Читать книгу Letzte Ehre - Sue Grafton - Страница 5
1
ОглавлениеIch will ja nicht meckern, aber in Zukunft werde ich es mir genauer überlegen, bevor ich dem Freund eines Freundes einen Gefallen tue. Noch nie habe ich mir einen solchen Haufen Scherereien aufgehalst. Dabei wirkte am Anfang alles so harmlos. Ich schwöre, daß ich einfach nicht vorhersehen konnte, was da auf mich zukam. Ich bin ganz knapp dem Tod entronnen und – was vielleicht noch schlimmer ist (für alle anderen Zahnphobiker) – hätte um Haaresbreite meine beiden Schneidezähne ausgeschlagen bekommen. Zur Zeit bin ich stolze Trägerin einer faustgroßen Beule am Kopf. Und das alles für einen Auftrag, für den ich nicht einmal bezahlt wurde!
Auf die Angelegenheit aufmerksam gemacht wurde ich von meinem Vermieter Henry Pitts, in den ich, wie allgemein bekannt, seit Jahren verliebt bin. Die Tatsache, daß er fünfundachtzig ist (lediglich fünfzig Jahre älter als ich), konnte offensichtlich nie an der grundlegenden Wirkung seiner Anziehungskraft rütteln. Er ist ein Schatz und bittet mich nur selten um etwas, wie konnte ich also ablehnen? Vor allem, da sich seine Bitte auf den ersten Blick so harmlos ausnahm, ohne den geringsten Anschein der Ärgernisse, die folgen sollten.
Es war Donnerstag, der einundzwanzigste November, die Woche vor Thanksgiving, und die Hochzeitsvorbereitungen kamen langsam in Gang. Henrys älterer Bruder William sollte meine Freundin Rosie heiraten, die die schäbige Schenke in meinem Viertel betreibt. Rosies Restaurant hatte an Thanksgiving seit jeher geschlossen, und sie beglückwünschte sich selbst dafür, daß sie und William unter die Haube kommen konnten, ohne daß ihr ein Geschäft entging. Da die Zeremonie und die Feier im Restaurant abgehalten werden sollten, war eine Kirche überflüssig geworden. Rosie hatte einen Richter organisiert, der die Trauungszeremonie durchführen würde, und ging offenbar davon aus, daß seine Dienste gratis waren. Henry hatte sie aufgefordert, dem Richter ein bescheidenes Entgelt anzubieten, doch sie hatte ihn nur ausdruckslos angeblickt und so getan, als könnte sie nicht so gut Englisch. Sie ist gebürtige Ungarin und hat vorübergehende Ausfallerscheinungen, wenn es ihren Zwecken dient.
Sie und William waren fast ein Jahr verlobt, und es war Zeit, das große Ereignis auszurichten. Ich wußte noch nie genau, wie alt Rosie ist, aber sie muß an die siebzig sein. Da William auf die Achtundachtzig zuging, war die Formel »bis daß der Tod uns scheide« für sie statistisch bedeutsamer als für die meisten anderen.
Bevor ich den Auftrag, den ich annahm, genauer schildere, sollte ich wohl rasch ein paar persönliche Daten nennen. Ich heiße Kinsey Millhone. Ich bin amtlich zugelassene Privatdetektivin, zweimal geschieden und ohne Kinder oder sonstigen lästigen Anhang. Sechs Jahre lang hatte ich eine formlose Vereinbarung mit der California-Fidelity-Versicherung, für die ich im Austausch gegen Büroräume Brandstiftungen und Entschädigungsforderungen wegen fahrlässiger Tötung untersuchte. Seit mittlerweile fast einem Jahr, also seit Auslaufen dieser Abmachung, habe ich bei Kingman und Ives, einer Anwaltskanzlei hier in Santa Teresa, ein Büro gemietet. Wegen der Hochzeit hatte ich mir eine Woche freigenommen und freute mich auf Ruhe und Erholung, wenn ich nicht gerade Henry bei den Hochzeitsvorbereitungen half. Henry, der seinen Beruf als Bäcker schon lange nicht mehr ausübte, würde die Hochzeitstorte backen und außerdem für Speisen und Getränke auf der Feier sorgen.
