Читать книгу Torres del Paine - Stephan Hamacher - Страница 27

Neon Vanitas

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Neun Stunden in der Kälte, bevor der Abzählreigen beginnt und sich die Kristallkugel senkt, dicht gedrängt in Menschenmassen zwischen Absperrgittern und Leuchtreklame, an einer Kreuzung, die von vielen fälschlicherweise für den Nabel der Welt gehalten wird. Langsam gleitet der strahlende New Year’s Ball hinab, mit einem Gewicht von fünf Tonnen, mit zweitausendfünfhundert Kristallen für das Gänsehautgefühl, das wenigstens für einige Minuten den eisigen Wind vergessen lässt. Eine Mischung aus morbider Melancholie und trotziger Optimistik. Feuerwerk, irgendwo, doch nicht hier. Und natürlich kein Alkohol. Das Zählen der Sekunden ist Formsache, ein Ritual, das alle Welt kennt, in allen Sprachen. Ein Ort für Legenden, und seien sie noch so abgestanden. Musik dröhnt durch die Verstärker über die Lautsprecher. Beschallung als alternativer Rausch zum erzwungenen Promilleverbot. Einige Kilometer weiter Richtung Wasser die Silhouetten der Neujahrsjäger auf der zugigen Brooklyn Bridge. Hier wird Lichterregen geboten, eine Viertelstunde lang, so wie an vielen Orten dieser Welt, zeitlich versetzt wie beim Abbrennen einer endlos scheinenden Kette von Wunderkerzen. Nicht so laut, nicht so teuer, nicht so exklusiv. Zwischen den Häuserschluchten endlose Partys, einige davon mit Ausblick aus schwindelnden Höhen.

Jenseits des Wassers, auf der Grand Army Plaza, ein Feuerwerk, gerichtet auf die Long Meadow im Prospect Park. Licht für eine Lichtung, eine Illumination der erbarmungslos verrinnenden Zeit, eigentlich eine Tautologie. Hier Vanitas in Pyrotechnik, dort Vanitas in Neon. In einem Klub werden Beatles-Lieder gespielt, die ganze Nacht. Strawberry Fields forever, jetzt im tiefen Winter. Einige Ecken weiter hat man eine kleine Strwaberry-Fields-Gedächtnis-Blumenuhr eingerichtet, im Park, nicht weit von der Stelle, an der der Träumer-Beatle John Lennon erschossen wurde. Ach ja, der Park. Der ist ja auch noch da, finster und nutzlos um diese Uhrzeit. Eigentlich. Doch für alle, die eine verrückte Alternative suchen, gibt es das Mitternachtsrennen in dieser Grünanlage, die gößer ist als Monaco. Muskeln statt Musik, Schweiß statt Schaumwein. Sechseinhalb Kilometer durch die relative Dunkelheit. Zuvor gab es noch eine Lasershow, Feuerwerk und Musik. Ganz ohne Optik und Akustik geht es dann doch nicht.

Für die eher Besinnlichen wurde der New Year’s Eve Wishing Wall ins Leben gerufen, ein stummer geduldiger Märchenonkel aus Wand. Wer auch wider besseren Wissens Wünsche hat und Forderungen stellt an die kommenden dreihundertfünfundsechzig Tage, möge das auf einem Fetzen Papier deklarieren und im Visitor Center ganz in der Nähe der Kristallkugel an die Tafel pinnen. Aus den Wünschen auf Zellulose wird dann, wie passend, Konfetti, und der regnet um Mitternacht auf den vermeintlichen Nabel der Welt. Womit sich der Kreis schließt. Diese Stadt liebt Konfetti, bis auf die Müllmänner natürlich, und so werden Wünschen geschreddert, lange bevor sie überhaupt eine Chance haben, erfüllt zu werden. Millionen Lichter sorgen für Illusionen, aber das ist an dieser Stelle in dieser Nacht kaum anders als in all den anderen Nächten.

