Читать книгу Stille Wasser - Sue Grafton - Страница 9

5

Оглавление

»Hallo, ich bin’s, Kinsey«, sagte ich, als Mac sich meldete.

»Du klingst so fremd. Von wo rufst du an?«

»Von zu Hause«, antwortete ich. »Ich hab’ eine Erkältung und fühle mich sterbenselend.«

»So ein Pech. Trotzdem willkommen zu Hause. Ich hatte keine Ahnung, wann du kommen würdest.«

»Ich bin vor einer Dreiviertelstunde zur Tür herein marschiert«, sagte ich. »Inzwischen habe ich die Zeitung gelesen und sehe, daß es hier ganz schön aufregend zugegangen ist, während ich weg war.«

»Ja, ist das zu glauben? Ich frage mich, was, zum Teufel, da vorgeht. Seit zwei, drei Jahren habe ich nicht ein Wort über diese Familie gehört, und jetzt plötzlich taucht der Name überall auf.«

»Tja, und jetzt gleich noch einmal. Wir haben einen Treffer, Mac. Ich habe Jaffe genau dort entdeckt, wo Dick Mills ihn gesehen hat.«

»Und du bist sicher, daß er es ist?«

»Nein, sicher bin ich natürlich nicht, Mac. Ich habe den Mann ja nie zuvor mit eigenen Augen gesehen, aber wenn man sich auf die Fotografien verläßt, kann dieser Mann sehr gut der sein, den wir suchen. Er ist Amerikaner. Er ist im richtigen Alter. Er benutzt nicht den Namen Jaffe, sondern heißt jetzt Dean DeWitt Huff. Die Größe stimmt, und das Gewicht kommt auch hin. Er ist ein bißchen kräftiger, aber das ist wahrscheinlich ganz natürlich. Er reist mit einer Frau, und die beiden haben sich völlig isoliert.«

»Klingt ein bißchen dünn.«

»Natürlich ist es dünn. Ich konnte ja nicht gut auf ihn zugehen und mich vorstellen.«

»Wie sicher bist du?«

»Wenn wir das Alter und ein paar kosmetische Korrekturen berücksichtigen, würde ich sagen, neunzig Prozent. Ich habe versucht, ein paar Aufnahmen zu machen, aber er wurde bei jedem bißchen Aufmerksamkeit gleich mißtrauisch. Ich mußte mich sehr im Hintergrund halten«, erklärte ich. »Weshalb hat Brian Jaffe übrigens im Knast gesessen, ist das bekannt?«

»Soviel ich weiß, wegen Einbruchs. Wahrscheinlich nichts Raffiniertes, sonst hätte man ihn wohl nicht geschnappt«, antwortete Mac. »Was ist also mit Wendell Jaffe? Wo ist er jetzt?«

»Das ist eine gute Frage.«

»Er ist dir entwischt«, konstatierte Mac.

»Mehr oder weniger. Er und die Frau sind mitten in der Nacht auf und davon, aber du brauchst nicht gleich zu schreien. Ich habe nämlich nach ihrem Verschwinden in ihrem Zimmer was entdeckt – eine mexikanische Zeitung mit einem Bericht über Brian Jaffes Festnahme. Jaffe muß den Artikel in der Nachtausgabe gesehen haben. Die beiden sind nämlich ganz normal zum Abendessen gegangen, aber dann kamen sie plötzlich viel zu früh zurück, beide sehr erregt. Und heute morgen waren sie weg. Die Zeitung habe ich im Müll gefunden.« Noch während ich die Fakten berichtete, merkte ich, daß irgend etwas an der Situation mir zu schaffen machte. Die Zufälle – Wendell Jaffe in diesem obskuren mexikanischen Ferienhotel... Brian, der aus dem Gefängnis ausbricht und schnurstracks die mexikanische Grenze ansteuert. Ein Funke des Begreifens blitzte auf. »Moment mal, Mac. Ich habe eben einen kleinen Geistesblitz gehabt. Weißt du, was mir gerade gekommen ist? Vom ersten Moment an, als ich Wendell sah, hat er dauernd in Zeitungen geblättert, jede einzelne Seite durchgesehen. Könnte es nicht sein, daß er von Brians Fluchtversuch wußte? Daß er auf ihn gewartet hat? Vielleicht hat er dem Jungen sogar geholfen, den Ausbruch einzufädeln.«

