Читать книгу In aller Stille - Sue Grafton - Страница 4
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ОглавлениеAn jenem Morgen war ich gerade seit zwanzig Minuten im Büro gewesen. Ich hatte die Glastüren geöffnet, die zu dem im zweiten Stock gelegenen Balkon führten, um etwas frische Luft hereinzulassen, und ich hatte die Kaffeemaschine angestellt. Es war Juni in Santa Teresa: Das bedeutete kühlen Morgennebel und dunstige Nachmittage. Es war noch keine neun Uhr. Ich sortierte gerade die Post des vergangenen Tages, als ich ein Klopfen an der Tür hörte und eine Frau hereinrauschen sah.
»Oh, gut. Sie sind da«, begann sie. »Sie müssen Kinsey Millhone sein. Ich bin Beverly Danziger.«
Wir gaben uns die Hände, und sie setzte sich gleich und wühlte in ihrer Tasche. Sie fand eine Packung Filterzigaretten und klopfte sich eine heraus.
»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich rauche«, sagte sie und zündete die Zigarette an, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie inhalierte und löschte dann das Streichholz mit einem Mund voll Rauch, während sie vergeblich nach einem Aschenbecher suchte. Ich nahm einen von meinem Aktenschrank, wischte den Staub ab und reichte ihn ihr hinüber, wobei ich ihr gleichzeitig einen Kaffee anbot.
»Ja, gern, warum nicht?«, meinte sie mit einem Lachen. »Ich bin heute Morgen sowieso schon nervös, also kommt es darauf auch nicht mehr an. Ich bin gerade aus Los Angeles hier hochgefahren, mitten durch den Berufsverkehr. Puh!«
Während ich ihr einen Becher Kaffee eingoss, taxierte ich sie schnell. Nach meiner Schätzung war sie Ende Dreißig; klein, energisch, gepflegt. Ihre Haare waren glänzend schwarz und ziemlich glatt. Der Schnitt war gerade und perfekt gelegt, so dass er ihr schmales Gesicht wie eine Badekappe einrahmte. Sie hatte hellblaue Augen, schwarze Wimpern und einen klaren Teint mit nur einem Hauch von Rouge auf jedem Wangenknochen. Sie trug einen blassblauen Baumwollpullover mit rundem Halsausschnitt und einen blassblauen Popelinrock. Die Tasche, die sie bei sich hatte, war aus hochwertigem Leder, weich und biegsam, und hatte eine Menge kleiner Reißverschlusstaschen, die Gott weiß was enthielten. Ihre Nägel waren lang, spitz und zugefeilt und rosarot lackiert, und sie trug einen Trauring, der mit Rubinen gespickt war. Sie strahlte Selbstbewusstsein und ein gewisses sorgloses Gefühl für Stil aus, konservativ verpackt wie das Gratisgeschenkpapier eines Klasse-Kaufhauses.
Kopfschüttelnd lehnte sie das Angebot von Milch und Zucker ab, also gab ich Halbe-Halbe in meinen eigenen Becher und kam zur Sache.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich hoffe, Sie können meine Schwester finden«, sagte sie.
Wieder durchsuchte sie ihre Handtasche. Sie nahm ihr Adressbuch, ein Füllhalter-Kugelschreiber-Set aus Rosenholz und einen schmalen weißen Briefumschlag heraus, den sie auf den Rand meines Schreibtisches legte. Ich habe selten jemanden in solcher Selbstvergessenheit gesehen, aber es wirkte nicht reizlos. Als ob sie sich dieser Wirkung bewusst wäre, lächelte sie schnell zu mir herüber. Sie öffnete das Adressbuch, drehte es in meine Richtung und deutete mit ihrem rosafarbenen Fingernagel auf eine der Eintragungen.
»Sie werden sich sicher die Adresse und die Telefonnummer notieren wollen«, meinte sie. »Sie heißt Elaine Boldt. Sie hat eine Eigentumswohnung in der Via Madrina, und das andere hier ist ihre Adresse in Florida. Sie verbringt etliche Monate im Jahr unten in Boca.«
Ich war irgendwie verwirrt, aber ich schrieb mir die Adressen auf, während sie ein offiziell aussehendes Dokument aus dem langen weißen Briefumschlag nahm. Sie las es sich kurz durch, als ob sich der Inhalt geändert haben könnte, seitdem sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.