Die Hochzeitsgesellschaft bestand aus acht Personen. Rosies Schwester Klotilde, die an den Rollstuhl gefesselt war, sollte Trauzeugin und Henry Trauzeuge sein, während seine älteren Brüder Lewis und Charlie als Zeremonienmeister fungieren sollten. Die vier – Henry, William, Lewis und Charlie (gemeinsam auch »die Jungs« oder »die Knirpse« genannt) – rangierten altersmäßig von Fünfundachtzig (Henry) bis hin zu Dreiundneunzig (Charlie). Ihre einzige Schwester Nell, mit ihren Fünfundneunzig noch äußerst rüstig, sollte eine der beiden Brautjungfern sein und ich die andere. Bei der Zeremonie wollte Rosie ein Sackkleid aus cremeweißem Organza und einen Kranz aus Schleierkraut um ihr seltsam gefärbtes rotes Haar tragen. Im Ausverkauf hatte sie einen Ballen glänzenden Baumwollstoff mit üppigem Blumenmuster erstanden... rosa-und mauvefarbene Zentifolien auf leuchtendgrünem Hintergrund. Der Stoff wurde nach Flint, Michigan, expediert, wo Nell drei ähnliche Sackkleider für uns Frauen »zusammengeflickt« hatte. Ich konnte es gar nicht erwarten, meines anzuprobieren. Ich war mir sicher, daß wir, wenn wir fertig ausstaffiert waren, von drei wandelnden Schlafzimmervorhängen kaum zu unterscheiden wären. Mit meinen fünfunddreißig hatte ich eigentlich gehofft, als ältestes Blumenmädchen aller Zeiten in die Geschichte einzugehen, aber Rosie hatte beschlossen, diesen Part nicht zu besetzen. Es würde die Hochzeit des Jahrzehnts werden, und nicht für alles Geld der Welt hätte ich sie versäumen wollen. Was uns zu den »sich überstürzenden Ereignissen« zurückbringt, wie wir so etwas im Kriminalfach nennen.
Ich begegnete Henry morgens um neun Uhr, als ich aus meinem Apartment kam. Ich lebe in einer umgebauten Einzelgarage, die mit Henrys Haus durch eine überdachte Passage verbunden ist. Ich war auf dem Weg zum Supermarkt, wo ich mich für die nächsten Tage mit Fertigmahlzeiten eindecken wollte. Als ich meine Tür aufmachte, stand Henry mit einem Notizzettel und einer Rolle Klebeband davor. Anstelle seiner gewohnten Shorts, dem T-Shirt und den Gummilatschen trug er lange Hosen und ein blaues Sporthemd mit hochgekrempelten Ärmeln.
Ich sagte: »Du siehst ja umwerfend aus.« Sein Haar ist schlohweiß, und er hat normalerweise einen Seitenscheitel. Heute war es mit Wasser geglättet, und ich konnte noch die warme Zitrusnote seines Rasierwassers riechen. Seine blauen Augen wirken in seinem schmalen, gebräunten Gesicht wie lodernde Flammen. Er ist groß und schlank, freundlich, klug und sein Benehmen eine perfekte Mischung aus Ritterlichkeit und Ungezwungenheit. Wenn er nicht alt genug wäre, um mein Opa zu sein, hätte ich ihn mir im Handumdrehen geschnappt.
Henry lächelte, als er mich sah. »Da bist du ja. Ausgezeichnet. Ich wollte dir gerade einen Zettel schreiben. Ich dachte, du seist nicht zu Hause, sonst hätte ich geklopft. Ich bin auf dem Weg zum Flughafen, um Nell und die Jungs abzuholen, aber ich möchte dich noch um einen Gefallen bitten. Hast du einen Augenblick Zeit?«
»Sicher. Ich wollte gerade zum Supermarkt gehen, aber das eilt nicht«, sagte ich. »Was gibt’s?«
»Erinnerst du dich an den alten Mr. Lee? Hier im Viertel wurde er Johnny genannt. Das ist der Herr, der um die Ecke in der Bay Street gewohnt hat. Das kleine, weiß verputzte Haus mit dem zugewachsenen Garten. Genauer gesagt hat Johnny in der Wohnung über der Garage gewohnt. Sein Enkel Bucky und dessen Frau wohnen im Haus.«
