Wiesen erkannte ich einige Bruchsteinhäuser. Sie standen am Fuß der großen Burg, die am Horizont über das Städtchen wachte.
»Wer kümmert sich um die Burg?«
Lechat räusperte sich und verzog das Gesicht. »Niemand. Die verrottet. Wie wir alle irgendwann.«
Was für eine düstere Sicht auf das Leben. Und doch sagte er nur die Wahrheit.
»Warum trägt sie kein Dach mehr?«
»Oh … jetzt tauchen wir in die Geschichte ein«, sagte er mit einem Lächeln im Gesicht, offensichtlich froh darüber, dass sich jemand für die Historie seines Heimatortes interessierte. »Es wurde Anfang des 19. Jahrhunderts abgenommen, um eine unverhältnismäßig hohe Steuer zu umgehen. Bauwerke ohne Dach waren nach preußischem Erlass von dieser Steuer ausgenommen.«
Ich blickte ihn fragend an.
»Ja, die Region hier gehörte damals zum heutigen Deutschland. Erst seit 1920 – dem Versailler Vertrag sei Dank – dürfen wir uns Belgier nennen.« Er grinste zufrieden.
Ich erinnerte mich, diese Information vorher schon einmal irgendwo aufgeschnappt zu haben, aber anscheinend hatte ich sie nicht ausreichend abgespeichert.
»Weiß man, wem die Burg gehörte?«
»Sie wurde im 14. Jahrhundert von einer limburgischen Adelsfamilie erbaut, damals hatte die Burg noch einen riesigen Wassergraben – sie galt als uneinnehmbar. Einige Jahre später ging sie dann an eine andere Adelsfamilie, bevor sie schließlich in private Hände fiel«, sagte Lechat so lässig, als hätte er die Antwort schon hundertmal geliefert.
»Was war an dem Ort damals so reizvoll gewesen, dass sich hier Adelsfamilien niederließen?«, fragte ich.
»Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen«, sagte er trocken. »In Raaffburg wurden vom 14. bis zum 18. Jahrhundert im großen Stil Tonmaterialien, hauptsächlich Krüge, gefertigt. Raaffburg war einst das Mekka der Töpfer, wenn Sie so wollen. Damit sind natürlich einige Leute reich geworden.«
»Interessant«, sagte ich. Eine solche Geschichte hätte ich dem kleinen Ort gar nicht zugetraut. Doch eigentlich war ich ja für etwas Wichtigeres hier. »Was können Sie mir denn über den Fall erzählen?«, fragte ich Lechat, der linkslastig im Sitz hing und die rechte Hand aufs Steuer legte.
»Warten Sie! Tun Sie mir einen Gefallen und unterschreiben Sie noch dieses Formular.«
Er setzte sich aufrecht hin, griff mit einer Hand nach hinten auf die Rückbank und zog ein Papier hervor.
»Was ist das?«
»Damit bescheinigen Sie, dass Sie die Ermittlungen leiten«, sagte Lechat. »Karls bat mich darum. Er meinte, das müsste sein, da Sie eigentlich in Brüssel angestellt sind. Für die Bezahlung und so.«
Ein solches Formular hatte ich bisher weder unterschrieben noch überhaupt gesehen. Allerdings hatte ich auch noch nie regionenübergreifend gearbeitet.
»Vorher dürfen wir mit den Ermittlungen nicht beginnen«, brummte Lechat und lenkte den Wagen ruckartig nach links in eine Birkenallee.
Ich las alles in Ruhe durch. Einmal. Und ein zweites Mal. Es handelte sich allem Anschein nach um ein routinemäßiges Amtsformular, das die Verantwortung in diesem Fall festlegte. Ich setzte zur Unterschrift an.
»Wo steht denn Ihr Name?«, fragte ich und schaute dabei auf Lechats Schnauzer, der wirklich dringend einen Schnitt benötigte.
»Nirgendwo«, verkündete er mit einem gewissen Stolz. »Ich bin seit zwei Jahren pensioniert, mache das alles nur für die Leute hier«, stellte er klar und lehnte dabei seinen Kopf gegen die Nackenstütze, während die grauen Haare über seine Stirn wehten.
