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Bei flüchtigem Hinsehen würde man nicht glauben, daß es zwischen dem Mord an einem für tot erklärten Mann und den Ereignissen, die meine Ansichten über mein Leben veränderten, einen Zusammenhang gab. Die Fakten über Wendell Jaffe hatten mit meiner Biographie auch tatsächlich nicht das geringste zu tun, aber Mord ist selten eine eindeutige Angelegenheit, und keiner hat je behauptet, daß Offenbarungen den Gesetzen der Logik folgen. Meine Nachforschungen über die Vergangenheit des Toten lösten Fragen nach meiner Vergangenheit aus, und am Ende wurde es schwierig, die beiden Geschichten auseinanderzuhalten. Das Schlimme am Tod ist, daß keine Veränderungen mehr stattfinden. Das Schlimme am Leben ist, daß nichts je gleich bleibt. Das Ganze begann mit einem Anruf, nicht bei mir, sondern bei Mac Voorhies, einem der Vizepräsidenten der California Fidelity Versicherungsgesellschaft, bei der ich früher einmal gearbeitet habe.

Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich bin Privatdetektivin in Kalifornien und habe mein Büro in Santa Teresa, fünfundneunzig Meilen nördlich von Los Angeles. Meine Zusammenarbeit mit der CF Versicherungsgesellschaft hatte im vergangenen Dezember ein jähes Ende gefunden, und ich konnte nicht in das Haus 903 State Street zurückkehren. So habe ich nun seit sieben Monaten in der Kanzlei Kingman und Ives einen gemieteten Büroraum. Lonnie Kingman hat in erster Linie mit Strafsachen zu tun, genießt aber durchaus auch die Kniffligkeiten von Prozessen, bei denen es um Unglücksfälle oder widerrechtliche Tötung geht. Er ist seit Jahren mein Anwalt und immer da, wenn ich ihn brauche. Lonnie ist klein und bullig, ein Bodybuilder und Raufbold. John Ives ist mehr der ruhige Typ, der die intellektuelle Herausforderung des Berufungsprozesses vorzieht. Ich bin der einzige Mensch, den ich kenne, der nicht automatisch sämtliche Rechtsanwälte der Welt in Grund und Boden verdammt. Nur zur Kenntnisnahme, ich mag auch Bullen. Ich mag jeden, der zwischen mir und der Anarchie steht.

Die Kanzlei Kingman und Ives nimmt das ganze obere Stockwerk eines kleinen Gebäudes im Zentrum ein. Die Belegschaft besteht aus Lonnie, seinem Partner, John Ives, und einem Anwalt namens Martin Cheltenham, Lonnies bestem Freund, der bei ihm Büroräume gemietet hat. Der größte Teil der täglich anfallenden Arbeit wird von den beiden Sekretärinnen, Ida Ruth und Jill, erledigt. Wir haben außerdem eine Empfangsdame namens Alison und einen juristischen Mitarbeiter, Jim Thicket.

Der Raum, den ich übernommen habe, war früher ein Konferenzzimmer mit Kochnische. Nachdem Lonnie das letzte freie Büro in der zweiten Etage annektiert hatte, ließ er eine neue Küche einbauen und einen Raum für die Kopiergeräte. Mein Büro ist groß genug für einen Schreibtisch, meinen Drehsessel, mehrere Aktenschränke, einen Minikühlschrank und eine Kaffeemaschine und schließlich einen großen Schrank, in dem Stapel von Umzugskartons stehen, die ich seit dem Einzug nicht angerührt habe. Ich besitze meinen eigenen Telefonanschluß, kann aber auch die beiden Anschlüsse der Kanzlei benutzen. Ich habe auch noch meinen Anrufbeantworter, aber im Notfall nimmt Ida Ruth Anrufe für mich entgegen. Eine Zeitlang habe ich versucht, ein anderes Büro zu finden. Ich hatte genug Geld, um mir den Umzug leisten zu können, da ich vor Weihnachten für einen Auftrag einen Fünfundzwarizigtausend-Dollar-Scheck kassiert hatte. Das Geld war in diversen Papieren angelegt, die mir nette Zinsen brachten. Aber nach einer Weile wurde mir klar, wie angenehm mein neuer Arbeitsplatz war. Die Lage war gut, und es war wohltuend, bei der Arbeit Leute um sich zu haben. Einer der wenigen Nachteile des Alleinlebens ist es, daß man nie jemanden hat, dem man erzählen kann, was man gerade vorhat. Nun hatte ich wenigstens am Arbeitsplatz Menschen in meiner Nähe, die immer wußten, wo ich war, und bei denen ich mich jederzeit melden konnte, wenn ich ein paar Streicheleinheiten brauchte.