Der betreffende Bungalow, an dem ich täglich bei meiner Jogging-Runde vorbeikam, war ein heruntergekommenes Wohnhaus, das aussah, als wäre es in einem Feld voller wildem Gras vergraben. Das waren keine feinen Leute, es sei denn, man betrachtete ein aufgebocktes Auto als eine Art Gartenschmuck. Die Nachbarn beschwerten sich schon seit Jahren, doch es nützte nichts. »Ich kenne das Haus, aber der Name sagt mir nicht viel.«
»Du hast sie wahrscheinlich drüben bei Rosies’s gesehen. Bucky macht einen netten Eindruck, aber seine Frau ist seltsam. Sie heißt Babe. Sie ist klein und mollig und vermeidet meistens Blickkontakt. Johnny sah immer aus wie ein Obdachloser, aber er hatte sein Auskommen.«
Langsam erinnerte ich mich an das Trio, das er beschrieb: alter Knabe in einem schäbigen Jackett, das Pärchen grapschte sich gegenseitig an den Hintern und sah zu jung aus, um verheiratet zu sein. Ich hielt mir eine Hand ans Ohr. »Du hast die Vergangenheitsform verwendet. Ist der alte Mann tot?«
»Leider. Der Ärmste hatte einen Herzinfarkt und ist vor vier oder fünf Monaten gestorben. Ich glaube, es war irgendwann im Juli. Nicht daß irgend etwas daran auffällig gewesen wäre«, fügte Henry eilig hinzu. »Er war erst Mitte siebzig, aber seine Gesundheit war nie die beste. Auf jeden Fall ist mir vor kurzem Bucky begegnet, und er hat ein Problem, zu dem er mich um Rat gefragt hat. Es ist nicht dringend. Es ist nur lästig, und ich dachte, daß du ihm vielleicht weiterhelfen könntest.«
Ich dachte an einen nicht gekennzeichneten Schlüssel zu einem Banksafe, unauffindbare Erben, verschwundene Wertsachen, eine zweideutige Formulierung im Testament, eben eine dieser ungeklärten Fragen, die die Lebenden von den jüngst Verstorbenen erben. »Sicher. Worum geht’s?«
»Möchtest du die lange oder die kurze Fassung?«
»Die lange, aber sprich schnell. Das erspart mir eventuell Fragen.«
Ich sah, wie Henry sich mit einem raschen Blick auf die Uhr auf sein Thema einstellte. »Ich möchte nicht zu spät zum Flughafen kommen, aber die Situation ist kurz gesagt folgende: Der alte Knabe wollte keine Beerdigung, sondern hat darum gebeten, eingeäschert zu werden, was auch unverzüglich geschah. Bucky hat sich überlegt, die Asche nach Columbus, Ohio, zu überführen, wo sein Vater lebt, doch dann fiel ihm ein, daß sein Großvater Anspruch auf eine militärische Beisetzung hatte. Ich glaube, Johnny ist im Zweiten Weltkrieg Kampfflieger gewesen, Mitglied der Amerikanischen Freiwilligentruppe unter Claire Chennault. Er hat nicht viel darüber gesprochen, aber ab und zu schwelgte er in Erinnerungen an Birma, die Luftschlachten über Rangun und dergleichen. Jedenfalls dachte Bucky, daß es hübscher wäre: weißer Marmor mit seinem Namen eingemeißelt und so. Er sprach mit seinem Vater darüber, und Chester war ziemlich angetan, also ist Bucky ins hiesige Büro des Veteranenamts marschiert und hat ein Antragsformular ausgefüllt. Er verfügte nicht über alle Daten, aber er tat, was er konnte. Drei Monate verstrichen, und er hörte kein Wort. Er wurde schon langsam zappelig, als der Antrag mit dem Vermerk ›Identität unbekannt‹ zurückkam. Bei einem Namen wie John Lee war das nicht allzu erstaunlich. Bucky rief beim Veteranenamt an, und der Sachbearbeiter schickte ihm