Читать книгу Torres del Paine - Stephan Hamacher - Страница 29

21° 18? 32? N, 157° 49? 34? W

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Es ist warm. Über der Ohnedachterrasse des Flughafens schmeichelt eine Brise, sie haucht durch die glaslosen Fenster. Gestern bis ich in ein Heute geflogen, das gestern noch ein Vorgestern war. Heute war gestern schon heute, oder, anders gesagt, ich erlebe zweimal Neujahr. Ich bin also älter geworden und gleichzeitig jünger, da ich zumindest dem Datum nach nicht älter geworden bin. Ich habe die Stunden der Nacht nicht gezählt, auch nicht die Stunden des Flugs, dazu bin ich zu müde und zu verwirrt. Ich erinnere mich nur noch an die Zwischenlandung auf der Piste von Nadi bei strömendem Regen, den ich allerdings nicht spürte, da ich in der Transithalle des Flughafens festsaß.

Ich weiß nicht, wie Nadi aussieht, es war ja dunkel. Es soll dort Zuckerrohrfelder geben. Auf jeden Fall gibt es dort eine fast leere nächtliche Wartehalle mit wenigen Fluggästen. Oder vielleicht sollte ich sagen: Auf jeden Fall gab es dort noch gestern eine fast leere nächtliche Wartehalle mit wenigen Fluggästen. Aber da gestern war, was heute ist, nehme ich an, die Halle steht noch. Hier gehören wir zu den letzten, die Silvester feiern. Ich halte es da mit der Bibel: Die letzten werden die Ersten sein. Oder ging das umgekehrt? Die Weihnachtsmänner auf Surfbrettern stehen noch als Dekoration vor den geschlossenen Läden. Die Müllabfuhr der Zeit macht Pause.

Die Sonnenuntergänge vom Diamond Head sind wie die Sonnenaufgänge in Kamtschatka. Dieselbe Sonne, derselbe Ozean. Gebrauchte Tage. Wären wir alle eine große Familie, und wäre Samstag Badetag, wir wären die letzten Nachzügler, die in die Wanne steigen dürften, und das Wasser wird auch nicht gewechselt. Das klingt nicht schön, aber es ist uns im Grunde egal. Denn wir sehen uns nicht am Ende der Schlange, man kann den Spieß auch umdrehen, wo wir sind, ist vorn. Und Neujahr feiert jeder ohnehin wannanders, woanders, wieanders. Die Chinesen feiern kein Neujahr, sondern ein Frühjahr. Die Russen haben einen kyrillischen Kalender, der deutlich nachgeht. Soviel zu Kamtschatka. Und auf einigen Inseln ist Feuerwerk verboten, weil herabfallende Raketen die Strohdächer entflammen könnten. Hier haben einige Nachtschattengewächse das erste Bier des Tages getrunken, danach das letzte Bier des Tages. Und einige, direkt daneben heimlich im Dunkeln auf dem Bürgersteig hockend, haben es halt umgekehrt gehalten: Zuerst das letzte Bier des alten Tages, und dann das erste des neuen Tages. So kann man sich selbst täuschen.

Alles dreht sich doch nur im Kreis, und manche Menschen drehen sich nur um die eigene Achse. Kein Wunder, dass sie immer nur sich selbst sehen. Es ist wie bei diesem Dorian Gray: Die Wahrnehmung bleibt konstant, auch wenn der Mensch altert. Oder ist es sein Spiegelbild, das älter wird, während sein wahres Ich auf ewig jung bleibt, bis hin zum Tod?

Manche kaufen ein Bild wegen nur wegen der kostbaren Patina, andere verachten das Bild, weil es Patina angesetzt hat. Manche zahlen für das Bild, das andere auf dem Trödelmarkt für den Preis eines billigen Pinsels ergattert haben, schwindelerregende Summen. Ist es das Wert, das Bild, die Patina? Was macht dieses Bild so teuer, die Farben, die Leinwand, der Rahmen, die Patina oder doch der Name des Künstlers? Wer garantiert, dass mein Picasso übermorgen noch das wert ist, was er heute gekostet hat? Und wer liest noch Böll, einen Autor, der einmal den Nobelpreis ins Jackett gesteckt hat und heute so tot wie fast vergessen ist, nun ja, vergessen wäre vielleicht übertrieben, aber ziemlich ungelesen, das trifft es schon eher. Ein ungelesener Böll muss so viel wert sein wie ein Picasso im Tresor, nämlich nichts. Oder nichts jedenfalls, dass sich mit Geld aufwiegen lässt.

Warum hat nie jemand ernsthaft eine kostbare Weltkarte des Geldes gemalt, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, von Yen über Yuan bis Rubel und Euro und Pfund bis Peso und Dollar? Weil der Dollar überall scheint? Weil Währungen kommen und gehen, die Breiten- und Längengrade aber wie Fixsterne bleiben? Vor einigen Jahrzehnten kamen die Japaner über die Datumsgrenze hergeflogen und haben den Hafen, ganz in der Nähe, in Schutt und Asche gebombt. Dafür haben sie von uns Prügel bezogen, und wir haben sie hinterher hinter alle Datumsgrenzen zurückgedrängt. Jetzt sind sie wieder da. Die Hotels, die Geschäfte, die Villen dort draußen, alles fest in japanischer Hand. Sie kamen und gingen und kamen wieder, wie Wellen. Die Schlitzaugen sind schon Schlitzohren. Pardon, wenn ich das jetzt so gesagt habe, ich weiß, das war nicht nett. Aber ich schweife ab. Was ich sagen wollte ist, dass nichts sicher ist, wie es scheint, auch wenn es sicherlich so scheint, dass es sicher ist. Ist es so wie es ist, oder ist es so wie es scheint, oder scheint es nur so wie es ist? Ich weiß es nicht, und ich will es auch gar nicht wissen. Jetzt feiern wir erst einmal, und dann sehen wir weiter. Morgen geht die Welt unter, und da drüben, heimlich im Dunkeln auf dem Bürgersteig hockend, trinken die ersten ihr letztes Bier und die letzten ihr erstes Bier auf die letzten Stunden des alten und die ersten Stunden des neuen Jahres, und morgen sind wir arbeitslos und obdachlos und mittellos und ein wenig tot oder kaum noch lebendig oder alles zusammen.

Manche Menschen werden ganz nostalgisch um die Nasen, wenn sie Silvester betrauern. Denn ja, sie trauern, sie feiern nicht. Dann singen sie Auld Lang Syne und saufen sich die Hucke voll, auf dass sie den alten Mist vergessen und den neuen ertragen. Und das, mein Freund, ist der wahre Fixstern in unserem Dasein. Dieses Auld Lang Syne gröhlen und Sekt und Bier bis zum Koma saufen. Das ist es, wofür wir all die Jahre ertragen, immer wieder und wieder aufs Neue, hoch die Tassen, runter damit, weggespült. Und eines Morgens wachst Du dann auf und bist tot, hast es hinter dich gebracht. Dazu sage ich nur: Hallo, mein Freund, willkommen im Klub der Klubseligen. Deine Koordinaten sind soeben erloschen.

Torres del Paine

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