Mac brummte skeptisch. »Das ist ziemlich weit hergeholt. Wir wollen doch lieber keine übereilten Schlüsse ziehen, solange wir nicht mehr wissen.«

»Ja, sicher, da hast du recht. Aber es würde passen. Ich leg’s vorläufig mal ad acta, aber später prüfe ich’s vielleicht doch noch nach.«

»Hast du eine Ahnung, wohin Jaffe verschwunden ist?«

»Ich habe mich in meinem rudimentären Spanisch mit dem Mann am Empfang unterhalten, aber dabei kam nicht viel mehr heraus als ein spöttisches Grinsen. Wenn du meine Meinung wissen willst, ich glaube, es besteht eine gute Chance, daß er hierher zurückkommt.«

Ich konnte praktisch hören, wie Mac ungläubig die Augen zusammenkniff. »Nie im Leben. Du glaubst im Ernst, er würde es wagen, einen Fuß in diesen Staat zu setzen? Da müßte er wirklich verrückt sein.«

»Sicher, es wäre riskant, aber vergiß nicht, daß sein Sohn in der Klemme sitzt. Versetz dich in seine Lage. Würdest du es nicht tun?«

Schweigen antwortete mir. Macs Kinder waren erwachsen, aber ich wußte, daß er sich immer noch für sie verantwortlich fühlte. »Woher soll er denn gewußt haben, was los war?«

»Das weiß ich auch nicht, Mac. Es ist doch möglich, daß er den Kontakt aufrechterhalten hat. Wir haben keine Ahnung, was er in den vergangenen Jahren getrieben hat. Vielleicht hat er noch Kontakte hier in der Gegend. Es würde sich auf jeden Fall lohnen, der Frage nachzugehen, wenn wir versuchen wollen, ihm auf die Spur zu kommen.«

»Und wie sieht dein Plan aus?« warf Mac ein. »Du hast doch sicher schon einen Plan.«

»Ja, also ich bin der Meinung, wir sollten herausfinden, wann der Junge aus Mexicali zurückgebracht wird. Ich kann mir nicht vorstellen, daß übers Wochenende viel passiert. Am Montag kann ich mit einem der Beamten des County-Gefängnisses sprechen. Vielleicht können wir dort Jaffes Fährte aufnehmen.«

»Das halte ich für höchst unwahrscheinlich.«

»Es ist schon Unwahrscheinlicheres passiert. Zum Beispiel, daß Dick Mills ihn überhaupt gesichtet hat.«

»Das stimmt«, meinte er widerwillig.

»Außerdem sollten wir meiner Meinung nach mit der hiesigen Polizei sprechen. Die hat die Mittel, die mir nicht zur Verfügung stehen.«

Ich spürte sein Zögern. »Ich halte es für ein bißchen früh, die Polizei hinzuzuziehen, aber ich überlasse die Entscheidung dir. Gegen die Hilfe der Polizei hätte ich ja nichts, aber auf keinen Fall möchte ich ihn mißtrauisch machen. Vorausgesetzt, er zeigt sich hier überhaupt.«

»Ich werde mich auf jeden Fall mit ehemaligen Freunden von ihm in Verbindung setzen müssen. Das Risiko, daß jemand ihn warnt, müssen wir auf uns nehmen.«

»Und du glaubst, seine Kumpel werden mit uns zusammenarbeiten?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, daß er damals eine Menge Leute reingelegt hat. Und da gibt es doch gewiß einige, die nichts dagegen hätten, wenn er im Knast landet.«

»Sollte man meinen, ja«, sagte Mac.

