Читать книгу Im Auftrag des Himmels - Stephan Wahl - Страница 10

Klappe halten

Оглавление

Auch Engel haben bisweilen schlechte Laune. Nicht alle, aber Aljoscha, Gottes kleiner Lieblingsengel, gehörte dazu. Missmutig hatte er sich hoch oben auf einem Baugerüst niedergelassen, das zurzeit den Turm einer alten Kirche verdeckte. Weder die wunderbare Aussicht noch das fast sommerliche Wetter konnten seine Stimmung heben. Es war wohl ein Fehler, sagte er zu sich, sich zur sehr mit manchen Diskussionen in der Kirche beschäftigt zu haben. Die Gelassenheit der großen Engel, die in Jahrtausenden dachten und die jetzigen Scharmützel wie alles Vorübergehende nur milde belächelten, diese himmlische Gelassenheit hatte der kleine Engel nun mal nicht. Aljoscha war halt Aljoscha.

Was ihm Kopfschütteln bereitete, war, mit welcher Inbrunst manche Positionen als unverrückbar bezeichnet wurden, auch solche, bei denen mit Blick auf die eigene Geschichte eher Zurückhaltung angesagt wäre. Beispiel: Sexualität. Als Engel war er hier naturgegeben kein Experte, aber er wunderte sich oft, wer sich da als solcher verstand und das auch lautstark, bisweilen peinlich, deutlich machte. Ein kecker Kabarettist hatte einmal gesagt: „Man darf zu allem eine Meinung haben, aber man muss nicht“ und empfahl deswegen, öfter einmal einfach die Klappe zu halten.

Daran erinnerte sich Aljoscha und dachte, wie es wohl wäre, wenn die Christen, besonders ihre Würdenträger, zum Thema Sexualität einfach mal für einige Zeit den Mund halten würden. Gab es nicht genug andere, brennendere Themen, um Position zu beziehen? Die größer werdende Armut so vieler und die gnadenlose Raffgier einiger weniger, der oft respektlose und uninteressierte Umgang mit Asylbewerbern, besonders mit den Kindern und Jugendlichen unter ihnen, das Machtgehabe der Putins oder anderer Despoten, die schleichende Renaissance der Euthanasie und so weiter. Warum immer an den Türen der Schlafzimmer pochen? Ehepaare und Nicht-Verheiratete brauchen Unterstützung und nicht Reglementierung und: Respekt vor einer Nähe, die nur sie persönlich angeht. Sex und Zärtlichkeit ist mehr als Kinder kriegen.

Der kleine Engel merkte, dass er sich langsam etwas in Rage redete. Außerdem, dachte er, das Abendland wird sicher nicht untergehen, wenn Schwule oder Lesben nicht nur gnädig so sein dürfen, wie sind, sondern das dann auch leben. Sie haben sich ja nicht ausgesucht, dass sie so sind, wie sie sind. Aljoscha konnte gut verstehen, dass sie dies nicht als Defizit sehen wollten oder als Kreuz, sondern als Geschenk, als Gabe Gottes. Wissen die Menschen eigentlich, was sie vielen von ihnen verdanken, zum Beispiel in Musik und Kunst? Die Lücken wären groß, dachte der kleine Engel, erinnerte sich an manche großen bekannten Namen, aber auch an die, die weniger im Rampenlicht standen oder mit viel Kraft diesen wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit nach außen verbargen.

Aljoscha ließ seinen Blick über die Häuser der Stadt streifen und schwieg lange. Aber vielleicht ändert sich ja doch noch einiges, sagte er dann zu sich, und sein Blick hellte sich etwas auf, als er an die vorsichtige Bewegung dachte, die bei einem andern Streitthema, dem Problem „Geschieden-Wiederverheiratete“, zu erkennen war. Das immer wiederkehrende Thema Barmherzigkeit war keine Floskel in den Ansprachen des neuen Papstes. Mal sehen, was so alles passiert in der nächsten Zeit, dachte Aljoscha, und unterbrach seine nachdenklichen Gedanken, weil es nun wirklich Zeit war für einen Einsatz, der ja zu seinen eigentlichen Aufgaben gehörte. Aber das Nachdenken über diese und andere empfindliche Themen, und zwar differenzierend und barmherzig, war dem kleinen Engel einfach wichtig. Weniger für sich als mit Blick auf die Menschen.

Aljoscha beschloss, dies einigen Christen besonders ans Herz zu legen, auch und gerade denen, die in der Kirche wichtige Entscheidungen treffen durften. Und weil Engel sofort umsetzen, was sie für nötig halten, verließ er, nun besser gelaunt, seinen Aussichtsplatz hoch über den Dächern und fing sofort damit an.

Im Auftrag des Himmels

Подняться наверх