»Seit wann wird sie vermisst?«, fragte ich.
Beverly Danziger sah mich beunruhigt an. »Tja, ich weiß nicht, ob sie wirklich ›vermisst‹ wird. Ich weiß einfach nur nicht, wo sie steckt, und ich brauche ihre Unterschrift für diese Papiere. Ich weiß, es hört sich merkwürdig an. Sie hat nur auf ein Neuntel Anspruch, und möglicherweise kommen nicht mehr als zwei- oder dreitausend Dollar dabei heraus, aber das Geld kann so lange nicht verteilt werden, bis wir nicht ihre beglaubigte Unterschrift haben. Hier, sehen Sie selbst.«
Ich nahm das Dokument und las mir den Inhalt durch. Es war von einer Anwaltskanzlei in Columbus, Ohio, ausgestellt, und es war voller Anordnungen, Zuerkennungen, Einschränkungen und dergleichen mehr. Es lief darauf hinaus, dass ein Mann namens Sidney Rowan gestorben war und den verschiedenen aufgeführten Menschen Teile seines Vermögens hinterlassen hatte. Beverly Danziger wurde als dritte Partei genannt, mit einer Adresse in Los Angeles, und Elaine Boldt stand an vierter Stelle, mit einer Adresse hier in Santa Teresa.
»Sidney Rowan war eine Art Cousin von uns«, fuhr sie geschwätzig fort. »Ich glaube nicht, dass ich diesen Mann jemals getroffen habe, aber ich erhielt diese Benachrichtigung, und ich nehme an, Elaine hat ebenfalls eine bekommen. Ich unterschrieb den Vordruck und ließ ihn beglaubigen. Dann sandte ich ihn ab und dachte nicht weiter darüber nach. Aus dem ersten Brief können Sie ersehen, dass dies alles vor sechs Monaten geschah. Und dann, siehe da, rief mich in der letzten Woche der Anwalt an ... wie war doch gleich sein Name?«
Ich warf einen Blick auf das Schriftstück. »Wender«, sagte ich.
»Ach ja, richtig. Ich weiß gar nicht, warum ich das immer wieder verdränge. Na, jedenfalls rief mich Mr Wenders Büro an, um mir mitzuteilen, dass sie noch nichts von Elaine gehört hätten. Natürlich nahm ich an, dass sie wie üblich nach Florida gefahren sei und einfach vergessen hätte, sich ihre Post nachsenden zu lassen, also setzte ich mich mit der Hausmeisterin ihrer Wohnanlage hier in Verbindung. Sie hat seit Monaten nichts mehr von Elaine gehört. Also, anfangs schon noch, aber nicht mehr in letzter Zeit.«
»Haben Sie versucht, in Florida anzurufen?«
»Soweit ich weiß, hat der Anwalt es mehrere Male versucht. Offensichtlich lebt eine Freundin bei ihr, und Mr Wender hat seinen Namen und seine Telefonnummer bei ihr hinterlassen, aber Elaine rief nicht zurück. Tillie erging es ebenso.«
»Tillie?«
»Die Frau, die die Anlage hier führt, wo Elaine ihren ständigen Wohnsitz hat. Tillie hat immer die Post nachgesandt, und sie sagt, Elaine hat ihr normalerweise alle paar Wochen eine kleine Nachricht zukommen lassen, aber nun hat sie seit März nichts mehr von ihr gehört. Offen gesagt, das Ganze ist mehr ein Ärgernis als sonst etwas, aber ich habe nicht die Zeit, sie selbst aufzuspüren.« Beverly nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und drückte sie dann mit einer Reihe klopfender Bewegungen aus.
Ich machte mir immer noch Notizen, doch vermutlich war mir die Skepsis anzusehen.
