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Auf dem Weg zurück zum Büro hielt ich an der Stadtbücherei. Ich ging zur Handbibliothek und besorgte mir das städtische Adressbuch von Boca Raton. Ich verglich die Anschrift, die ich von Elaine Boldt hatte, mit den dort aufgeführten Adressen. Tatsächlich, sie stand drin, und die Telefonnummer stimmte mit der überein, die man mir gegeben hatte. Ich notierte die Namen einiger anderer Eigentümer von benachbarten Wohnungen und schrieb mir einige Telefonnummern auf. Es schien, als gäbe es dort eine ganze Reihe von Gebäuden in demselben Komplex, und ich vermutete, dass es sich um eine ganze »Plangemeinde« handelte. Es gab ein Geschäft, eine Telefonnummer für den Tennisplatz, ein Kurhaus und einen Fitnessraum. Ich schrieb mir alles auf, um mir eine eventuelle Rückkehr zu ersparen.

Als ich das Büro erreicht hatte, legte ich eine Akte über Elaine Boldt an. Ich trug die Zeit, die ich bisher auf diesen Fall verwendet hatte, und die erlangten Informationen ein. Ich versuchte es mit der Telefonnummer in Florida und ließ das Telefon ungefähr dreißigmal ohne Erfolg klingeln. Dann rief ich das Geschäft der Boca-Raton-Wohnanlage an. Man gab mir den Namen des Hausmeisters in Elaine Boldts Gebäude, einen Roland Makowski, Apartment 101, der nach dem ersten Klingeln abnahm.

»Hier Makowski.«

Ich erklärte ihm so kurz wie möglich, wer ich war, und warum ich versuchte, Elaine Boldt zu erreichen.

»Sie ist dieses Jahr nicht runtergekommen«, sagte er. »Normalerweise ist sie um diese Zeit hier, aber ich vermute, dass sie ihre Pläne geändert hat.«

»Sind Sie sicher?«

»Na ja, ich habe sie nicht hier gesehen. Ich war tagein, tagaus oben und unten und rund um dieses Gebäude herum, und ich habe sie nicht einmal gesehen. Das ist alles, was ich weiß. Schätze, wenn sie hier ist, muss sie sich ständig an einem Ort aufhalten, wo ich nicht bin«, meinte er. »Ihre Freundin, Pat, ist hier, aber Mrs Boldt ist woanders hingefahren, wurde mir gesagt. Vielleicht kann sie Ihnen sagen, wohin. Ich habe sie gerade dabei erwischt, wie sie Handtücher über das Geländer hängte. Das ist hier nicht erlaubt. Die Balkone sind keine Wäscheständer, und das habe ich ihr gesagt. Sie war wohl sehr verärgert.«

»Können Sie mir ihren Nachnamen sagen?«

»Was?«

»Können Sie mir Pats Nachnamen sagen? Mrs Boldts Freundin.«

»Oh. Ja.«

Ich wartete einen Moment. »Ich habe Bleistift und Papier«, sagte ich.

»Oh. Sie heißt Usher. Sie wohnt zur Untermiete, sagt sie. Wie war Ihr Name noch gleich?«

Ich nannte ihm noch einmal meinen Namen und gab ihm meine Büronummer, für den Fall, dass er mich erreichen wollte. Es war keine zufrieden stellende Unterhaltung gewesen. Pat Usher schien die einzige Verbindung zu Elaine Boldts Aufenthaltsort zu sein, und ich fand es wichtig, so bald wie möglich mit ihr zu sprechen.

Ich versuchte es ein weiteres Mal mit Elaines Nummer in Florida und ließ das Telefon klingeln, bis mich das Geräusch nervte. Nichts. Sollte Pat Usher noch in dem Apartment sein, so weigerte sie sich konsequent, ans Telefon zu gehen.

Ich prüfte die Liste, die ich von den angrenzenden Apartments gemacht hatte, und versuchte es mit der Telefonnummer eines Robert Perreti, der offensichtlich direkt nebenan wohnte. Keine Reaktion. Ich versuchte es mit der Nummer des Nachbarn zur anderen Seite und ließ das Telefon pflichtbewusst zehnmal klingeln, wie die Telefongesellschaft es uns empfiehlt. Schließlich nahm jemand ab – eine sehr alte Person, der Stimme nach zu urteilen.