»Okay, wir sprechen uns am Montagmorgen. Laß dir inzwischen keine grauen Haare wachsen.«

Macs Lachen klang nicht heiter. »Hoffentlich bekommt Gordon Titus keinen Wind von der Sache.«

»Du hast doch gesagt, du würdest das schon hinkriegen.«

»Mir schwebte eine Verhaftung vor. Und ein Haufen öffentliche Anerkennung für dich.«

»Gib die Hoffnung nicht auf. Vielleicht kommt’s ja tatsächlich noch so.«

Die folgenden zwei Tage verbrachte ich im Bett, genoß dank der Erkältung ein faules, völlig unproduktives Wochenende. Ich liebe dieses Alleinsein, wenn man krank ist, die Verwöhnung mit heißem Tee mit Honig, die Tomatensuppe aus der Dose mit klebrigem Käsetoast dazu. Auf meinem Nachttisch hatte ich eine Packung Kleenex stehen, und der Papierkorb neben dem Bett war bald bis zum Rand mit einem schäumenden Soufflé gebrauchter Papiertücher gefüllt. Eine der wenigen konkreten Erinnerungen, die ich an meine Mutter habe, ist, daß sie mir immer die Brust mit Wicks VapoRub eingerieben und dann einen rosa Waschlappen mit Rüschenmuster darauf gelegt hat, der mit einer Sicherheitsnadel an meiner Pyjamajacke befestigt wurde. Von der Hitze meines Körpers angeregt, zogen bald Wolken berauschender Dämpfe in meine Nasengänge, während die Salbe auf meiner Haut widersprüchliche Sensationen sengender Hitze und beißender Kälte hervorrief.

Bei Tag döste ich vor mich hin. Mein Körper hielt die Untätigkeit kaum aus. Nachmittags stolperte ich, meine Steppdecke hinter mir her ziehend wie eine Hochzeitsschleppe, die Wendeltreppe hinunter, um zwei Stunden vor der Glotze zu sitzen und mir Wiederholungen von »Dobie Gillis« und »I love Lucy« anzusehen. Als es Schlafenszeit wurde, ging ich ins Bad und füllte meinen kleinen Plastikbecher mit dem widerlichen, dunkelgrünen Sirup, der mir eine Nacht ungestörten Schlafs bringen würde. Noch nie habe ich auch nur einen Tropfen NyQuil hinuntergebracht, ohne mich hinterher heftig zu schütteln. Dennoch, das ist mir klar, könnte ich leicht nach dem Zeug süchtig werden.

Am Montagmorgen erwachte ich um sechs, nur Sekunden bevor der Wecker loslegte. Ich blieb mit offenen Augen im zerwühlten Bett liegen und starrte zu dem gewölbten Oberlicht aus Plexiglas, während ich versuchte, mich auf den kommenden Tag einzustellen. Der Morgenhimmel war dicht verhangen; helle weiße Wolken bildeten eine undurchdringliche Decke, die bestimmt eine halbe Meile dick war. Auf dem Flughafen würden die Zubringermaschinen nach San Francisco, San Jose und Los Angeles auf den Runways festsitzen und darauf warten, daß sich der Nebel lichtete.

Der Juli in Santa Teresa ist eine unsichere Angelegenheit. Der Morgen zieht hinter einer Wolkenbank herauf, die unmittelbar vor der Küste hängt. Manchmal klart es bis zum Nachmittag auf. Manchmal bleibt der Himmel bewölkt, und der Tag versinkt in nebligem Grau, das den Eindruck vermittelt, es brauten sich Sturmwolken zusammen. Die Einheimischen schimpfen, und der Santa Teresa Dispatch meldet die Temperaturen in tadelndem Ton, als wären die Sommer nicht immer so gewesen. Touristen auf der Suche nach dem sagenhaften kalifornischen Sonnenschein breiten ihre Siebensachen am Strand aus – Sonnenschirme und Badetücher, Kofferradios und Schwimmflossen – und warten geduldig darauf, daß die trüben grauen Himmel aufreißen. Ich sehe ihre kleinen Kinder, die mit Eimer und Schäufelchen am Wasserrand hocken. Selbst aus der Ferne kann ich Gänsehaut und blaue Lippen ahnen, und wie sie zu schnattern anfangen, während das eisige Wasser ihre nackten Füßchen umspült. Dieses Jahr war das Wetter sehr launisch gewesen und hatte jeden Tag ein anderes Gesicht gezeigt.