»Sie sagten doch, Sie leiten die Ermittlungen mit mir zusammen«, rief ich ihm seine Aussage von vorhin in Erinnerung.
»Ich unterstütze Sie, das ist richtig. Aber ich mache das aus freien Stücken. Ich kenne die Stadt und die Menschen. Sie sind der Studierte aus Brüssel mit dem Fachwissen. Und zusammen klären wir den Fall auf. So dachte Karls sich das wohl.«
Ich hatte Karls während unseres Telefonats auch so verstanden, dass ich die Ermittlungen leiten sollte. Jedoch wuchsen erneut meine Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war zuzusagen.
»Was ist mit den anderen?«, fragte ich und drehte den Kugelschreiber erst mal wieder ein.
»Bender kommt frisch von der Polizeischule. Von ihm können Sie nicht viel erwarten.«
Unweigerlich musste ich daran denken, wie der lange, blasse Schlaks bei meiner Frau zu Hause die Treppe heraufgelugt hatte. Wenn man das Wort »Unerfahrenheit« googelte, müsste einem sofort der Ausdruck dieses Jungen angezeigt werden.
»Und Vanderhagen«, stöhnte Lechat. »Er ist gut, wenn alles nach seinem Kopf geht. Passiert das nicht, ist er schwierig.«
Damit bestätigte Lechat den Eindruck, den ich von dem meckernden Rotschopf gewonnen hatte.
»Er hat wahrscheinlich zu viel verkehrt gemacht in der Vergangenheit. Speziell in diesem Fall«, sagte Lechat.
»Wieso, was war denn?« Ich richtete mich kurz auf, um dann doch wieder zurück in den Sitz zu rutschen.
»Typisch Vanderhagen halt. Es wurde eine vermeintliche Spur gefunden, und er hat nicht angemessen reagiert. Vanderhagen glaubte, den Täter unter Druck setzen zu müssen. Gleichzeitig spielte er mit der Presse. Als die Spur sich schließlich als Dummejungenstreich herausstellte, hatte die Presse ihre helle Freude.« Während er erzählte, fuhr Lechat mit dem Zeigefinger über seinen Schnauzer, so als spürte er selbst, dass die orangegelben Haare seine Oberlippe längst erreicht hatten.
Vielleicht waren diese schlechten Erfahrungen, die die Raaffburger Polizei durchlebt hatte, eine Erklärung für die eindringlichen Warnungen vor der Presse.
Trotz meiner weiterhin bestehenden Skepsis unterschrieb ich und legte das Formular wieder auf die Rückbank.
Unmittelbar danach begann Lechat mit ruhiger Stimme von dem Fall zu erzählen und reichte mir ein Foto, das einen Jugendlichen zeigte. »Felix Riegen war sechzehn Jahre alt, als er am 30. Juni 2003 zum letzten Mal gesehen wurde.«
Für sein Alter war er recht muskulös gebaut gewesen. Aus dem Kapuzenpulli mit Camouflagemuster ragte ein kräftiger Hals. Akne zeichnete die Stirn, die Haut auf den Wangen war gereizt. Die braunen, leicht gewellten Haare glänzten durch das etwas übertrieben aufgetragene Gel. Die ebenfalls braunen Augen waren leicht zugekniffen, doch der Blick war eindeutig: voller Sehnsucht nach Zuneigung und Anerkennung.
Ich hatte das Bild schon einmal gesehen. Damals, als es in der Presse herumgegangen war.
»Seine Eltern gaben ihr Bestes, waren aber letztlich mit dem Jungen überfordert. In der Schule lief es schlecht. Er stand kurz vor dem Verweis. Zudem ging in Raaffburg in dieser Zeit der Köpfchensammler um«, zählte Lechat auf, während er ein Papier aus dem Seitenfach seiner Tür zog und es mir hinhielt.