»Ja?« Sie hörte sich an, als wäre sie sehr schwach und würde im nächsten Moment anfangen zu weinen. Ich merkte, wie ich unbewusst lauter und sorgfältiger sprach, als hätte ich es mit einer Hörgeschädigten zu tun.

»Mrs Ochsner?«

»Ja.«

»Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich rufe aus Kalifornien an und versuche, die Frau, die neben Ihnen im Apartment 315 wohnt, zu erreichen. Wissen Sie zufällig, ob sie da ist? Ich habe es gerade versucht, und ich ließ das Telefon ungefähr dreißigmal ohne Erfolg klingeln.«

»Haben Sie Probleme mit Ihrem Gehör?«, fragte sie mich. »Sie sprechen sehr laut, wissen Sie.«

Ich lachte und brachte meine Stimme wieder auf normale Lautstärke. »Tut mir Leid«, meinte ich. »Ich war mir nicht sicher, wie gut Sie mich hören können.«

»Oh, ich kann sehr gut hören. Ich bin achtundachtzig Jahre alt und kann keinen Schritt ohne Hilfe machen, aber mit meinen Ohren ist alles in Ordnung. Ich habe jedes dieser dreißig Klingelzeichen durch die Wand mitgezählt, und ich dachte, ich werde verrückt, wenn es noch länger dauert.«

»Ist Pat Usher nicht zu Hause? Ich habe gerade mit dem Hausmeister gesprochen, und der meinte, sie sei da.«

»Allerdings, sie ist da. Ich weiß das, weil sie noch vor wenigen Sekunden eine Tür zugeschlagen hat. Was wollten Sie denn von ihr, wenn ich fragen darf?«

»Ja, eigentlich versuche ich, Elaine Boldt zu finden, aber wenn ich richtig verstanden habe, ist sie in diesem Jahr gar nicht runtergekommen.«

»Das stimmt, und ich war schrecklich enttäuscht. Sie ist Teil einer Bridge-Viererrunde, wenn Mrs Wink und Ida Rittenhouse hier sind, und wir verlassen uns auf sie. Seit letztes Jahr Weihnachten konnten wir keine Hand mehr spielen, und das ist Ida ziemlich auf die Laune geschlagen, wenn Sie die Wahrheit hören wollen.«

»Haben Sie eine Idee, wo Mrs Boldt sein könnte?«

»Nein, habe ich nicht, und ich nehme an, die Frau, die in ihrer Wohnung wohnt, ist auch dabei, auszuziehen. Die Bestimmungen dieser Wohnanlage erlauben keine Untermieter. Ich war überrascht, dass Elaine das zugelassen hat. Wir haben uns zigmal bei der Verwaltung beschwert, und ich glaube, Mr Makowski hat sie aufgefordert, die Wohnung zu räumen. Die Frau stellt sich natürlich stur und behauptet, die Absprache mit Elaine beinhalte auch den ganzen Monat Juni. Wenn Sie mit ihr selbst sprechen wollen, müssen Sie wohl bald hierher kommen. Ich sah, wie sie einige Kartons aus dem Getränkeladen hochbrachte, und ich glaube ... ja, ich sollte sagen, ich hoffe, sie ist dabei zu packen, während wir uns hier unterhalten.«

»Danke, vielleicht mache ich das. Sie waren mir eine große Hilfe. Wenn ich runterkommen sollte, schau ich bei Ihnen rein.«

»Sie spielen nicht zufällig Bridge, Liebes, oder? Seit sechs Monaten sind wir nun darauf angewiesen, nur Skat zu spielen, und Ida entwickelt ein ganz schön freches Mundwerk. Mrs Wink und ich können das nicht mehr sehr lange aushalten.«

»Nun ja, ich habe nie gespielt, aber vielleicht kann ich es versuchen«, sagte ich.

»Ein Penny pro Punkt«, sagte sie unvermittelt, und ich musste lachen. Ich rief bei Tillie an. Sie klang außer Atem, als ob sie zum Telefon gerannt wäre.