Ich wälzte mich aus dem Bett, schlüpfte in meinen Jogginganzug, putzte mir die Zähne, kämmte mir das Haar und mied bei alledem, so gut es ging, den Anblick meines verschlafenen Gesichts. Ich war entschlossen zu laufen, aber mein Körper war anderer Meinung, und nach einer halben Meile bekam ich einen Hustenanfall, der sich anhörte wie das Brunftgeheul eines wilden Tiers. Ich gab den Gedanken an einen Dreimeilenlauf auf und begnügte mich statt dessen mit einem flotten Spaziergang. Die Erkältung hatte sich mittlerweile in meinen Bronchien eingenistet, und meine Stimme hatte ein verführerisch rauchiges Timbre bekommen. Als ich wieder zu Hause ankam, war ich ziemlich durchgefroren, aber sehr erfrischt.

Ich duschte dampfend heiß, um die Verstopfung der Bronchien zu lösen, und fühlte mich, als ich aus dem Bad kam, halbwegs wiederhergestellt. Danach bezog ich mein Bett frisch, leerte den Müll aus, aß zum Frühstück etwas Obst und Joghurt und fuhr mit einer Mappe voller Zeitungsausschnitte ins Büro. Ich fand einen Parkplatz direkt an der Straße, ging das restliche Stück zu Fuß und nahm die Treppe in Angriff. Normalerweise sause ich immer zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf, aber heute mußte ich auf jedem Treppenabsatz eine Pause einlegen. Es ist wirklich gemein - man braucht Jahre, um sich eine gewisse körperliche Fitneß anzueignen, aber man braucht nur einmal ein paar Tage schlapp zu machen, und schon ist von ihr nichts mehr übrig. Nach drei Tagen Nichtstun war ich wieder am Ausgangspunkt angelangt, keuchte und stöhnte wie in meinen schlimmsten Zeiten. Die Kurzatmigkeit löste einen neuen Hustenanfall aus. Ich trat durch die Seitentür ins Büro und blieb stehen, um mich zu schneuzen.

Ich kam zu Ida Ruths Schreibtisch und machte halt zu einem kleinen Schwatz. Als ich Lonnies Sekretärin kennenlernte, fand ich den Doppelnamen umständlich. Ich versuchte, ihn auf Ida abzukürzen, stellte jedoch fest, daß das nicht paßte. Die Frau ist Mitte Dreißig, eine robuste, sportlich wirkende Person, von der man glauben möchte, schon ein Tag am Schreibtisch würde sie verrückt machen. Das weißblonde Haar trägt sie aus dem Gesicht gebürstet, wie von einem starken Wind nach hinten geblasen. Ihre Haut ist frisch und von der Sonne gebräunt, ihre Wimpern sind fast weiß, ihre Augen meerblau. Sie kleidet sich konservativ: enge Röcke mittlerer Länge, Blazer in gedämpften Farben, langärmelige Blusen vom immer gleichen langweiligen Schnitt. Wenn man sie sieht, hat man den Eindruck, sie würde viel lieber in einem Kanu ein Wildwasser hinunterpaddeln oder zerklüftete Felswände hinaufklettern. Ich habe gehört, daß sie in ihrer Freizeit genau das tut – sie unternimmt ausgedehnte Wanderungen in die High Sierras. Weder Zecken noch Steilwände, Giftschlangen, umgestürzte Bäume, spitze Steine, Stechmücken oder andere reizende Aspekte der freien Natur, die ich um jeden Preis zu meiden trachte, können sie schrecken.