An diesem besonderen Montagmorgen Mitte Juli saß ich seit etwa anderthalb Stunden an meinem Schreibtisch und telefonierte pausenlos herum. Ein Kollege aus Nashville hatte mir geschrieben und mich gebeten, ich möge mich in meiner Gegend nach dem Exehemann einer seiner Klientinnen umschauen, der mit seinen Unterhaltszahlungen mit sechstausend Dollar im Rückstand war. Gerüchteweise hieß es, der Mann habe sich aus Tennessee nach Kalifornien abgesetzt, um sich irgendwo in der Gegend von Perdido oder Santa Teresa niederzulassen. Man hatte mir neben dem Namen des Mannes seine letzte Adresse, sein Geburtsdatum und seine Sozialversicherungsnummer mitgeteilt und mich beauftragt, die Suche nach ihm aufzunehmen. Ich kannte außerdem Modell und Marke des Wagens, den er zuletzt gefahren hatte, sowie das Kennzeichen, das das Fahrzeug in Tennessee zuletzt gehabt hatte. Ich hatte bereits zwei Briefe nach Sacramento geschrieben: einen an die örtliche Führerscheinstelle mit der Bitte um Auskünfte über den Gesuchten; den anderen an die Fahrzeugmeldestelle, um zu prüfen, ob er seinen 83er Ford Lieferwagen angemeldet hatte. Im Augenblick war ich dabei, die öffentlichen Versorgungswerke in der Gegend anzurufen, um herauszubekommen, ob es einen Neuanschluß auf den Namen des Mannes gab. Bisher hatte ich kein Glück gehabt, aber es machte trotzdem Spaß. Für fünfzig Dollar die Stunde bin ich bereit, fast alles zu tun.

Als die Sprechanlage summte, beugte ich mich automatisch vor und drückte auf den Knopf. »Ja?«

»Sie haben Besuch«, sagte Alison. Sie ist vierundzwanzig, temperamentvoll und tatkräftig. Sie hat blondes Haar, das ihr bis zur Taille reicht, trägt Größe 34 und krönt das i in ihrem Namen entweder mit einem Gänseblümchen oder einem Herz, je nach Laune, die aber immer gut ist. »Ein Mr. Voorhies von der California Fidelity Versicherung.«

Ich spürte förmlich, daß über meinem Kopf wie bei einer Comicfigur ein Fragezeichen Gestalt annahm. Mit zusammengekniffenen Augen beugte ich mich tiefer über die Sprechanlage. »Mac Voorhies ist bei Ihnen draußen?«

»Soll ich ihn zu Ihnen schicken?«

»Ich komme vor«, sagte ich.

Ich konnte es nicht glauben. Mac war bei der California Fidelity mein direkter Vorgesetzter gewesen. Und sein Boß, Gordon Titus, war der Mann, der mich an die Luft gesetzt hatte. Zwar hatte ich mich inzwischen mit der beruflichen Veränderung ausgesöhnt, aber wenn ich an diesen Kerl dachte, kam mir immer noch die Galle hoch. Flüchtig schwelgte ich in Phantasien, Gordon Titus hätte Mac geschickt, um mich um Verzeihung zu bitten. Ha, ha, das glaubst du doch wohl selbst nicht, dachte ich sofort. In aller Eile sah ich mich in meinem Büro um; keinesfalls sollte es aussehen, als pfiffe ich auf dem letzten Loch. Das Zimmer war nicht groß, aber es hatte ein eigenes Fenster, eine Menge saubere weiße Wand und einen flauschigen Wollteppich in gebranntem Orange. Mit den drei gerahmten Aquarellen an den Wänden und dem eineinviertel Meter hohen Ficus sah es sehr geschmackvoll aus. Fand ich jedenfalls. Gut, okay, der Ficus war aus Plastik, aber das merkte man echt nur, wenn man ganz nahe ran ging.

Ich hätte einen Blick in den Spiegel geworfen (ja, so prompt wirkte Macs Erscheinen), aber ich besitze keine Puderdose, und außerdem wußte ich bereits, was ich sehen würde – dunkles Haar, hellbraune Augen, keine Spur Make-up. Wie immer trug ich Jeans, Stiefel und Rolli. Ich befeuchtete meine Finger und strich mir über mein widerspenstiges Haar, um eventuell abstehende Strähnen zu glätten. In der Woche zuvor hatte ich in einem Anfall totaler Frustration eine Nagelschere gepackt und mir ritscheratsche das Haar geschnitten. Das Resultat war erwartungsgemäß ausgefallen.