ein anderes Formular zum Ausfüllen, und zwar eines, mit dem man Militärakten anfordern kann. Diesmal dauerte es nur drei Wochen, und das verdammte Ding kam mit dem gleichen Stempel zurück. Bucky ist nicht dumm, aber er ist vermutlich gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt und hat kaum Erfahrungen mit der Bürokratie. Er rief seinen Vater an und erzählte ihm, was sich abgespielt hatte. Chester hängte sich sofort ans Telefon und rief beim Luftwaffenstützpunkt Randolph in Texas an, wo die Air Force ihre Personalakten aufbewahrt. Ich weiß nicht, mit wie vielen Leuten er gesprochen haben muß, aber das Fazit war, daß die Air Force keine Unterlagen über John Lee hat, oder falls sie welche hat, nichts sagen will. Chester ist überzeugt davon, daß er hingehalten wird, aber was soll er machen? Das ist also der Stand der Dinge. Bucky ist frustriert und sein Dad fuchsteufelswild. Sie sind fest entschlossen, dafür zu sorgen, daß Johnny bekommt, was ihm zusteht. Ich habe ihnen gesagt, daß du vielleicht eine Idee haben könntest, was sie als nächstes versuchen sollen.«
»Sind sie sicher, daß er wirklich beim Militär war?«
»Soweit ich weiß, schon.«
Ich merkte, wie mir ein Anflug von Skepsis übers Gesicht huschte. »Ich kann mit Bucky sprechen, wenn du möchtest, aber im Grunde ist das ein Gebiet, auf dem ich mich nicht besonders gut auskenne. Wenn ich dich recht verstehe, behauptet die Air Force ja gar nicht, daß er nicht dabei war. Sie behaupten nur, daß sie ihn anhand der Daten, die Bucky eingereicht hat, nicht identifizieren können.«
»Tja, das stimmt«, sagte Henry. »Aber bis sie seine Akten finden, gibt es keine Möglichkeit, den Antrag zu bearbeiten.«
Ich fing bereits an, an dem Problem herumzuzupfen, als wäre es ein Knoten in einem Stück Bindfaden. »Hieß es damals nicht Army Air Force?«
»Was würde das ändern?«
»Seine Militärakten könnten woanders lagern. Vielleicht hat sie die Army.«
»Das müßtest du Bucky fragen. Ich nehme an, daß er diese Spur bereits verfolgt hat.«
»Es könnte etwas ganz Einfaches sein... der falsche Anfangsbuchstabe seines zweiten Vornamens oder das falsche Geburtsdatum.«
»Das habe ich auch schon gesagt, aber du weißt ja, wie es ist. Du betrachtest etwas so lange, daß du es gar nicht mehr richtig siehst. Es wird vermutlich nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig Minuten deiner Zeit in Anspruch nehmen, aber ich weiß, daß sie sich über Mithilfe freuen würden. Chester ist aus Ohio herübergekommen, um ein paar Einzelheiten im Nachlaß seines Vaters zu regeln. Ich wollte deine Dienste nicht ohne weiteres anbieten, aber es scheint eine ehrenvolle Angelegenheit zu sein.«
»Tja, ich werde tun, was ich kann. Soll ich gleich mal hingehen? Ich hätte Zeit, wenn du meinst, daß Bucky zu Hause ist.«
»Müßte er eigentlich. Zumindest war er es vor einer Stunde. Das ist nett von dir, Kinsey. Nicht daß Johnny ein enger Freund gewesen wäre, aber er hat genauso lange hier in der Gegend gewohnt wie ich, und ich möchte, daß er angemessen behandelt wird.«
»Ich werd’s versuchen, aber das ist nicht mein Spezialgebiet.«
»Das verstehe ich, und falls es lästig wird, kannst du ja die ganze Geschichte fallenlassen.«
Ich zuckte die Achseln. »Ich schätze, das ist einer der Vorteile, wenn man nicht bezahlt wird. Man kann jederzeit aussteigen.«
»Unbedingt«, meinte er.