»Was ist? Gehört das nicht zu Ihrer Arbeit?«
»Doch, aber ich berechne dreißig Dollar die Stunde plus Spesen. Wenn es hier nur um zwei- oder dreitausend Dollar geht, frage ich mich, ob es Ihnen das wirklich wert ist.«
»Oh, ich habe allerdings vor, mich durch Elaines Anteil an dem Nachlass voll entschädigen zu lassen, da schließlich sie es ist, die diesen ganzen Ärger verursacht. Ich meine, es geht einfach nicht weiter, solange ihre Unterschrift nicht herbeigeschafft werden kann. Ich muss sagen, das ist mal wieder typisch für sie.«
»Angenommen, ich muss runter nach Florida fliegen, um sie zu suchen. Selbst wenn ich nur die Hälfte meines üblichen Stundenlohns für die Reisezeit berechne, würde es Sie ein Vermögen kosten. Hören Sie, Mrs Danziger –«
»Beverly, bitte.«
»Okay, Beverly. Ich möchte Sie in Ihrem Vorhaben nicht entmutigen, aber, ehrlich gesagt, es hört sich an, als könnten Sie das genauso gut selbst machen. Ich würde Ihnen sogar gerne ein paar Tipps geben.«
Beverly lächelte mich an, aber das Lächeln hatte eine gewisse Schärfe, und endlich wurde mir klar, dass sie daran gewöhnt war, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Ihre Augen starrten wie aus Porzellanlasur und wirkten blau und starr wie Glas. Die schwarzen Wimpern zwinkerten mechanisch.
»Elaine und ich stehen nicht auf bestem Fuße miteinander«, sagte sie ruhig. »Ich glaube, ich habe dieser Sache schon genug Zeit geopfert, aber ich habe Mr Wender versprochen, dass ich sie finde, damit der Nachlass geregelt werden kann. Er steht unter dem Druck der anderen Erben, und er übt diesen Druck wiederum auf mich aus. Ich kann Ihnen einen Vorschuss geben, wenn Sie möchten.«
Wieder wühlte sie in ihrer Tasche herum und kam diesmal mit einem Scheckbuch heraus. Sie öffnete den Rosenholzfüllhalter und sah mich an.
»Sind siebenhundertfünfzig Dollar genug?«
Ich griff in meine Schreibtischschublade. »Ich werde einen Vertrag aufsetzen.«
Ich ging mit dem Scheck zur Bank rüber und holte mein Auto vom Parkplatz hinter dem Büro. Dann fuhr ich zu Elaine Boldts Adresse in die Via Madrina. Es war nicht weit von der Stadtmitte entfernt.
Ich dachte, dies wäre eine Routinesache, die ich in ein oder zwei Tagen erledigt haben würde, und ich dachte mit Bedauern daran, dass ich wahrscheinlich die Hälfte des Geldes, das mir gutgeschrieben worden war, wieder zurückzahlen müsste. Nicht, dass ich besonders viel zu tun gehabt hätte – das Geschäft lief schlecht.
Die Umgebung, in der Elaine Boldt lebte, war eine Mischung aus bescheidenen 30er-Jahre-Bungalows und gelegentlichen Apartmentkomplexen. Noch überwogen die kleinen Holz- und Stuckhäuser, aber die Grundstücke wurden eins nach dem anderen für kommerzielle Zwecke umgewandelt. Heilpraktiker zogen ein und Zahnärzte, die zu einem Sonderpreis bereit waren, ihre Patienten in einen Dämmerschlaf zu versetzen, damit diese ihre Zähne schmerzfrei gereinigt bekommen konnten, KÜNSTLICHE GEBISSE IN EINEM TAG –KREDIT. Es war beunruhigend. Was würden sie mit einem machen, wenn man die Rate für den oberen Gaumen nicht mehr bezahlen konnte? Die Gegend war noch weitgehend intakt – alte Rentner, die hartnäckig versuchten, ihre Hortensiensträucher aufzupäppeln –, aber Grundstücksgesellschaften würden schließlich alles niedermähen. Es gibt eine Menge Geld in Santa Teresa, und viel davon wird dafür geopfert, der Stadt einen bestimmten »Stil« zu erhalten. Es gibt keine blinkenden Neonlichtreklamen, keine Slums, keine Rauch speienden Industriebetriebe, die die Landschaft verschandeln können. Überall gibt es Stuck, rote Ziegeldächer, Kletterpflanzen, ächzende Balken, Lehmziegelmauern, gewölbte Fenster, Palmen, Balkone, Farne, Springbrunnen und blühende Blumen. Restaurationen im Überfluss. Alles ist merkwürdig verwirrend – so üppig und kultiviert, dass es einen für jeden anderen Ort verdirbt.