Sie lächelte mir zu, als sie mich sah. »Ah, Sie sind wieder da. Wie war’s in Mexiko? Sie sind ja richtig orangerot geworden.«

Ich war gerade wieder dabei mich zu schneuzen, und mein Gesicht war vom beschwerlichen Aufstieg in den zweiten Stock gerötet. »Es war großartig. Ich habe mich köstlich amüsiert und mir auf dem Rückflug gleich noch eine Erkältung geholt. Dann lag ich erst mal zwei Tage im Bett. Und die Farbe kommt aus der Dose.«

Sie zog eine Schublade ihres Schreibtischs auf und brachte eine Bonbondose zum Vorschein, die mit großen weißen Kapseln gefüllt war. »Vitamin C. Nehmen Sie eine Handvoll. Die helfen.«

Gehorsam nahm ich eine Kapsel und hielt sie ans Licht. Sie war leicht zweieinhalb Zentimeter lang. Wenn die einem im Hals steckenblieb, war bestimmt ein sofortiger chirurgischer Eingriff nötig, um sie wieder herauszuholen.

»Nehmen Sie ruhig ein paar, und versuchen Sie’s mit Zink, wenn Sie Halsschmerzen haben. Wie war es in Viento Negro? Haben Sie die Ruinen gesehen?«

Ich nahm mir noch ein paar von den Kapseln. »Ganz nett. Ein bißchen windig. Welche Ruinen?«

»Na hören Sie mal! Die Ruinen sind berühmt. Da war irgendwann – ich glaube, es war 1902 — mal ein gewaltiger Vulkanausbruch, bei dem der ganze Ort innerhalb von Stunden unter Asche begraben war.«

»Die Asche habe ich gesehen«, bemerkte ich.

Ihr Telefon läutete, und während sie den Anruf entgegennahm, ging ich zum Wasserautomaten im Korridor und ließ mir einen Pappbecher einlaufen. Erst schluckte ich das Vitamin C, dann gleich noch ein Antihistamin. Mehr Freude am Leben durch Chemie. Ich ging weiter zu-meinem Büro, schloß auf und öffnete eines der Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Auf meinem Schreibtisch lag ein Stapel Post: einige wenige Schecks, der Rest war Werbung und ähnlicher Quatsch. Ich hörte die Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter ab – es waren sechs – und brachte die nächsten dreißig Minuten damit zu, mein Büroleben zu ordnen. Ich legte eine Akte für Wendell Jaffe an und heftete die Zeitungsartikel über den Gefängnisausbruch und die erneute Festnahme seines Sohnes ein.

Um neun Uhr rief ich bei der Polizeidienststelle Santa Teresa an und fragte nach Sergeant Robb. Erst verspätet wurde mir bewußt, daß ich ziemlich heftiges Herzklopfen hatte. Ich hatte Jonah seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, ob man unsere Beziehung je als »Romanze« hätte bezeichnen können. Als ich ihn kennenlernte, lebte er von seiner Frau Camilla getrennt. Sie hatte ihn verlassen und die beiden gemeinsamen Töchter mitgenommen. Jonah hatte sie einen Gefrierschrank voll vorgekochter Menüs hinterlassen, die sie im Recyclingverfahren in gebrauchten Behältern kommerzieller Fertiggerichte eingefroren hatte. Die Zubereitungsanweisungen, die sie auf die Deckel geklebt hatte, besagten immer das gleiche: »Im Rohr bei 200 Grad 30 Min. backen. Folie entfernen und essen.« Als würde er allen Ernstes versuchen zu essen, ohne die Folie zu entfernen. Jonah schien das nicht für sonderbar zu halten, und das hätte mir eigentlich ein Hinweis sein müssen.

Theoretisch war er ein freier Mann. Praktisch hatte sie ihn fest an der Leine. Sie pflegte regelmäßig zurückzukommen und ihn zu drängen, mit ihr gemeinsam in eine Therapie zu gehen. Für jede Versöhnung trieb sie einen neuen Eheberater auf und stellte damit sicher, daß ein echter Fortschritt nie gemacht wurde. Wenn auch nur Aussichten bestanden, daß sich zwischen ihnen eine echte Beziehung entwickeln könnte, haute sie wieder ab.