»Hi, Tillie«, sagte ich. »Ich bin’s noch mal, Kinsey.«

»Ich bin gerade vom Markt zurückgekommen«, keuchte sie. »Warten Sie, bis ich wieder Luft bekomme. Puh! Was kann ich für Sie tun?«

»Ich denke, ich sollte mich ein bisschen beeilen und einen Blick auf Elaines Apartment Werfen.«

»Warum? Was ist passiert?«

»Nun, die Leute in Florida sagen, sie sei nicht da, also hoffe ich, dass wir herausfinden, wohin sie sonst gefahren sein könnte. Wenn ich gleich noch mal komme, können Sie mich hineinlassen?«

»Ich denke schon. Ich habe nichts vor, außer die Lebensmittel auszuladen, und das dauert höchstens ein paar Minuten.«

Als ich wieder an der Wohnanlage war, meldete ich mich über die Gegensprechanlage bei ihr. Sie ließ mich hinein und empfing mich dann an der Aufzugtür mit dem Schlüssel zu Elaines Apartment. Während wir in den zweiten Stock hinauffuhren, klärte ich sie über die Details meines Gesprächs mit Elaines Hausmeister in Florida auf.

»Sie meinen, niemand da unten hat sie überhaupt gesehen? Ja, dann stimmt etwas nicht«, sagte sie. »Ganz bestimmt. Ich weiß, dass sie weggefahren ist, und ich weiß, dass sie auf jeden Fall vorhatte, nach Florida zu fliegen. Ich sah aus dem Fenster, wie das Taxi kam, hupte und sie einstieg. Sie hatte ihren guten Pelzmantel und die dazu passende Pelzkappe an. Sie reiste bei Nacht, was sie eigentlich nicht mochte, aber sie fühlte sich nicht gut und dachte, eine Klimaveränderung könnte helfen.«

»Sie war krank?«

»Nun ja. Ihre Nebenhöhlen waren verstopft, und sie hatte diese schreckliche Kopfgrippe oder Allergie oder was auch immer. Ich will ja nichts sagen, aber sie war ein bisschen hypochondrisch veranlagt. Sie rief mich an und sagte, sie habe sich entschlossen, sofort hinunterzufahren, beinahe auf der Stelle. Eigentlich sollte es erst zwei Wochen später losgehen, aber der Arzt hatte gesagt, es könnte ihr gut tun, und ich glaube, sie buchte den ersten Flug, den sie bekommen konnte.«

»Wissen Sie, ob sie ein Reisebüro in Anspruch genommen hat?«

»Ich bin ziemlich sicher, dass sie es getan hat. Wahrscheinlich eines in der Nähe. Da sie kein Auto fuhr, bevorzugte sie Geschäfte, die sie zu Fuß erreichen konnte, wenn es ging. Wir sind da.«

Tillie war vor Apartment 9 stehen geblieben, das im zweiten Stock, direkt über ihrem eigenen, lag. Sie schloss die Tür auf und folgte mir hinein.

Das Apartment war dunkel, die Vorhänge zugezogen, die Luft trocken und unbewegt. Tillie durchquerte das Wohnzimmer und öffnete die Vorhänge.

»War jemand in der Wohnung, seitdem sie gefahren ist?«, fragte ich. »Reinigungsfrau? Handwerker?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Wir schienen beide unsere Bibliothekslautstärke zu benutzen, denn es hat etwas Beunruhigendes an sich, in einer fremden Wohnung zu sein, wenn man nicht sollte. Ich fühlte, wie mir ein feiner Stromstoß durchs Mark schoss.

Wir machten schnell eine Runde durch die Wohnung, und Tillie meinte, ihr schiene alles normal zu sein. Nichts Besonderes. Nichts am falschen Platz. Sie ging dann, und ich sah mich allein um und nahm mir die Zeit, es gründlich zu tun.