Ich sperrte meine Haustür ab, während Henry auf die Garage zuging, und wartete an der Einfahrt, während er den Wagen rückwärts herausfuhr. Zu besonderen Gelegenheiten fährt er ein Coupé mit fünf Fenstern, einen 1932er Chevrolet mit der hellgelben Originallackierung. Heute, zum Flughafen, nahm er den Kombi, da er mit drei Fahrgästen und unzähligen Gepäckstücken zurückkommen würde. »Die Sippschaft«, wie er sie nannte, würde zwei Wochen hierbleiben und hatte die Neigung, sich für jeden erdenklichen Notfall zu rüsten. Er hielt langsam an und kurbelte das Fenster hinunter. »Vergiß nicht, daß du heute abend bei uns ißt.«
»Das habe ich nicht vergessen. Heute hat doch Lewis Geburtstag, stimmt’s? Ich habe ihm sogar ein Geschenk gekauft.«
»Ach, du bist lieb, aber das wäre nicht nötig gewesen.«
»O doch. Lewis erzählt einem ständig, daß man kein Geschenk kaufen soll, aber wenn man es wirklich nicht tut, schmollt er. Um wieviel Uhr ist die Feier?«
»Rosie kommt um Viertel vor sechs herüber. Du kannst kommen, wann du willst. Du kennst ja William. Wenn wir nicht rechtzeitig essen, bekommt er Unterzucker.«
»Fährt er nicht mit dir zum Flughafen?«
»Er muß wegen seines Smokings zur Anprobe. Lewis, Charlie und ich müssen unsere heute nachmittag anprobieren.«
»Ganz nobel«, sagte ich. »Bis später.«
Ich winkte, als Henry die Straße hinunterfuhr und verschwand, und ging dann selbst zum Tor hinaus. Der Gang zu den Lees dauerte ungefähr dreißig Sekunden – sechs Türen weiter, um die Ecke, und da war es schon. Der Stil des Hauses war schwer einzuordnen; es war ein altes kalifornisches Wohnhaus mit abblätterndem Putz und einem ausgebleichten roten Ziegeldach. Am Ende einer schmalen, betonierten Einfahrt konnte man eine Doppelgarage mit verfallenen Holztüren sehen. Der schmuddelige Hinterhof war mittlerweile zur Heimat für einen halb auseinandergenommenen Ford Fairlane mit durchgerostetem Fahrgestell geworden. Die Fassade des Hauses war kaum zu sehen, da sie hinter widerspenstigen Büscheln schulterhohen Grases verschwand. Der Weg zum Vordereingang war durch zwei Hügel von etwas verdeckt, das wie wilder Hafer aussah, buschige Spitzen, die sich über den Pfad hinweg zuwippten. Als ich durch das Unkraut stapfte, um zur Veranda zu gelangen, mußte ich die Arme in die Höhe halten.
Ich klingelte an der Tür und verbrachte einen Augenblick der Muße damit, mir Kletten von den Socken zu zupfen. Ich malte mir mikroskopisch kleine Pollen aus, die wie eine Wolke Stechmücken meine Kehle hinabschwärmten, und ich spürte einen heftigen Niesreiz. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken. Ohne auch nur über die Türschwelle geschritten zu sein, hätte ich kleine Räume mit roh verputzten Zwischenbögen vorhersagen können, denen als Kontrast vielleicht fruchtlose Versuche gegenüberstanden, das Haus zu »modernisieren«. Es würde zwar zu nichts führen, aber ich klingelte trotzdem noch einmal.
Augenblicke später wurde die Tür von einem Jungen geöffnet, den ich wiedererkannte. Bucky war Anfang zwanzig. Er war acht oder zehn Zentimeter größer als ich, womit er ungefähr auf einsvierundsiebzig oder einssechsundsiebzig kam. Er war nicht übergewichtig, aber teigig wie eine Brezel. Sein Haar war rotgolden, in der Mitte schief gescheitelt und lang. Der größte Teil davon war nach hinten gestreift und im Nacken irgendwie schlampig zusammengebunden. Er hatte blaue Augen, und sein geröteter Teint wirkte unter einem kastanienroten Viertagebart fleckig. Er trug Blue jeans und ein dunkelblaues, langärmliges Cordhemd, dessen Schoß heraushing. Schwer zu sagen, was für einem Broterwerb er nachging, wenn überhaupt irgendeinem. Er hätte auch ein Rockstar mit einem sechsstelligen Bankkonto sein können, aber das bezweifelte ich.
»Sind Sie Bucky?«
»Yeah.«
Ich streckte ihm die Hand entgegen. »Ich heiße Kinsey Millhone. Ich bin mit Henry Pitts befreundet. Er sagt, Sie hätten Probleme mit einem Antrag beim Veteranenamt?«
Er schüttelte mir die Hand, doch die Art, wie er mich ansah, löste in mir den Wunsch aus, an seinen Kopf zu klopfen und zu fragen, ob jemand zu Hause war. Ich machte unverdrossen weiter. »Er dachte, ich könnte Ihnen vielleicht helfen. Darf ich reinkommen?«
»Oh, entschuldigen Sie. Jetzt hab’ ich’s kapiert. Sie sind die Privatdetektivin. Zuerst dachte ich, Sie wären vom Veteranenamt. Wie heißen Sie noch mal?«
»Kinsey Millhone. Henrys Mieterin. Sie haben mich vermutlich schon drüben bei Rosie’s gesehen. Ich bin drei- oder viermal die Woche dort.«
Endlich flackerte die Erinnerung auf. »Sie sind die, die immer in der hinteren Nische sitzt.«
»Die bin ich.«
»Klar. Jetzt weiß ich es wieder. Kommen Sie rein.« Er machte einen Schritt zurück, und ich betrat einen kleinen Flur mit einem Hartholzboden, der seit Jahren nicht mehr poliert worden war. Ich erhaschte einen Blick auf die Küche im hinteren Teil des Hauses. »Mein Dad ist gerade nicht da, und ich glaube, Babe steht unter der Dusche. Ich sollte ihr sagen, daß Sie da sind. He, Babe?«
Keine Antwort.