Als ich Mrs Boldts Adresse gefunden hatte, parkte ich meinen Wagen vor der Tür, schloss ihn ab und verbrachte ein paar Minuten damit, die Lokalitäten zu inspizieren. Die Wohnanlage war eine Kuriosität. Das Gebäude selbst war hufeisenförmig gebaut, mit weiten Ausläufern zur Straße hin; es war drei Etagen hoch und hatte eine Tiefgarage. Eine seltsame Mischung aus Moderne und nachgemachtem Spanisch. Rundbögen und Balkone zierten die Front, hohe schmiedeeiserne Tore führten in einen palmenbepflanzten Hof, doch die Seiten- und Rückwände des Gebäudes waren schmucklos und langweilig, als hätte der Architekt mediterranes Furnier auf eine kahle Sperrholzkiste geklebt und einen Rand roter Ziegel oben drauf gefügt, um ein ganzes Dach vorzutäuschen, wo es keins gab. Sogar die Palmen wirkten wie aus Pappe ausgeschnitten und mit Holzstäben aufrecht gehalten.
Ich durchquerte den Hof und gelangte in eine von Glas umgebene Vorhalle, in der sich auf der rechten Seite eine Reihe von Briefkästen und Klingeln befand. Zu meiner Linken konnte ich durch eine weitere Reihe von Glastüren, die offensichtlich verschlossen waren, einige Aufzugstüren und einen Notausgang sehen. Im Eingang hatte man kunstvoll einige riesige Topfpflanzen arrangiert. Geradeaus führte eine Tür in den Innenhof, in dem leuchtend gelbe Liegestühle um einen Swimming-Pool gruppiert waren. Ich las mir die Namen der Mieter durch, die auf Plastikprägestreifen neben jeder Türklingel standen. Es gab vierundzwanzig Wohnungen. Die Hausmeisterin, Tillie Ahlberg, bewohnte das Apartment Nr. 1. Eine »E. Boldt« stand neben Apartment 9, von dem ich annahm, dass es in der zweiten Etage lag.
Zuerst klingelte ich bei »E. Boldt«. Von mir aus hätte sie sich an der Gegensprechanlage melden können, und mein Job wäre erledigt gewesen. Es hatte schon seltsamere Dinge gegeben, und ich wollte mich nicht lächerlich machen, indem ich überall nach einer Dame suchte, die ebenso gut inzwischen zu Hause sein konnte. Es gab keine Reaktion, also versuchte ich es bei Tillie Ahlberg.
Zehn Sekunden später knisterte ihre Stimme in der Gegensprechanlage, als würde das Geräusch aus dem Weltraum übermittelt.
»Ja?«
Ich ging näher an die Anlage heran und erhob meine Stimme.
»Mrs Ahlberg? Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich bin hier in der Stadt Privatdetektivin. Elaine Boldts Schwester hat mich gebeten, nach ihr zu suchen, und ich dachte, ich könnte vielleicht mit Ihnen sprechen.«
Einen Moment lang war es still, dann kam die zögernde Antwort.
»Nun, ja. Ich wollte eigentlich gerade gehen, aber ich denke, zehn Minuten werden nichts ausmachen. Ich wohne im Erdgeschoss. Kommen Sie durch die Tür rechts vom Aufzug, dann ist es am Ende des Flurs auf der linken Seite.« Der Türöffner summte, und ich drückte die Glastür auf.
Tillie Ahlberg hatte ihre Eingangstür angelehnt gelassen, während sie eine leichte Jacke, ihr Portemonnaie und einen zusammenklappbaren Einkaufswagen, der an einen Flurtisch angelehnt stand, zusammensuchte. Ich klopfte an den Türrahmen, und sie erschien zu meiner Linken. Ich erhaschte einen Blick auf den Kühlschrank und einen Teil der Arbeitsfläche.