Es war eine Eckwohnung, zweiter Stock Vorderseite, mit Fenstern an zwei Wänden. Ich nahm mir eine Minute Zeit, um auf die Straße zu sehen. Es fuhren keine Autos vorbei. Ein Junge mit Irokesenschnitt lehnte an einem geparkten Wagen direkt unter mir. Die Seiten seines Kopfes waren so kurz geschoren, als stünde er vor seiner Hinrichtung, und der verbliebene Streifen Haar stand hoch wie trockenes Gras auf dem Mittelstreifen eines Highway. Es war in einer Rosaschattierung getönt, die ich nicht mehr gesehen hatte, seitdem Hot Pants aus der Mode waren. Er sah aus wie sechzehn oder siebzehn und trug eine leuchtend rote Fallschirmjägerhose, die in seine Kampf Stiefel gesteckt war, und ein oranges Army-Hemd mit einer Aufschrift auf der Brust, die ich von hier aus nicht lesen konnte. Ich beobachtete, wie er sich einen Joint drehte und ihn anzündete.

Ich ging zu den Seitenfenstern, von denen aus man auf die ebenerdigen Fenster des kleinen Holzhauses nebenan sehen konnte. Das Dach war von einem Feuer zerstört, und die Dachbalken des Hauses waren porös wie die zerbrechlichen Gräten eines zu lange gekochten Fisches. Die Tür war mit Brettern vernagelt, die Scheiben aus den Fenstern herausgebrochen, offensichtlich durch die Hitze. Ein zu VERKAUFEN-Schild war in das tote Gras gerammt worden wie ein zerbrechlicher Grabstein. Keine besonders schöne Aussicht für eine Eigentumswohnung, die Elaine nach meiner Schätzung über hunderttausend Dollar gekostet haben musste. Ich zuckte die Achseln und ging in die Küche.

Arbeitsfläche und Küchengeräte glänzten. Der Fußboden war unverkennbar gewischt und gewachst worden. Die Schränke waren ordentlich gefüllt mit Lebensmitteln in Dosen, einschließlich etwas Katzenfutter. Der Kühlschrank war leer, mit Ausnahme der üblichen Tür voll mit Oliven und Mixed Pickles und Senf und Marmelade. Der elektrische Herd war nicht mehr angeschlossen, die Schnur hing vor dem Zifferblatt der Uhr, auf der es 8.20 Uhr war. Eine leere braune Papiertüte war in den Plastikabfalleimer unter dem Waschbecken gesteckt und sorgfältig über dessen Rand gestülpt worden. Es sah so aus, als ob Elaine Boldt die Wohnung systematisch für eine lange Abwesenheit vorbereitet hatte.

Ich verließ die Küche und schlenderte in den Flur. Der Grundschnitt war offenbar ein Duplikat von Tillies Apartment darunter. Ich ging durch einen kleinen Korridor und warf einen Blick zu meiner rechten in ein kleines Bad mit einem Waschbecken, das wie eine versenkte Marmormuschel geformt war, und vergoldeten Armaturen und goldgepunkteten Spiegelkacheln an einer Wand. Der kleine geflochtene Papierkorb unter dem Waschbecken war leer bis auf ein feines, graubraunes Haarbüschel, das an einer Seite hängen geblieben war, wie ein kleiner Haarknäuel, der entsteht, wenn man eine Bürste säubert.

Dem Badezimmer gegenüber befand sich ein kleiner Raum, in dem ein Schreibtisch, ein Fernseher, ein Sessel und eine Liege standen. Die Schreibtischschubladen enthielten das übliche Sortiment von Kugelschreibern, Büroklammern, Notizzetteln und Mappen. Im Moment sah ich keinen Anlass, diese Sachen genauer zu untersuchen. Zufällig sah ich ihren Sozialversicherungsausweis und notierte mir ihre Mitgliedsnummer. Dann verließ ich den kleinen Raum und ging in das große Schlafzimmer, an das ein Bad grenzte.

Durch die zugezogenen Vorhänge wirkte das Schlafzimmer düster, aber auch hier schien alles in Ordnung zu sein. Auf der rechten Seite befand sich ein begehbarer Wandschrank, der groß genug war, um ihn unterzuvermieten. Einige der Kleiderbügel waren leer, und in den Sachen, die auf den Regalbrettern gestapelt waren, konnte ich Lücken entdecken, wo sie vermutlich etwas eingepackt hatte. In einer Ecke war noch ein kleiner Koffer verstaut, eines dieser teuren Designermodelle, auf denen in Schnörkelschrift ein fremder Name steht.