Er legte den Kopf schief und lauschte. »He, Babe!«
Ich war noch nie ein großer Fan davon, von einem Zimmer ins andere zu brüllen. »Möchten Sie sie suchen? Ich kann warten.«
»O ja – gute Idee. Ich bin gleich wieder da. Setzen Sie sich«, sagte er. Er ging den Flur hinab, und ich hörte das Trampeln der harten Sohlen seiner Schuhe. Er öffnete eine Tür zu seiner Rechten und steckte den Kopf hinein. Die Rohre in der Wand gaben ein ersticktes Kreischen von sich, und die Leitungen knarzten und gluckerten, als die Dusche abgestellt wurde.
Ich stieg eine Stufe zum Wohnzimmer hinab, das nur wenig größer war als der Teppich mit seinen knapp zehn Quadratmetern. Am einen Ende des Raums befand sich ein flacher, weißgestrichener Kamin aus Ziegeln mit einem hölzernen Kaminsims, das von Nippes übersät war. Auf beiden Seiten des Kamins standen Einbau-Bücherregale, die mit Papieren und Illustrierten vollgestopft waren. Ich ließ mich vorsichtig auf einer durchgesessenen Couch nieder, über der ein braun-gelber Afghane lag. Es roch nach Hausschwamm oder nassem Hund. Der Couchtisch war mit leeren Fast-Food-Behältern übersät, und sämtliche Sitzgelegenheiten waren auf einen uralten Fernseher ausgerichtet, der in einem überdimensionalen Fernsehschrank stand.
Bucky kam zurück. »Sie sagt, wir sollen schon anfangen. Wir haben gleich einen Termin, und sie zieht sich gerade erst an. Mein Dad ist bald wieder da. Er ist nach Perdido gefahren, um sich Lampen anzusehen. Wir möchten Pappys Apartment herrichten, damit wir es vermieten können.« Er blieb auf der Türschwelle stehen und sah das Zimmer offenbar mit meinen Augen. »Sieht aus wie auf der Müllkippe, aber Pappy hat seine Kröten ganz schön zusammengehalten.«
»Seit wann wohnen Sie hier?«
»Schon fast zwei Jahre, seit Babe und ich geheiratet haben«, sagte er. »Ich dachte, der alte Kauz würde uns bei der Miete ein bißchen entgegenkommen, aber er hat seine Knickerigkeit als Wissenschaft betrieben.«
Da ich selbst knickerig bin, war ich natürlich neugierig. Vielleicht konnte ich ein paar Tips aufschnappen, dachte ich mir. »Inwiefern?«
Buckys Mund verzog sich nach unten. »Ich weiß nicht. Er wollte nicht für die Müllabfuhr bezahlen, und so ist er an Abfuhrtagen immer ganz früh losgegangen und hat seinen Müll in die Tonnen der Nachbarn gesteckt. Und wissen Sie, einmal hat ihm einer verraten, wie man die Rechnungen von den Stadtwerken bezahlt. Man braucht nur eine Ein-Cent-Marke draufkleben, den Absender weglassen und den Umschlag in einen abgelegenen Briefkasten werfen. Die Post stellt ihn zu, weil die Stadt ihr Geld haben will, also kann man Porto sparen.«
Ich sagte: »He, tolles Geschäft. Was schätzen Sie, zehn Dollar im Jahr? Das ist ja wirklich verlockend. Er muß ein echtes Original gewesen sein.«
»Kannten Sie ihn nicht?«
»Ich habe ihn öfter bei Rosie’s drüben gesehen, aber wir haben uns, glaube ich, nie kennengelernt.«
Bucky nickte zum Kamin hinüber. »Das da drüben ist er. Der ganz rechts.«
Ich folgte seinem Blick und erwartete, ein Foto auf dem Kaminsims stehen zu sehen. Doch ich sah nur drei Urnen und einen mittelgroßen Metallkasten. Bucky sagte: »Diese grünliche Marmorurne ist meine Oma, und direkt daneben steht mein Onkel Duane. Er war der einzige Bruder meines Vaters, kam schon als Kind ums Leben. Mit acht, glaube ich. Hat auf den Gleisen gespielt und wurde von einem Zug überfahren. In der schwarzen Urne ist meine Tante Maple.«
Mir wollte um keinen Preis ein höflicher Kommentar einfallen. Der familiäre Wohlstand mußte im Lauf der Jahre stetig abgenommen haben, da es so aussah, als wäre mit jedem Tod weniger Geld ausgegeben worden, bis schließlich John Lee, der letzte, in dem vom Krematorium gestellten Kasten belassen wurde. Das Kaminsims wurde langsam voll. Wer als nächster »heimging«, würde in einer Schuhschachtel transportiert und auf dem Nachhauseweg von der Aussegnungshalle aus dem Autofenster geworfen werden müssen.