Tillie Ahlberg war etwa Mitte sechzig und hatte apricotfarben getöntes Haar in einer Dauerwelle, die aussah, als wäre sie gerade frisch gelegt worden. Die Locken waren wohl ein bisschen krauser geworden, als sie wollte, denn sie setzte sich eine gehäkelte Baumwollmütze auf. Sie war dabei, eine ungehorsame Strähne apricotfarbenen Haars zu verstecken, die wie bei Ronald McDonald immer noch herauslugte. Ihre Augen waren haselnussbraun, und eine puderige Schicht blassrötlicher Sommersprossen überzog ihr Gesicht. Sie trug einen formlosen Rock, Strümpfe und bequeme Schuhe, und sie sah aus, als wäre sie in der Lage, weite Strecken zu bewältigen, wenn sie wollte.
»Ich hoffe, ich war nicht unhöflich«, sagte sie freundlich. »Aber wenn ich morgens nicht als erstes einkaufen gehen kann, ist mir die Laune verdorben.«
»Es wird sowieso nicht lange dauern«, sagte ich. »Können Sie mir sagen, wann Sie zuletzt von Mrs Boldt gehört haben? Ist sie Miss oder Mrs.?«
»Mrs Sie ist Witwe, obwohl sie erst dreiundvierzig Jahre alt ist. Sie war mit einem Mann verheiratet, der eine Unternehmenskette unten im Süden hatte. Wenn ich richtig verstanden habe, starb er vor drei Jahren an einem Herzinfarkt und hinterließ ihr einen Haufen Geld. Daraufhin kaufte sie diese Wohnung. Bitte, wollen Sie sich nicht setzen?«
Tillie wandte sich nach rechts und führte mich in ein Wohnzimmer, das mit imitierten Antiquitäten möbliert war. Ein schwach goldfarbenes Licht drang durch die hellgelben Gardinen, und ich konnte noch die Reste des Frühstücks riechen: Schinken und Kaffee und etwas, das mit Zimt gewürzt gewesen war.
Nachdem sie klargestellt hatte, dass sie es eilig hatte, schien sie bereit, mir so viel Zeit zu opfern, wie ich brauchte. Sie setzte sich auf ein Sofa, und ich suchte mir einen hölzernen Schaukelstuhl aus.
»Soweit ich weiß, ist sie normalerweise um diese Zeit des Jahres in Florida«, sagte ich.
»Ja. Sie hat noch eine andere Eigentumswohnung dort unten. In Boca Raton, wo immer das ist. In der Nähe von Fort Lauderdale, glaube ich. Ich war selbst nie in Florida, deshalb sind diese Städte nichts als Namen für mich. Jedenfalls fährt sie normalerweise um den ersten Februar herum runter und kommt Ende Juli oder Anfang August zurück nach Kalifornien. Sie mag die Hitze, sagt sie.«
»Und Sie senden ihr solange die Post nach?«
Tillie nickte. »Ja, ungefähr einmal die Woche, in Bündeln, je nachdem, wie viel sich angesammelt hat. Und sie schickt mir dann alle paar Wochen eine Nachricht. Eine Postkarte, wissen Sie, auf die sie ein paar Grüße schreibt und wie das Wetter ist und ob ich jemanden in die Wohnung lassen soll, um die Vorhänge reinigen zu lassen oder so was. Dieses Jahr hat sie mir bis zum ersten März geschrieben, und seitdem habe ich kein Wort mehr von ihr gehört. Also, das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich.«
»Haben Sie zufällig noch Postkarten?«
»Nein, ich habe sie alle weggeworfen, wie ich das immer tue. Ich sammele solche Dinge nicht. Es gibt so schon zu viel Papier, das sich irgendwo auf dieser Welt stapelt, wenn Sie mich fragen. Ich habe sie gelesen, zerrissen, und mir nie etwas dabei gedacht.«
»Sie hat nicht zufällig erwähnt, dass sie einen kleinen Ausflug oder so machen wollte?«
»Kein Wort. Natürlich geht mich das im Prinzip ja auch nichts an.«
»Wirkte sie besorgt?«
Tillie lächelte gequält. »Nun, es ist schwierig, auf einer Postkarte besorgt zu erscheinen, dafür gibt es nicht genug Platz. Auf mich wirkte sie okay.«
»Haben Sie eine Vermutung, wo sie sein könnte?«