Ich sagte mir schließlich, ich hätte auch ohne dieses Gezerre schon Sorgen genug, und klinkte mich aus der Sache aus. Die beiden schienen das nicht einmal zu merken. Sie waren seit der siebten Klasse zusammen, als sie beide dreizehn Jahre alt gewesen waren. Eines Tages würde ich wohl in der Lokalzeitung lesen, daß sie silberne Hochzeit feierten und Geschenke aus Recyclingaluminium willkommen seien.

Jonah war noch im Vermißtendezernat tätig. Er meldete sich abrupt, auf knappe, sachliche Polizistenart. »Lieutenant Robb«, sagte er.

»Oh, alle Achtung, Lieutenant. Du bist befördert worden. Gratuliere. Hier spricht die Stimme aus der Vergangenheit. Kinsey Millhone«, sagte ich.

Ich amüsierte mich über den Moment verblüfften Schweigens, den er offenbar brauchte, um sich zu vergegenwärtigen, wer ich war, und stellte mir vor, wie er sich plötzlich in seinem Sessel zurücklehnte. »Na so was! Hallo, Kinsey. Wie geht es dir?«

»Gut, danke. Und dir?«

»Nicht schlecht. Hast du eine Erkältung? Ich habe deine Stimme gar nicht erkannt. Du klingst so nasal.«

Wir erledigten die Formalitäten und brachten einander aufs laufende, was nicht viel Zeit in Anspruch nahm. Ich erzählte ihm, daß ich bei der California Fidelity aufgehört hatte. Er erzählte mir, daß Camilla zu ihm zurückgekehrt war. Es war nicht viel anders, als wenn man fünfzehn Episoden seiner Lieblingsseifenoper verpaßt. Man schaltet sich nach Wochen wieder dazu und stellt fest, daß man im Grunde überhaupt nichts versäumt hat.

Jonah gab mir einen kurzen Bericht, der sich wie das Expose der Handlung anhörte. »Ja, sie hat letzten Monat zu arbeiten angefangen - als Gerichtsstenografin. Ich glaube, sie ist jetzt glücklicher. Sie hat etwas eigenes Geld, und alle scheinen sie zu mögen. Sie findet den Job interessant. Und dadurch bekommt sie auch mehr Verständnis für meine Arbeit. Das ist für uns beide sehr gut.«

»Na prima. Das klingt wirklich gut«, sagte ich. Es fiel ihm wohl auf, daß ich nicht nach weiteren Einzelheiten gierte. Die Unterhaltung setzte aus wie der Motor eines Flugzeugs kurz vor dem Absturz. Es bekümmerte mich zu sehen, wie wenig ich einem Menschen zu sagen hatte, der einmal soviel Platz in meinem Bett eingenommen hatte.

»Du möchtest wahrscheinlich gern wissen, warum ich mich bei dir melde«, sagte ich.

Jonah lachte. »Stimmt. Ich meine, ich freue mich natürlich, von dir zu hören, aber ich dachte mir gleich, daß es einen konkreten Anlaß gibt.«

»Erinnerst du dich an Wendell Jaffe? Den Mann, der von seinem Segelboot verschwand...«

»Oh! Ja, ja, natürlich.«

»Er ist in Mexiko gesehen worden. Es ist möglich, daß er sich auf dem Weg nach Kalifornien befindet.«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

»Doch.« Ich gab ihm einen stark gekürzten Bericht meiner Begegnung mit Wendell Jaffe und ließ dabei wohlweislich aus, daß ich in sein Hotelzimmer eingebrochen war. Wenn ich mit Bullen spreche, sage ich nicht immer freiwillig alles, was ich weiß. Ich kann eine pflichttreue Bürgerin sein, wenn es mir in den Kram paßt, in diesem Fall jedoch war das nicht so. Außerdem war es mir peinlich, daß ich den Kontakt verloren hatte. Hätte ich meinen Job gut gemacht, so hätte Wendell Jaffe niemals gemerkt, daß ihm jemand auf den Fersen war. Ich sagte: »An wen soll ich mich wenden? Ich dachte, ich sollte vielleicht jemanden unterrichten, am besten wohl den Beamten, der damals den Fall bearbeitet hat.«