Er beendete das Thema mit einer Handbewegung. »Na gut, vergessen Sie’s. Ich weiß ja, daß Sie nicht vorbeigekommen sind, um Konversation zu treiben. Ich habe die Unterlagen gleich hier.« Er ging hinüber ans Bücherregal und begann die Illustrierten auseinander zu sortieren, die anscheinend mit unbezahlten Rechnungen und anderen heiklen Dokumenten durchsetzt waren. »Es geht lediglich um einen Antrag auf dreihundert Dollar für Pappys Begräbnis«, meinte er. »Babe und ich haben seine Einäscherung bezahlt, und wir hätten das Geld gern zurück. Ich glaube, die Regierung zahlt noch einmal hundertfünfzig für die Beisetzung. Es klingt nicht nach viel, aber wir sind eben schlecht bei Kasse. Ich weiß nicht, was Henry Ihnen erzählt hat, aber wir können es uns nicht leisten, Sie für Ihre Dienste zu bezahlen.«
»Das habe ich mitbekommen. Ich glaube sowieso nicht, daß ich viel tun kann. Mittlerweile wissen Sie vermutlich mehr über Anträge beim Veteranenamt als ich.«
Er zog einen Stapel Papier hervor und sah ihn rasch durch, bevor er ihn mir reichte. Ich entfernte die Büroklammer und studierte die Abschrift von John Lees Sterbeurkunde, die Freigabe von der Leichenhalle, seine Geburtsurkunde, die Sozialversicherungskarte und Kopien der beiden Anträge ans Veteranenamt. Das erste Formular war ein Antrag auf Erstattung der Beisetzungskosten und das zweite ein Gesuch um die Militärakten. Auf letzterem war zwar die Waffengattung eingetragen, aber Kennummer, Dienstgrad und Rang sowie der Zeitraum, in dem der alte Herr gedient hatte, fehlten. Kein Wunder, daß das Veteranenamt Schwierigkeiten hatte, dem Antrag nachzugehen. »Sieht so aus, als fehlten Ihnen eine Menge Daten. Sie wissen also weder seine Kennummer noch in welcher Einheit er gedient hat?«
»Hm, nein. Das ist ja das Problem«, sagte er und las über meine Schulter mit. »Es wird langsam lächerlich. Wir bekommen die Akten nicht, weil wir nicht genug Daten haben, aber wenn wir die Daten hätten, bräuchten wir das Gesuch gar nicht erst zu stellen.«
»Das nennt man rentable Regierung. Denken Sie nur an das ganze Geld, das sie für die unbezahlten Anträge spart.«
»Wir wollen nichts, worauf er keinen Anspruch hat, aber Gerechtigkeit muß sein. Pappy hat seinem Land gedient, und es scheint mir keine so gewaltige Forderung zu sein. Dreihundert verdammte Dollars. Die Regierung verschleudert Milliarden.«
Ich drehte das Formular um und las die Anweisungen auf der Rückseite. Unter »Anrecht auf Zuschuß zu Bestattungskosten« war in den Bedingungen zu lesen, daß der verstorbene Veteran »unter anderen als unehrenhaften Bedingungen aus dem Dienst entlassen worden oder ausgeschieden sein muß und eine Pension erhalten oder einen ursprünglichen oder erneuerten Anspruch auf eine Pension gehabt haben muß«, bla bla bla. »Nun, das ist doch eine Möglichkeit. Hat er eine Militärpension bezogen?«
»Falls ja, so hat er uns nie davon erzählt.«
Ich sah zu Bucky hinauf. »Wovon hat er gelebt?«
»Er hatte seine Schecks von der Sozialversicherung, und ich nehme an, daß Dad ausgeholfen hat. Babe und ich haben für das Haus hier Miete bezahlt, und zwar sechshundert Dollar im Monat. Das Anwesen war ohne jede Einschränkung sein Eigentum, also denke ich, daß er die Miete dazu verwendet hat, um Essen, Stadtwerke, Grundsteuer und dergleichen zu bezahlen.«