»Das ist der Abschiedsbrief des Jungen. Wir haben ihn nach seinem Verschwinden in seiner Tasche gefunden.«
Ich begann zu lesen:
Viel zu tief ist der Morast,
ein Ausweg nicht in Sicht,
Wie verlassen diesen Knast?
Die Mauern sind zu dicht.
Lange Listen alter Klagelieder,
kein Tag ohne Mord,
Wann kommt das Böse wieder,
oder ist es gar schon fort?
Träumend in der Wiese,
mit Füller und Papier,
helfen flinke Diebe,
zu verschwinden hier.
Palmenzweige hängen tief,
versprechen Duft von Kokosnüssen,
auch wenn es laufen sollte schief,
wird meine Rückkehr warten müssen.
Zwar assoziierte ich mit Kokosnüssen nicht unbedingt Afrika, sondern eher karibische Inseln, im Grunde bestätigte das Gedicht aber Vanderhagens Vermutung, dass der Junge sich abgesetzt hatte. Hätte ich nur auf Basis dessen urteilen müssen, was Lechat mir bisher vorgelegt hatte, wäre ich zum gleichen Schluss gekommen. Was ließ Karls also daran zweifeln?
»Was ist das Problem in diesem Fall, Herr Lechat?« Ich sprach absichtlich förmlich, in Erwartung einer präzisen Antwort.
»Sein Vater«, sagte Lechat und drehte das Blatt um, das ich in den Händen hielt.
Zum Vorschein kam das Abbild eines gebrochenen Mannes, der regelrecht zu verschwinden schien. Dem Aussehen nach zu urteilen aß und trank dieser Mann nicht einmal die Mindestmengen dessen, was man zum Überleben benötigte. Tief eingefallene Wangen, trockene Lippen, krause Haare. Auf der Stirn traten die Adern deutlich hervor. Sein Blick, voller Leere, ging an der Linse vorbei.
»Ich weiß, kein schöner Anblick«, bemerkte Lechat und machte einen Schlenker nach links auf eine Straße, die durch einen Wald führte. »René Riegen ist überzeugt davon, dass Felix nicht freiwillig gegangen ist. Er sucht ihn bis heute. Vierundzwanzig Stunden. Jeden Tag.«
Ich erinnerte mich an das Plakat mit der schlechten Alterungssimulation, das vor dem Bistro hing. Trotzdem verstand ich immer noch nicht, warum ich hier war und was wir in diesem Fall tun sollten. Oder, besser gesagt, was wir tun konnten.
»Wenn Sie jetzt gleich zu Ihrer Rechten schauen, sehen Sie den größten Arbeitgeber von Raaffburg«, unterbrach Lechat meine Gedanken mit sanfter, aber bestimmter Stimme.
Hinter einer lang gezogenen, etwa zwei Meter hohen Mauer aus Bruchstein ragte ein riesiges Gebäude aus roten Ziegeln auf, das eine leicht verblichene grüne Aufschrift trug: »Rehnhof Fertigkost«.
Wir mussten anhalten, weil vor uns ein Lkw Probleme beim Einbiegen in die kleine Toröffnung hatte. Das gab mir Gelegenheit, einen Blick in das Firmeninnere zu werfen. Ich sah vier Männer in Anzügen, die miteinander redeten. Zwei von ihnen waren mir zugewandt, sodass ich ihre Gesichter erkennen konnte. Der Mann links war der Alte aus dem Bistro. Er hörte seinem Gegenüber bedächtig zu. Neben ihm stand mit breiter Brust der Mann mit den behaarten Unterarmen, der im Bistro hinter dem Alten gestanden hatte.
»Die beiden dort waren doch auch im Bistro zum Essen«, sagte ich.
»Das sind Alvin Rehnhof und sein Sohn Frank. Ich glaube aber nicht, dass die beiden dort gegessen haben. Den Rehnhofs gehört halb Raaffburg, auch das Bistro. Die haben Geld bis zum Abwinken«, sagte Lechat.
»Ein Kontrollgang also«, sagte ich in Erwartung einer weiterführenden Erklärung.