Wahllos durchsuchte ich Wäscheschubladen. In einigen befanden sich noch Wollpullover in den Plastiktaschen einer chemischen Reinigung. Andere waren bis auf ein oder zwei zurückgelassene Duftkissen leer. Unterwäsche. Etwas Modeschmuck.

Das große Bad war geräumig und ordentlich, und das Medizinschränkchen war ausgeräumt, mit Ausnahme von ein paar rezeptfreien Medikamenten. Ich ging zur Tür zurück, blieb einen Moment lang stehen und betrachtete das Schlafzimmer. Nichts wies hin auf ein Verbrechen oder ein übereiltes Verschwinden, einen Einbruch, Vandalismus, Krankheit, Selbstmord, Trunkenheit, Drogenmissbrauch, geistige Verwirrtheit oder einen kürzlichen Besucher. Sogar die feine Schicht Hausstaub auf den glänzenden Oberflächen der Möbel schien unberührt zu sein.

Ich ging und verschloss die Tür hinter mir. Ich fuhr mit dem Aufzug runter zu Tillie und fragte sie, ob sie ein Foto von Elaine habe.

»Nicht dass ich wüsste«, meinte sie, »aber ich kann sie Ihnen beschreiben, wenn Sie möchten. Sie ist ungefähr so groß wie ich, das heißt so ein Meter achtundsechzig, und zirka hundertundzwanzig Pfund schwer. Sie hat blond gesträhnte Haare, die sie hinter die Ohren kämmt. Blaue Augen.« Tillie hielt inne. »Oh, warten Sie, vielleicht habe ich doch ein Foto. Mir fällt gerade eins ein. Einen Moment.«

Sie verschwand Richtung Arbeitszimmer und kam kurz darauf mit einem Polaroid-Schnappschuss wieder, den sie mir gab. Das Foto hatte einen Stich ins Orange und fühlte sich klebrig an. Die Aufnahme war aus ungefähr sieben Metern Entfernung gemacht worden und zeigte zwei in einem Hof stehende Frauen in voller Größe. Sofort tippte ich darauf, dass die linke Elaine sein musste, glücklich lächelnd, herausgeputzt und elegant, in einer gut geschnittenen Leinenhose. Die andere Frau war mollig um die Hüften, trug ein Brillengestell aus Plastik und eine Frisur, die aussah, als könnte sie unversehrt abgenommen werden. Sie schien Mitte vierzig zu sein und blinzelte verlegen in die Sonne.

»Das wurde im letzten Herbst aufgenommen«, sagte Tillie. »Die Frau links ist Elaine.«

»Wer ist die andere Frau?«

»Marty Grice, eine unserer Nachbarinnen. Also, das ist eine schreckliche Geschichte. Sie starb ... oh, Mensch, ich glaube schon vor sechs Monaten. Mir kommt es noch gar nicht so lange vor.«

»Was ist ihr zugestoßen?«

»Tja, man glaubt, sie hat einen Einbrecher überrascht. Ich nehme an, er brachte sie auf der Stelle um und versuchte dann, das Haus niederzubrennen, um alles zu vertuschen. Es war grauenhaft. Vielleicht haben Sie etwas darüber in der Zeitung gelesen.«

Ich schüttelte den Kopf. Es gibt oft Zeiten, in denen ich überhaupt keine Zeitung lese, aber mir fiel das Nachbarhaus mit seinem verkohlten Dach und den herausgebrochenen Fenstern ein. »Das tut mir Leid«, sagte ich. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Foto vorläufig behalte?«

»Nein, bitte.«

Ich sah es mir noch einmal an. Die Vorstellung war etwas beunruhigend, dass hier ein Augenblick vor nicht allzu langer Zeit eingefangen worden war, in dem beide Frauen so sorglos gelächelt hatten und nicht ahnten, dass ihnen etwas Bedrohliches bevorstand. Jetzt war die eine tot, und die andere wurde vermisst. Mir gefiel diese Kombination überhaupt nicht.