»Keine. Ich kann nur sagen, dass es nicht ihre Art ist, nicht zu schreiben. Ich habe vier- oder fünfmal versucht, sie anzurufen. Einmal war irgendeine Freundin von ihr am Apparat, aber sie war sehr kurz angebunden, und danach tat sich gar nichts mehr.«
»Wer war diese Freundin? Jemand, den Sie kennen?«
»Nein, aber schließlich weiß ich auch nicht, wen sie in Boca kennt. Es hätte sonst wer sein können. Ich habe mir den Namen nicht gemerkt und würde mich auch nicht an ihn erinnern, wenn Sie ihn mir jetzt nennen würden.«
»Was ist mit der Post, die sie bekommt? Kommen ihre Rechnungen noch?«
Sie zuckte die Achseln. »Es sieht so aus. Ich habe nicht so sehr darauf geachtet. Ich sammele einfach alles, was kommt. Ich habe noch etwas da, das ich ihr schicken wollte, wenn Sie das sehen möchten.« Sie stand auf, ging durch den Raum zu einem Eichenschreibtisch und öffnete eine der Glastüren, indem sie den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Sie nahm einen kleinen Stapel Briefumschläge heraus und sah ihn durch, dann gab sie ihn mir. »Das sind die Sachen, die sie normalerweise bekommt.«
Ich sah den Stapel ebenfalls schnell durch. Visa, Master-Card, Saks Fifth Avenue. Ein Pelzhändler namens Jacques mit einer Adresse in Boca Raton. Eine Rechnung von einem John Pickett, D.D.S., Inc., gleich um die Ecke von Arbol. Keine persönlichen Briefe.
»Bezahlt sie ihre Nebenkosten auch für das Apartment hier?«
»Ich habe die für diesen Monat schon nachgesandt.«
»Könnte sie verhaftet worden sein?«
Ein Lachen war die Antwort. »Aber nein. Sie nicht. So war sie einfach nicht. Sie hatte keinen Führerschein, wissen Sie, aber sie war bestimmt nicht der Typ, der als Fußgänger einen Strafzettel bekommt.«
»Unfall? Krankheit? Alkohol? Drogen?« Ich fühlte mich wie ein Arzt, der seinen Patienten bei der jährlichen Untersuchung befragt.
Tillie sah skeptisch aus. »Sie könnte in einem Krankenhaus liegen, aber sicher hätte sie uns das wissen lassen. Ich finde das Ganze äußerst merkwürdig, um ehrlich zu sein. Wenn ihre Schwester jetzt nicht bei Ihnen vorbeigekommen wäre, wäre ich vielleicht demnächst zur Polizei gegangen. Da stimmt einfach etwas nicht.«
»Aber es gibt eine Menge Erklärungen für ihre Abwesenheit«, meinte ich. »Sie ist erwachsen. Offensichtlich hat sie Geld und keine dringenden Geschäfte. Sie braucht wirklich niemanden über ihren Aufenthaltsort zu unterrichten, wenn sie nicht will. Sie könnte auf einer Kreuzfahrt sein, oder vielleicht hat sie sich einen Liebhaber genommen und sich mit ihm aus dem Staub gemacht. Vielleicht haben sie und ihre Freundin sich auf eine Vergnügungstour begeben. Es könnte ihr gar nicht klar sein, dass jemand versucht, sie zu erreichen.«
»Darum habe ich bisher nichts unternommen, aber irgendwie gefällt mir das nicht. Ich glaube nicht, dass sie gehen würde, ohne jemandem Bescheid zu sagen.«
»Nun, ich werde das untersuchen. Ich möchte Sie im Moment nicht länger aufhalten, aber ich würde später gern mal ihr Apartment sehen«, sagte ich. Ich stand auf, und Tillie erhob sich automatisch. Ich gab ihr die Hand und dankte für die Hilfe.
»Sammeln Sie doch bitte die Post, die demnächst noch kommt«, sagte ich. »Ich werde ein paar andere Möglichkeiten antesten, aber in ein oder zwei Tagen komme ich noch mal vorbei und lasse Sie wissen, was ich herausgefunden habe. Ich glaube nicht, dass es einen Grund zur Sorge gibt.«
»Das will ich nicht hoffen«, sagte Tillie. »Sie ist eine wunderbare Frau.«
Ich gab Tillie meine Karte, bevor wir zusammen das Haus verließen. Ich war immer noch nicht besorgt, aber meine Neugier war geweckt, und ich war begierig darauf, in diesem Fall weiterzukommen.