Weihnachten ist vorbei, der große Schnee mag noch kommen, die Zeit der Kristallkugeln näher sich dem Ende, für dieses Mal. Dann beginnt wieder alles von vorn. Marathon und Paraden, Sommerkonzerte, Feuerwerk am Tag der Unabhängigkeit, Truthahnessen, Weihnachten, Silvester, Neujahr. Ein unvermeidlicher Zyklus, der einem in gediegenen Abständen wie ein Spiegel das eigene Älterwerden vorhält. Die Falten, auch die Sorgenfalten, die grauen Haare, der Bauchansatz. Die gnadenlose Zeit eben. Kinder, was haben wir gelacht und geträumt und geflucht und gewünscht und geschuftet und vertrödelt, und über all das haben wir die Zeit vergessen, und jetzt ist sie wieder hier, klopft an die Tür und will reingelassen werden. Wir mögen sie eigentlich nicht, die Zeit, aber wir werden sie nicht los und akzeptieren sie notgedrungen als einen Aufpasser, einen ständigen Begleiter, einen Stalker, mit dem man sich irgendwie abgefunden, arrangiert hat. Und damit es uns nicht allzu peinlich ist, mit diesem Sensenmann Zeit gesehen zu werden, drapieren wir uns und die Zeit gleich mit, hübschen uns auf, so gut es eben geht, und sei es mit Kristallkugeln, Glitzerkram und Feuerwerk. Am Ende landen wir dann auf dem Greenwood Cemetary, von wo es einen zauberhaften Ausblick auf die Wolkenkratzerkulisse gibt, diesem Stein- und Glaswald von Babel, es sei denn, man liegt horizontal gebettet unter der Grasnabe. Dann ist einem der Ausblick vermutlich egal. Der Mensch hat fünf Sinne, auf die er sich in diesen Tagen wieder verstärkt besinnt, so sehr, dass er sich unangenehmerweise daran erinnert, in den vergangenen dreihundertfünfund-sechzig Tagen vielleicht nicht immer Herr seiner Sinne gewesen zu sein, den einen oder anderen Sinn für etwas oder jemanden verloren zu haben und jetzt meint, das alles in einem kurzen Zeitraum wieder kompensieren zu müssen. Darum gibt es Feuerwerk für die Augen, Musik für die Ohren, von Beatles an Silvester bis Wiener Klassik an Neujahr, nachdem alle Weihnachtslieder wieder eingemottet und in die Kiste verstaut worden sind, auf Nimmerwiederhören bis zum nächsten Jahr, zusammen mit den Kugeln und dem Lametta und den Lichterketten, auf Nimmerwiedersehen bis zum nächsten Mal. Dann gibt es noch die Kälte zum Tasten, den Braten zum Riechen und den Sekt für den Geschmack. Alles zusammen vernebelt dann wieder die Sinne, aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Die Menschen gehen nach Hause, zu Fuß, mit der U-Bahn, mit dem Taxi oder auch nur mit den Gedanken. Kleine schwarze Silhouetten, für noch kleinere Momente hell erleuchtet durch den Schein am Himmel explodierender Raketen. Flackerlicht. Für den Bruchteil einer Sekunde steht einjeder einmal im Strahl der diffusen bunten Scheinwerfer, die für den Bruchteil einer Sekunde in den Himmel geworfen wurden. Dann werden aus Silhouetten wieder Schatten und aus Schatten vage Konturen, die schwankend nach Hause trotten, wo immer auch zu Hause sein mag. Man wünscht sich gegenseitig alles Gute, auch den Fremden, selbst solchen vertrauten Fremden wie dem bösen alten Stalker Zeit, und man wünscht sich selbst alles Gute, dann ist es auch mal gut mit den guten Wünschen und sowieso mit den guten Vorsätzen, aus denen auch diesmal nicht mehr werden wird außer Konfettiregen. Verpuffte Böller, geschredderte Wünsche, erloschene Lichter, verklungene Musik, Essensreste für den Abfall und klebrige Zuckerreste im Sektglas. So ist das hier, so ist das überall. Aber hier ist es weitläufig, es gibt viel Wasser zwischen den hohen und den niedrigen Häusern, und man kann sich leicht verlaufen, man kann viel tun, um einander nicht begegnen zu müssen. Und wenn man dann ausreichend einander nicht begegnet ist, landet man nebeneinander auf dem Green Wood Cemetary oder irgend einem anderen Knochenacker auf diesem Planeten der Proleten. Dann verlöschen die Neonlichter, und alles wird gut. Niemand singt mehr Auld Lang Syne. Endlich Ruhe.

Torres del Paine

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