»Und er hat da hinten gewohnt?«
»Genau. Über der Garage. Es sind nur zwei kleine Zimmer, aber es ist echt hübsch. Wir haben einen Typen an der Hand, der einziehen möchte, wenn die Wohnung fertig ist. Ein alter Freund von Pappy. Er sagt, er wäre dazu bereit, das Gerümpel auszuräumen, wenn wir ihm bei der ersten Monatsmiete etwas nachlassen. Das meiste ist Müll, aber wir wollten nichts wegwerfen, bis wir wissen, was wichtig ist. Momentan ist die Hälfte von Pappys Sachen in Pappkartons verpackt, und der Rest stapelt sich kreuz und quer in der Gegend.«
Ich las das Gesuch um die Militärakten noch einmal. »Was ist mit dem Jahr, in dem seine Entlassungsurkunde ausgestellt wurde? Hier ist nichts eingetragen.«
»Mal sehen.« Er legte den Kopf schief und las das Kästchen, auf das ich meinen Daumen hielt. »Oh. Ich muß vergessen haben, das hinzuschreiben. Dad sagt, es muß am 17. August 1944 gewesen sein, weil er sich noch daran erinnert, daß Pappy rechtzeitig zu seiner Geburtstagsfeier nach Hause gekommen ist, als er vier wurde. Er war zwei Jahre weg, also muß er irgendwann 1942 aufgebrochen sein.«
»Könnte er unehrenhaft entlassen worden sein? Dem zufolge, was hier steht, wäre er nicht berechtigt, wenn das der Fall wäre.«
»Nein, Ma’am«, sagte Bucky mit Nachdruck.
»Nur ’ne Frage.« Ich drehte das Formular wieder um und studierte das Kleingedruckte auf der Rückseite. Das Gesuch um Militärakten nannte verschiedene Adressenlisten der Beauftragten für jede Waffengattung, Definitionen, Abkürzungen, Kennziffern und Datumsangaben. Ich versuchte es auf einem anderen Weg. »Was ist mit der medizinischen Versorgung? Wenn er Kriegsveteran war, hatte er vermutlich Anspruch auf kostenlose ärztliche Behandlung. Vielleicht hat die hiesige Veteranenklinik irgendwo eine Aktennummer für ihn.«
Bucky schüttelte erneut den Kopf. »Das habe ich schon probiert. Sie haben nachgesehen und keine gefunden. Dad glaubt, daß er nie um Erstattung von Arztkosten ersucht hat.«
»Was hat er denn gemacht, wenn er krank wurde?«
»Er hat sich meistens selbst verarztet.«
»Tja. Mir fällt nichts weiter ein«, sagte ich. Ich gab ihm die Papiere zurück. »Was ist mit seinem persönlichen Nachlaß? Hat er irgendwelche Briefe aus seiner Zeit bei der Air Force aufgehoben? Sogar ein altes Foto könnte Ihnen helfen, herauszufinden, bei welchem Kampfverband er war.«
»Bislang haben wir noch nichts dergleichen gefunden. Ich habe gar nicht an Bilder gedacht. Möchten Sie mal nachsehen?«
Ich zögerte und versuchte mein mangelndes Interesse zu verbergen. »Klar, das könnte ich tun, aber da es ja nur um dreihundert Dollar geht, wären Sie offen gestanden vielleicht besser beraten, wenn Sie die ganze Sache fallenließen.«
»Eigentlich sind es vierhundertfünfzig Dollar mit Beisetzung«, sagte er.
»Trotzdem. Stellen Sie eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf, und Sie werden wahrscheinlich feststellen, daß Sie bereits im Minus sind.«
Bucky reagierte nicht, da ihn mein kleinmütiger Rat offensichtlich nicht überzeugte. Der Vorschlag war womöglich auch eher für mich als für ihn gedacht. Wie sich herausstellte, hätte ich meinen eigenen Ratschlag befolgen sollen. Statt dessen trottete ich schließlich gehorsam hinter Bucky drein, als er durchs Haus ging. Sowas von dämlich. Ich spreche von mir, nicht von ihm.