Im Korridor wandte ich mich nach links. Mein Weg führte an mehreren Büros vorbei. Mac stand in der Empfangshalle vor Alisons Schreibtisch. Er ist Anfang Sechzig, groß und brummig, mit flaumigem, weißen Haar, das seinen Kopf wie ein Heiligenschein umgibt. Die nachdenklichen dunklen Augen liegen ein wenig schräg in seinem langen, knochigen Gesicht. Anstelle der gewohnten Zigarre rauchte er eine Zigarette, von der Asche auf seinen korrekten Anzug gefallen war. Mac war nie einer, der sich angestrengt hat, um körperlich fit zu bleiben, und seine Figur ähnelt nun einer Zeichnung aus der Kinderperspektive: lange Arme und Beine, ein verkürzter Rumpf, auf dem ein kleiner Kopf sitzt.

»Mac?« sagte ich.

»Hallo, Kinsey«, sagte er in einem wunderbar ironisch wehmütigen Ton.

Ich freute mich so sehr, ihn zu sehen, daß ich laut herauslachte. Wie ein tolpatschiger, etwas zu groß geratener junger Hund sauste ich zu ihm und warf mich in seine Arme. Mac reagierte auf soviel Ungebärdigkeit mit einem seiner seltenen Lächeln, bei dem er Zähne zeigte, die von den vielen Zigarren und Zigaretten stark verfärbt waren. »Lange nicht gesehen«, sagte er.

»Ich kann nicht glauben, daß du hier bist. Komm mit in mein Büro, machen wir’s uns gemütlich«, sagte ich. »Möchtest du einen Kaffee?«

»Nein, danke. Ich habe gerade welchen getrunken.«

Mac drehte sich herum, um seine Zigarette auszudrücken, und merkte zu spät, daß es nirgends einen Aschenbecher gab. Er sah sich verwirrt um, und einen Moment lang blieb sein Blick auf der Pflanze auf Alisons Schreibtisch haften. Sie beugte sich vor.

»Geben Sie ruhig her.« Sie nahm ihm die Zigarette ab und ging mit dem brennenden Stummel zum offenen Fenster. Erst nachdem sie ihn hinausgeworfen hatte, sah sie hinaus, um sich zu vergewissern, daß er nicht in irgend jemandes Kabrio auf dem Parkplatz landete.

Auf dem Weg nach hinten brachte ich Mac über meine derzeitigen Lebensumstände aufs laufende. Als wir in mein Büro kamen, zeigte er sich angemessen beeindruckt. Wir tauschten den neuesten Klatsch und die letzten Neuigkeiten über gemeinsame Freunde. Ich nutzte die Gelegenheit, um den Mann genauer zu betrachten. Die Zeit war eindeutig nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er hatte weniger Farbe als früher. Und er hatte, nach seinem Aussehen zu urteilen, ungefähr fünf Kilo Gewicht verloren. Er wirkte müde und unsicher, völlig uncharakteristisch bei ihm. Der Mac Voorhies von damals war brüsk und ungeduldig gewesen, gerecht, entschlußkräftig, humorlos und konservativ. Ein Mann, für den sich gut arbeiten ließ. Ich hatte immer seine Reizbarkeit bewundert, die der Leidenschaft entsprang, jede Aufgabe nach besten Kräften zu lösen. Jetzt war der Funke erloschen, und das beunruhigte mich.