»Waren Elaine und diese Frau gut befreundet?«, fragte ich.

»Nicht richtig. Sie spielten ab und zu Bridge zusammen, aber ansonsten verkehrten sie nicht miteinander. Elaine ist den meisten Menschen gegenüber ein bisschen unnahbar. In der Tat war Marty wegen Elaines Art öfter etwas eingeschnappt. Nicht, dass sie mir jemals viel erzählt hätte, aber ich kann mich erinnern, dass sie von Zeit zu Zeit ein bisschen gehässig wurde. Elaine gönnt sich einiges – darüber besteht kein Zweifel –, und sie ist ein bisschen unsensibel gegenüber einigen Leuten, die sich nicht so ein feines Leben wie sie leisten können. Ihr Pelzmantel ist so ein Beispiel. Sie wusste, dass Leonard und Marty in finanziellen Schwierigkeiten steckten, aber sie musste diesen Mantel jedes Mal tragen, wenn sie zum Bridgespiel rüberging. Für Marty war das natürlich ein rotes Tuch.«

»Ist das derselbe Mantel, den sie trug, als Sie sie das letzte Mal sahen?«

»Ja, genau. Ein Zwölftausend-Dollar-Luchsfellmantel mit passendem Hut.«

»Toll«, bemerkte ich.

»Oh ja, er ist wunderschön. Ich würde meine Eckzähne für solch einen Mantel hergeben.«

»Fällt Ihnen sonst noch etwas zu ihrer Abreise an jenem Abend ein?«

»Kann ich nicht sagen. Sie trug irgendwelches Gepäck – ich nehme an, einen fahrbaren Koffer –, und der Taxifahrer brachte den Rest herunter.«

»Können Sie sich an das Taxiunternehmen erinnern?«

»Ich habe damals wirklich nicht so genau hingesehen, aber normalerweise bestellte sie einen Wagen von City Cab oder Green Stripe, manchmal auch Tipp Top, obwohl sie die nicht besonders mochte. Ich wollte, ich könnte Ihnen mehr sagen. Ich meine, wenn sie hier losgefahren ist, um nach Florida zu fliegen, dort aber nie angekommen ist, wo ist sie geblieben?«

»Genau das will ich herausfinden«, erwiderte ich.

Ich schenkte Tillie ein beruhigend gemeintes Lächeln, aber ich fühlte mich nicht wohl.

Ich, fuhr zurück zum Büro und überschlug kurz die Kosten, die mir bisher entstanden waren; ungefähr fünfundsiebzig Dollar für die Zeit bei Tillie und die Zeit, die für die Untersuchung von Elaines Apartment drauf gegangen war, plus der Zeit in der Bücherei und am Telefon und die Ferngesprächsgebühren. Ich kannte Privatdetektive, die ihre gesamten Nachforschungen vom Telefon aus führten, aber ich finde das nicht sehr klug. Solange man sich mit den Leuten nicht von Angesicht zu Angesicht beschäftigt, gibt es zu viele Dinge, die man übersehen kann und zu viele Möglichkeiten, getäuscht zu werden.

Ich rief ein Reisebüro an und buchte einen Flug nach Miami und zurück. Er kostete mich neunundneunzig Dollar einfach, dafür musste ich mitten in der Nacht fliegen und durfte weder essen und trinken noch zum Klo gehen. Außerdem ließ ich mir am anderen Ende einen billigen Mietwagen reservieren.

Mein Flugzeug würde erst in etlichen Stunden starten, also fuhr ich nach Hause, absolvierte eine Jogging-Runde von drei Meilen und steckte mir dann Zahnbürste und Zahnpasta in die Tasche und nannte das »Packen«. Später würde ich Elaines Reisebüro ausfindig machen müssen, um in Erfahrung zu bringen, welche Fluggesellschaft sie in Anspruch genommen hatte, und ob sie vielleicht einen Weiterflug nach Mexiko oder in die Karibik gebucht hatte. In der Zwischenzeit hoffte ich, Elaines Freundin in Florida zu erwischen, bevor sie sich aus dem Staub gemacht und mir meine einzige Verbindung zu Elaines Aufenthaltsort genommen hatte.

In aller Stille

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