»Das war Lieutenant Brown, aber der ist inzwischen nicht mehr da. Er ist letztes Jahr in den Ruhestand gegangen. Du solltest dich vielleicht am besten mit Lieutenant Whiteside vom Betrugsdezernat unterhalten. Ich kann dich mit ihm verbinden, wenn du möchtest. Dieser Jaffe war wirklich ein übler Bursche. Ein Nachbar von mir hat seinetwegen zehntausend Dollar verloren, und das war eine Lappalie im Vergleich mit anderen.«

»Ja, das hörte ich. Konnten die Leute denn nicht irgendwie ihr Geld zurückbekommen?«

»Man hat seinen Partner eingelocht. Als der Schwindel aufflog, haben natürlich alle Anleger Klage erhoben. Da man die Klage nicht zustellen konnte, haben sie Vorladung und Klage schließlich veröffentlicht und sein Nichterscheinen hingenommen. Natürlich erwirkten sie ein Urteil, aber es gab nichts zu holen. Seine Bankkonten hatte er alle abgeräumt, ehe er verschwand.«

»Ja, das habe ich gehört. So ein Schwein.«

»Das kann man wohl sagen. Außerdem war sein Haus bis unter das Dach mit Hypotheken belastet, so daß sich die Gläubiger da auch nicht schadlos halten konnten. Ich kenne diverse Leute, denen es nur recht wäre, wenn er noch unter den Lebenden weilte. Die würden sie innerhalb von zehn Sekunden das Urteil vollstrecken lassen, wenn er je wiederaufkreuzen sollte, und ihm alles abnehmen, was er besitzt. Und danach würde man ihn festnehmen. Wie kommst du auf die Idee, er könnte so blöd sein, hierher zurückzukommen?«

»Sein Sohn steckt in größten Schwierigkeiten, wenn die Zeitungsberichte stimmen. Du weißt von den vier Jugendlichen, die aus Connaught ausgebrochen sind? Einer von ihnen ist Brian Jaffe.«

»Mensch, richtig! Die Verbindung hab’ ich gar nicht hergestellt. Ich kenne Dana von der Highschool.«

»Ist das Wendells Frau?« fragte ich.

»Ja. Ihr Mädchenname war Annenberg. Sie hat ihn gleich nach dem Schulabschluß geheiratet.«

»Kannst du mir die Adresse besorgen?«

»Das dürfte nicht allzu schwierig sein. Wahrscheinlich steht sie im Telefonbuch. Als ich das letzte Mal von ihr gehört habe, wohnte sie irgendwo in der Gegend von P/O.«

P/O war hier die gängige Abkürzung für die beiden Nachbarorte – Perdido und Olvidado – am Highway 101, dreißig Meilen südlich. Die beiden Städtchen waren einander zum Verwechseln ähnlich, nur gab es in dem einen Büsche am Highway und im anderen nicht. Im allgemeinen wurden beide in einem Atemzug genannt – P/O.

Jonahs Ton veränderte sich plötzlich. »Du hast mir gefehlt.«

Ich ignorierte das und dachte mir schleunigst einen Vorwand aus, um dieses Gespräch abzubrechen, ehe es persönlich wurde. »Hoppla! Ich muß Schluß machen. Ich habe in zehn Minuten einen Termin und möchte vorher noch mit Lieutenant Whiteside sprechen. Kannst du mich verbinden?«

»Na klar«, sagte er, und ich hörte, wie er mehrmals rasch hintereinander auf die Gabel seines Telefons drückte.

Als sich die Telefonistin meldete, bat er um eine Verbindung mit dem Betrugsdezernat. Lieutenant Whiteside war gerade nicht an seinem Schreibtisch, wurde aber binnen kurzem zurückerwartet. Ich hinterließ meinen Namen und meine Nummer mit der Bitte um Rückruf.

Stille Wasser

Подняться наверх