»Soviel ich weiß, vermietet Alvin Rehnhof das Bistro schon seit Ewigkeiten. Es liegt nah an der Tiefkühlfabrik, sodass die Belegschaft hier oft zu Mittag isst. Ein wesentlicher Grund für Rehnhof, dass das Ding weiter existiert«, erklärte Lechat und schaltete einen Gang hoch.
Mein Hemd war durch die Klimaanlage beinahe ganz getrocknet, meine Haut fühlte sich an, als wäre sie mit einer dünnen Schicht Zuckerguss überzogen. Am liebsten wäre ich kurz unter die Dusche gesprungen. Aber wo? Ich hatte ja noch nicht mal einen Plan, wo ich heute schlafen würde. Außerdem hatte ich in der Eile am Morgen, nachdem mich Bender abgeholt hatte, völlig vergessen, Wechselklamotten mitzunehmen.
»Übrigens, das Hotel ist voll. Ich werde aber gleich bei Wilma Ersfeld in der Schule nachfragen. Sie ist ein guter Mensch, der öfter Hilfsbedürftige aufnimmt«, sagte Lechat, der meine Gedanken gelesen haben musste. Hilfsbedürftig – wahrscheinlich passte die Beschreibung ganz gut zu mir.
»Das ist sehr freundlich«, antwortete ich. »Können Sie mir auch sagen, wo man hier günstig Kleidung kaufen kann?«
Er musterte mich von oben bis unten.
»Haben Sie nichts dabei?«
Glaubt er etwa, ich bin zum Shoppen nach Raaffburg gekommen?
»Nein.«
Er überlegte kurz, bevor er entschlossen weitersprach. »Ich bringe Ihnen was bei Wilma vorbei, falls Sie dort schlafen können. Brauchen Sie sonst noch was?«
»Nein, sonst ist alles gut. Ich danke Ihnen.«
Auch wenn ich nicht scharf darauf war, in seine Unterhosen zu schlüpfen, war ich ihm für seine Hilfe dankbar. Zahnbürste und Duschgel würde ich mir später selbst besorgen. Und sicher auch Unterwäsche.
»Keine Ursache. Das kriegen wir schon hin, machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte Lechat mich wie ein Vater.
Wir bogen in eine Straße mit mehreren Reihenhäusern, an deren Ende ich das Schild der Polizei erkennen konnte. Bevor wir jedoch im Präsidium auf Vanderhagen und Bender treffen sollten, wollte ich unbedingt noch in Erfahrung bringen, warum dieser Fall so viel Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Karls erwähnte am Telefon eine neue Spur. Worum handelt es sich dabei?«
Lechat zupfte nervös an seiner Hemdtasche. »Ein Mädchen und ein Austauschschüler haben bei Aufräumarbeiten in der Schule den alten Schülerkalender des vermissten Jungen gefunden.« Lechat quetschte sich eine Zigarette zwischen die trockenen Lippen. »Der Austauschschüler hat sich vor lauter Angst in die Hosen gemacht«, fuhr er lachend fort.
»Und?«, fragte ich ungeduldig.
»Der Junge hat wenig Schulisches eingetragen, war wohl nicht der Fleißigste. Aber hier und da sind geheimnisvolle Kürzel vermerkt. Wir haben sie zwar noch nicht entschlüsselt, aber sie könnten interessant sein. Besonders der Eintrag, den er am Tag seines Verschwindens gemacht hat.«
Lechat parkte den Wagen und zog die Handbremse.
»GW«, sagte er und schaute mich mit seinen hervortretenden blauen Augen so an, als sei bereits alles gesagt.
»Ja und? Gibt es jemanden, auf den die Initialen passen?«, fragte ich, nachdem wir uns fünf Sekunden lang stumm angeschaut hatten.
»Ja. Gregory Weeber.«
»Wo ist das Problem? Laden wir den Jungen vor!«, sagte ich, während mir einfiel, dass der Junge mittlerweile wohl ein Mann sein musste.
»Das geht leider nicht. Der Junge ist tot.«