»Alles in Ordnung? Irgendwie wirkst du gar nicht wie der alte.«

Er antwortete mit einer ungeduldigen Handbewegung – ein unerwarteter Energieausbruch. »Die schaffen es, einem die Arbeit völlig zu verleiden, das kannst du mir glauben. Diese verdammten Kerle da oben in der Chefetage mit ihrem ständigen Gerede von ›unterm Strich‹. Ich kenne das Versicherungsgeschäft – Mensch, ich arbeite schließlich lang genug in der Branche. Die CF war mal eine große Familie. Wir mußten eine Firma leiten, aber wir haben es mit Menschlichkeit getan, und jeder hat das Revier des anderen geachtet. Keiner von uns ist dem anderen in den Rücken gefallen, und niemand hat die Kunden für dumm verkauft. Aber jetzt – ich weiß nicht, Kinsey. Der Umsatz ist lächerlich. Die Vertreter werden so schnell verschlissen, daß sie kaum Zeit haben, ihre Aktenköfferchen auszupacken. Und immer wird nur von Gewinnspannen und Kostendämpfung geredet. In letzter Zeit merke ich immer wieder, daß ich überhaupt keine Lust mehr habe, zur Arbeit zu gehen.« Er hielt inne und lächelte verlegen. »Lieber Gott, hör sich das einer an! Ich rede wie ein alter Nörgler – was ich ja auch bin. Sie haben mir die ›Frühverrentung‹ angeboten, was auch immer das heißt. Verstehst du, sie machen alle möglichen Verrenkungen, um uns alte Hasen so bald wie möglich von der Gehaltsliste zu streichen. Wir verdienen viel zuviel und sind zu unflexibel.«

»Und – hast du vor anzunehmen?«

»Ich weiß noch nicht, aber ja, vielleicht. Vielleicht nehme ich an. Ich bin einundsechzig und müde. Ich würde gern noch ein bißchen Zeit mit meinen Enkelkindern verbringen, ehe ich ins Gras beiße. Marie und ich könnten unser Haus verkaufen und uns dafür einen Wohnwagen kaufen, ein bißchen was vom Land sehen und die Kinder besuchen. Immer reihum, damit wir keinem auf die Nerven gehen.« Mac und seine Frau hatten acht erwachsene Kinder, alle verheiratet, mit zahllosen eigenen Kindern. Er legte das Thema mit einer abschließenden Geste ad acta, schien in Gedanken schon bei etwas anderem zu sein. »Schluß damit. Ich habe noch einen ganzen Monat Zeit, um es mir zu überlegen. Aber jetzt ist erst mal was anderes dran. Es ist was passiert, und da habe ich sofort an dich gedacht.«

Ich wartete schweigend, um ihn auf seine Weise erzählen zu lassen. Da ging es immer am flüssigsten. Er zog eine Packung Marlboro heraus und schüttelte eine Zigarette heraus. Erst wischte er sich den Mund mit dem Handrücken ab, dann steckte er die Zigarette zwischen die Lippen. Er nahm ein Heftchen Streichhölzer heraus und zündete die Zigarette an, löschte das Flämmchen des Streichholzes dann in einer Rauchwolke. Er schlug die Beine übereinander und benutzte seine Hosenaufschläge als Aschenbecher. Ich hatte Angst, daß er seine Nylonsocken in Brand setzte.

»Erinnerst du dich an Wendell Jaffe, der vor ungefähr fünf Jahren verschwunden ist?«

»Vage«, antwortete ich. Nach dem, was ich im Kopf hatte, war Jaffes Segelboot verlassen vor der Küste treibend aufgefunden worden. »Rekapituliere doch mal kurz. Das ist der Mann, der auf See verschwunden ist, nicht wahr?«

»So sah es aus, ja.« Mac wackelte nachdenklich mit dem Kopf, während er sich sammelte, um mir eine kurze Zusammenfassung zu geben. »Wendell Jaffe und sein Partner, Carl Eckert, gründeten mehrere Gesellschaften mit beschränkter Haftung, um Immobiliengeschäfte zu machen. Es ging dabei um die Erschließung von Grundstücken und den Bau von Eigentumswohnungen, Geschäftsgebäuden, Einkaufszentren und dergleichen. Sie versprachen ihren Anlegern eine Rendite von fünfzehn Prozent und dazu die Rückzahlung ihrer Einlage innerhalb von vier Jahren. Sie selbst wollten vorerst auf Gewinne verzichten. Dafür kassierten sie aber immense Honorare, wiesen ungeheuer hohe Geschäftsunkosten aus, kurz, sie sahnten richtig ab. Als die Gewinne ausblieben, bezahlten sie die alten Anleger mit dem Geld der neuen Anleger, verschoben das Geld von einer Mantelfirma zur anderen und warben immer neue Anleger an, um das Spiel in Gang zu halten.«

»Ein Schneeballgeschäft also«, sagte ich.

»Richtig. Ich glaube, sie haben mit guten Absichten angefangen, aber so hat es schließlich geendet. Wie dem auch sei. Jaffe merkte, daß das nicht ewig so weitergehen konnte, und da ist er von seinem Boot aus ins Wasser gegangen. Seine Leiche wurde nie gefunden.«

»Er hinterließ einen Abschiedsbrief, wenn ich mich recht erinnere«, warf ich ein.

»Stimmt. Nach allem, was man hörte, litt der Mann an den klassischen Symptomen einer Depression: Niedergeschlagenheit, Appetitlosigkeit, Angst, Schlaflosigkeit. Schließlich fährt er auf seinem Segelboot hinaus und springt über Bord. In dem Brief, den er seiner Frau hinterlassen hat, hieß es, er habe sich in Schulden gestürzt, um das Geschäft am Laufen zu halten, was, wie er jetzt einsähe, völlig hoffnungslos sei. Er ist total verschuldet. Er weiß, daß er alle enttäuscht hat, und kann den Konsequenzen nicht ins Gesicht sehen. Seine Frau und seine beiden Söhne brachte er damit in eine schreckliche Situation.«

»Wie alt waren die Kinder?«

»Ich glaube, Michael, der ältere, war siebzehn, und Brian muß zwölf gewesen sein. Es war wirklich eine üble Geschichte. Er machte seine Familie kaputt, trieb mehrere seiner Anleger in den Bankrott, und sein Geschäftspartner, Carl Eckert, landete im Kittchen. So wie’s aussah, ist Jaffe gerade noch rechtzeitig abgesprungen, ehe das ganze Kartenhaus einstürzte. Aber das Problem war, daß es keinen konkreten Beweis für seinen Tod gab. Seine Frau beantragte bei Gericht die Ernennung eines Nachlaßtreuhänders, obwohl er ja praktisch nichts hinterlassen hatte. Die Bankkonten waren abgeräumt, und das Haus war bis unters Dach verschuldet. Sie mußte es schließlich aufgeben. Die Frau tat mir damals wirklich leid. Sie hatte seit Jahren nicht mehr gearbeitet, seit dem Tag ihrer Heirat nicht mehr. Und nun sollte sie plötzlich sich und die Kinder ganz allein durchbringen, hatte nicht einen Cent auf der Bank und keinerlei Ausbildung. Sie war eine nette Frau, und es war schlimm für sie. Fünf Jahre lang blieb alles still. Nicht die leiseste Spur von dem Mann.«

»Aber er ist gar nicht tot?« sagte ich und nahm damit die Pointe vorweg.

»Darauf komme ich gleich«, versetzte Mac mit einem Anflug von Irritation. Ich verkniff mir also meine Fragen, um ihn in Ruhe und auf seine Art berichten zu lassen.

»Das war tatsächlich eine Frage, die uns beschäftigte. Die Versicherungsgesellschaft war nicht scharf darauf, ohne offiziellen Totenschein zu zahlen. Schon gar nicht, nachdem Wendells Partner wegen Betrugs und Unterschlagung unter Anklage gestellt worden war. Es war schließlich gut möglich, daß Jaffe sich mit der Kohle aus dem Staub gemacht hatte, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Wir haben zwar nie direkt so argumentiert, aber wir haben die Zahlung verschleppt. Dana Jaffe engagierte einen Privatdetektiv, der sich auf die Suche machte, aber niemals auch nur den Schatten eines Beweises zutage förderte, sei es pro oder contra«, fuhr Mac fort. »Es war nicht zu beweisen, daß er tot war, aber das Gegenteil auch nicht. Ein Jahr nach dem Unfall beantragte sie bei Gericht unter Berufung auf den Abschiedsbrief und den seelischen Zustand ihres Mannes, die Toterklärung. Sie legte eidesstattliche Versicherungen seines Partners und diverser Freunde vor. Gleichzeitig informierte sie unsere Gesellschaft davon, daß sie als alleinige Begünstigte Forderung auf Auszahlung der Lebensversicherungssumme erhebe. Wir leiteten daraufhin unsere eigene Untersuchung ein, die ziemlich intensiv war. Bill Bargerman war damit befaßt. Du erinnerst dich an ihn?«

»Den Namen kenne ich, aber ich glaube, wir sind uns nie begegnet.«

»Er saß damals wahrscheinlich in der Zweigstelle in Pasadena. Guter Mann. Ist jetzt im Ruhestand. Kurz und gut, er tat, was er konnte, aber es gelang ihm nicht zu beweisen, daß Wendell Jaffe noch am Leben sein könnte. Immerhin haben wir es geschafft, die Todesvermutung zu verhindern – vorläufig jedenfalls. Angesichts seiner finanziellen Probleme, argumentierten wir, sei es unwahrscheinlich, daß Jaffe sich, wenn er am Leben sein sollte, freiwillig stellen würde. Der Richter entschied für uns, aber wir wußten, daß es nur eine Frage der Zeit war, ehe das Urteil aufgehoben werden würde. Mrs. Jaffe war natürlich wütend, aber sie brauchte nur ein bißchen Geduld. Sie bezahlte weiterhin die Prämie, und als die fünf Jahre um waren, ging sie erneut vor Gericht.«

»Ich dachte, so was dauert sieben Jahre.«

»Das Gesetz ist vor ungefähr einem Jahr geändert worden. Vor zwei Monaten hat sie endlich ein gerichtliches Urteil erwirkt und ließ Jaffe für tot erklären. Da blieb der Gesellschaft natürlich keine Wahl. Wir zahlten.«

»Ah, jetzt wird’s spannend«, sagte ich. »Um was für einen Betrag geht es?«

»Fünfhunderttausend Dollar.«

»Nicht schlecht«, meinte ich. »Aber vielleicht hat sie es verdient. Sie mußte ja lange genug warten, ehe sie kassieren konnte.«

Mac lächelte flüchtig. »Sie hätte ein wenig länger warten sollen. Dick Mills hat mich angerufen – auch ein ehemaliger CF-Mitarbeiter. Er behauptet, er hätte Jaffe in Mexiko gesehen. In einem Ort namens Viento Negro.«

»Tatsächlich? Wann denn?«

»Gestern«, antwortete Mac. »Dick war der Vertreter, der Jaffe damals die Lebensversicherung verkauft hat. Er hat auch danach immer wieder mit ihm zu tun gehabt. Im Zusammenhang mit Jaffes Firma. Na ja, und er war jetzt in Mexiko, in irgendeinem Nest zwischen Cabo und La Paz am Golf von Kalifornien, und behauptet, Jaffe in der Hotelbar gesehen zu haben. Er hätte da mit irgendeiner Frau gesessen.«

»Einfach so?«

»Einfach so«, wiederholte Mac. »Dick mußte auf den Zubringerbus zum Flughafen warten und hatte sich in die Bar gesetzt, um schnell noch einen zu kippen, ehe der Fahrer kam. Jaffe saß auf der Terrasse, vielleicht einen Meter entfernt, durch einen überwachsenen Zaun getrennt. Dick sagte, zuerst habe er die Stimme erkannt. Ein bißchen rauh und ziemlich tief mit texanischem Akzent. Zuerst sprach der Mann englisch, aber als der Kellner kam, stieg er auf Spanisch um.«

»Hat Jaffe Dick gesehen?«

»Anscheinend nicht. Dick meinte, er sei nie in seinem Leben so baff gewesen. Er sagt, er habe dagesessen wie festgenagelt und darüber beinahe den Bus zum Flughafen verpaßt. Kaum war er zu Hause, hat er mich angerufen.«

Mein Herz begann schneller zu schlagen. Man braucht mir nur einen interessanten Auftrag vorzusetzen, und schon fängt mein Puls zu galoppieren an. »Und wie soll’s jetzt weitergehen?«

Mac schnippte Asche in seinen Hosenaufschlag. »Ich möchte, daß du so schnell wie möglich da runter fliegst. Ich nehme doch an, du besitzt einen gültigen Reisepaß?«

»Ja, sicher, aber was ist mit Gordon Titus? Weiß er von diesem Plan?«

»Titus laß mal meine Sorge sein. Diese Geschichte mit Wendell wurmt mich seit Ewigkeiten. Die würde ich gern noch geklärt sehen, ehe ich bei CF aufhöre. Eine halbe Million Dollar ist kein Pappenstiel. Wäre doch ein schöner Abschluß meiner beruflichen Laufbahn.«

»Wenn es stimmt«, sagte ich.

»Ich glaube nicht, daß sich Dick Mills geirrt hat. Also, übernimmst du die Sache?«

»Ich müßte erst sehen, ob ich meine Termine hier verschieben kann. Kann ich dich in ungefähr einer Stunde anrufen und dir Bescheid geben?«

»Natürlich. Kein Problem.« Mac sah auf seine Uhr und stand auf. Er legte einen Packen Papiere auf die Ecke meines Schreibtischs. »Ich würde mir nur an deiner Stelle nicht zuviel Zeit lassen. Du bist auf der Maschine gebucht, die um eins nach Los Angeles startet. Dein Anschlußflug geht um fünf. Die Tickets und der Flugplan sind da drinnen«, sagte er.

Ich lachte. California Fidelity und ich waren wieder im Geschäft.

Stille Wasser

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